HUMAN RIGHTS WATCH

Afghanistan: Kriegsherrn bedrohen die Integrität der Wahlen

(Kabul, 29 September 2004) – Im Vorfeld der Präsidentschaftswahlen in Afghanistan am 9. Oktober bedrohen Gruppen von Kriegsherrn weiterhin Wähler, Kandidaten und politische Organisatoren, erklärte Human Rights Watch in einem heute veröffentlichten Bericht. Diese Menschenrechtsverletzungen setzen die Integrität der ersten Wahlen in diesem Land aufs Spiel.

Der 52-seitige Bericht: "The Rule of the Gun: Human Rights Abuses and Political Repression in the Run-Up to Afghanistan’s Presidential Election," dokumentiert wie Menschenrechtsverletzungen in vielen Teilen des Landes eine Atmosphäre der Unterdrückung und Angst schaffen. Der Bericht erklärt, wie Wähler in vielen Teilen des Landes die Wahlzettel nicht verstehen oder kein Vertrauen darin haben, dass die Stimmabgabe geheim bleibt, und schildert darüber hinaus wie die Wähler Drohungen und Bestechungsversuchen durch Milizfraktionen ausgesetzt sind.  
 
Ein afghanischer Organisator erzählte Human Rights Watch, dass die Milizen fragten: "Warum tut ihr das, was ihr tut? Warum bekämpft ihr die Mudschahedin? Warum bezeichnet ihr uns in euren Artikeln als Kriegsherrn? Diese Artikel bringen euer Leben in Gefahr."  
 
"Die Kriegsherren haben nach wie vor das Sagen," meinte Brad Adams, Direktor der Asien-Abteilung von Human Rights Watch. "Viele Wähler in ländlichen Gebieten berichten, dass die Milizen ihnen bereits gesagt haben, wen sie zu wählen haben und dass sie Angst haben, diesen Anordnungen nicht zu gehorchen. Aktivisten und politische Organisatoren, die sich gegen die Kriegsherren wenden, müssen um ihr Leben fürchten."  
 
Human Rights Watch beteuert, dass diese Wahl von großer historischer und politischer Bedeutung für die Präsidentschaftswahl, die erste landesweite Wahl in der Geschichte Afghanistans, ist. Doch gleichzeitig ist Human Rights Watch besorgt, dass die internationale Gemeinschaft selbstgefällig geworden ist und die hohe Anzahl registrierter Wähler mit echter politischer Freiheit verwechselt.  
 
Der Bericht beschreibt mehrere Mängel bei der Wählerregistrierung und der Durchführung der Wahl selbst, wie zum Beispiel Mehrfachregistrierungen von Wählern. Wie im Bericht festgehalten, stimmt die von den meisten afghanischen und internationalen Beamten zitierten Zahlen registrierter Wähler - mehr als 10 Millionen, darunter mehr als 4 Millionen Frauen – nicht. (Am 4. Oktober wird Human Rights Watch einen Bericht veröffentlichen, der sich spezifisch mit der Teilnahme von Frauen an den Wahlen und in der Zivilgesellschaft im Allgemeinen befasst.)  
 
In dem heute veröffentlichten Bericht beschreibt Human Rights Watch auch, wie die internationale Gemeinschaft es verabsäumt hat, ein angemessenes System der Wahlbeobachtung zu organisieren. Wie im Bericht angeführt, wird die Wahl in den meisten Wahllokalen nicht entsprechend überwacht werden. Da die Sicherheitslage im Großteil des Landes weiterhin problematisch ist, wird lediglich eine Handvoll angemessen ausgebildeter und unabhängiger Wahlbeobachter entsandt werden.  
 
"Viele Verstöße im entscheidenden Zeitraum vor der Wahl und am Tag der Wahl selbst werden nicht einmal aufgedeckt werden - es wird niemand da sein, um sie zu melden", meinte Adams. „Wie kann die Überwachung einer derartig wichtigen Wahl so schlecht organisiert sein?"  
 
In Afghanistan involvierte Länder, darunter Mitgliedsstaaten der NATO, sollten sich mit einem höheren Kontingent an der internationalen Schutztruppe ISAF beteiligen, meinte Human Rights Watch. Darüber hinaus sollten die Vereinigten Staaten und ihre NATO-Verbündeten das Mandat der internationalen Schutztruppen neu definieren, so dass es die Entwaffnung der Milizen und den Schutz von gefährdeten politischen Akteuren und Gruppen mit einschließt.  
 
"Die Führung Afghanistans und externe Großmächte wie die Vereinigten Staaten spielen die von der Dominanz der Kriegsherrn ausgehende Gefahr weiterhin hinunter", meinte Adams. "Lange Zeit war man sich einig, dass die Wahlen nur erfolgreich sein könnten, wenn zusätzliche internationale Schutztruppen stationiert und die Milizen der Kriegsherrn entwaffnet würden. Wenn Afghanistan tatsächliche eine Priorität der internationalen Gemeinschaft ist, wo bleiben die Truppen?"  
 
Die im Bericht dokumentierten Übergriffe verschlimmern andere Probleme, die von den Taliban und anderen Aufständischen ausgehen, die im Laufe des vergangenen Jahres wiederholt versucht haben, den Wahlprozess im Süden und Südosten des Landes zu untergraben. Diese Gruppen könnten im Vorfeld der Wahlen weitere Ausbrüche von Gewalt initiieren. Wähler und politische Organisatoren im ganzen Land haben Human Rights Watch jedoch erklärt, dass die größte Bedrohung für den politischen Prozess von den lokalen Gruppierungen ausgehen.  
 
"Die Realität ist, dass die meisten politisch engagierten Afghanen sich in erster Linie vor den Kriegsherrn und deren Anhängern fürchten und nicht so sehr vor den Taliban", bestätigte Adams.  
 
Human Rights Watch hat gewarnt, dass ernsthafte Menschenrechtsverletzungen die lokalen Wahlen und die Parlamentswahlen im nächsten Jahr, die vermutlich weitaus umstrittener sein werden als die Präsidentschaftswahlen, stören könnten, falls die internationale Gemeinschaft keine dringenden Maßnahmen ergreift, um die Kriegsherrn zu entwaffnen und den Menschen in Afghanistan angemessenen Schutz zu bieten.  
 
"Die Anzeichen sind beunruhigend", meinte Adams. "Viele Kandidaten für die Wahlen im nächsten Jahr werden bereits bedroht und werden ihre Kandidatur vielleicht aus Angst um ihr Leben zurückziehen. Die afghanische Regierung und ihre internationalen Verbündeten müssen rasch reagieren. Was benötigt wird, ist eine wesentlich größere internationale Schutztruppe und Menschenrechtsbeobachter der UNO."