(Berlin) – Ein wegweisender europäischer Vertrag zu Gewalt gegen Frauen steht kurz seinem Inkrafttreten, nachdem Andorra ihn als zehntes Land ratifiziert hat. Damit hat der Vertrag die letzte Hürde genommen und wird am 1. August 2014 rechtlich verbindlich. Alle Länder, die ihn ratifizieren, sind dazu verpflichtet, von Gewalt betroffene Frauen zu schützen und zu unterstützen.
Die „Konvention des Europarates zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häusliche Gewalt“, auch als „Istanbul-Konvention“ bekannt, ist der erste europäische Vertrag, der sich ausdrücklich gegen Gewalt gegen Frauen und häusliche Gewalt richtet. Er setzt Minimalstandards für Prävention, Schutz, Strafverfolgung und staatliche Leistungen. Darüber hinaus müssen die Vertragsstaaten Dienste einrichten wie Telefon-Hotlines, Notunterkünfte, medizinische Versorgung, Beratung und Rechtshilfe.
„Dies ist ein entscheidender Moment für alle Frauen in Europa, für die ihr Zuhause ein gefährlicher Ort ist“, sagt Gauri van Gulik, Expertin für Frauenrechte bei Human Rights Watch. „Der Vertrag verpflichtet die Regierungen zu konkreten Maßnahmen, um Frauen und Mädchen zu helfen, die Gewalt erleben.“
Einer Umfrage der EU-Grundrechteagentur zufolge hat jede dritte Frau in der Europäischen Union seit ihrem 15. Lebensjahr körperliche und/oder sexuelle Gewalt erlebt. Schätzungsweise 35 Prozent aller Frauen weltweit erleben sexuelle oder andere gewaltsame Übergriffe eines Partners oder sexuelle Übergriffe eines Fremden. Die Weltgesundheitsorganisation bezeichnet dies als ein Gesundheitsproblem mit epidemischen Ausmaßen.
Die Europaratskonvention wurde am 11. Mai 2011 verabschiedet. Mehr als die Hälfte, 25 von 47 Mitgliedstaaten des Europarats haben den Vertrag unterzeichnet: Ein erster Schritt, bevor sie sich durch die Ratifikation rechtlich an ihn binden. Bis heute haben zehn Staaten die Konvention ratifiziert: Albanien, Andorra, Bosnien-Herzegowina, Italien, Montenegro, Österreich, Portugal, Serbien, Spanien und die Türkei.
Die Istanbul-Konvention schließt Lücken in den nationalstaatlichen Maßnahmen gegen Gewalt gegen Frauen. Überall in Europa ist es eine alltägliche, brutale Realität für Frauen und Mädchen, dass Regierungen bei der Gewaltprävention versagen. Das bestätigen jahrelange Recherchen von Human Rights Watch.
- In Ungarn drohen weiblichen Überlebenden von häuslicher Gewalt immer neue Misshandlungen, weil die Polizei untätig bleibt, einstweilige Verfügungen wirkungslos sind, Notunterkünfte fehlen und die Gesetze und politischen Maßnahmen unzureichend sind.
- In Belgien verhindert ihre Angst vor Abschiebungen, dass Migrantinnen, die häusliche Gewalt erleben, lebensnotwendigen Schutz erhalten.
- In der Türkei führen Gesetzeslücken und die mangelnde Umsetzung von Schutzmaßnahmen durch die Polizei, Staatsanwaltschaft, Richter und andere Beamte dazu, dass das Schutzsystem bestenfalls unberechenbar, schlimmstenfalls tödlich ist.
Der Vertrag definiert unterschiedliche Formen von Gewalt gegen Frauen, darunter sexuelle, körperliche und psychische Gewalt, Zwangsheirat, Genitalverstümmelung und Stalking, und fordert, dass diese als Straftatbestände anerkannt werden.
Eine Gruppe unabhängiger Experten, die Länderbesuche durchführt und regelmäßige Länderberichte überprüft, wird die Umsetzung der Konvention überwachen. Die Experten werden innerhalb eines Jahres nach Inkrafttreten des Vertrags gewählt.
Bereits jetzt hat der Vertrag zu positiven Veränderungen geführt. Beispielsweise hat das türkische Parlament im März 2012 ein neues Gesetz verabschiedet, dass trotz einiger Mängel die rechtlichen Rahmenbedingungen zum Schutz vor Gewalt verbessert und in großen Teilen auf der Istanbul-Konvention basiert.
„Gewalt gegen Frauen ist kein Naturgesetz - sie kann gestoppt werden“, so van Gulik. „Diese Konvention wurde geschaffen, um praktische Veränderungen auf den Weg zu bringen, die das Leben von Frauen und Mädchen überall in Europa verbessern können.“