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Hunderttausende junge Rekruten sind während ihres ersten Dienstjahres bei den russischen Streitkräften schweren Misshandlungen durch dienstältere Soldaten ausgesetzt, stellte Human Rights Watch in einem heute veröffentlichten Bericht fest.

Der 86-seitige Bericht: "The Wrongs of Passage: Inhuman and Degrading Treatment of New Recruits in the Russian Armed Forces" dokumentiert schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen im Zusammenhang mit der Dedowschtschina, oder "Herrschaft der Großväter". Jährlich hat diese Praxis den Tod von dutzenden Rekruten zur Folge. Für tausende andere bedeutet sie ernste - und oft bleibende - physische und psychische Gesundheitsschäden. Hunderte von Soldaten nehmen oder versuchen sich jedes Jahr das Leben zu nehmen. Tausende laufen von ihren Einheiten davon.

In der russischen Armee zwingen dienstältere Soldaten junge Rekruten im ersten Dienstjahr zu einem Leben in sinnloser Knechtschaft, bestrafen sie gewaltsam für Verstöße gegen formelle oder informelle Regeln und misshandeln sie grundlos – Praktiken, die klar gegen geltende Verhaltensregeln des russischen Militärs verstoßen. Das Offizierskorps und die russische Regierung haben bislang jedoch keine entscheidenden Schritte gesetzt, um die Misshandlungen zu beenden.

"Die Untersuchungen von Human Rights Watch zeigen, dass diese Schikanepraktiken zur Gänze verhindert werden können," sagte Diederik Lohman, Seniorexperte für die Abteilung Europa und Zentralasien von Human Rights Watch und Autor des Berichts. "Es ist an der Zeit für die russische Regierung, diesen entsetzlichen Praktiken ein Ende zu setzen."

Der Bericht basiert auf einer dreijährigen Studie des Systems der Dedowschtschina, in sieben Regionen Russlands – Tscheljabinsk, Moskau, Nowokusnezk, Nowosibirsk, St. Petersburg, Wladiwostok, und Wolgograd. Dazu kommen Interviews mit mehr als hundert Rekruten, deren Eltern, Regierungsvertretern, Anwälten, Experten von Nichtregierungsorganisationen und ehemaligen Soldaten. Die betreffenden Wehrpflichtigen dienten auf über 50 Militärbasen in über 25 der 89 russischen Provinzen.

„Die Schikanepraktiken bleiben durch einen endlosen Teufelskreis der Vergeltung bestehen,“ so Lohman. Nachdem sie im ersten Dienstjahr schreckliche Misshandlungen erleiden, "rächen" sich die Soldaten im zweiten Dienstjahr, indem sie dieselben Gräueltaten der nächsten Generation von Rekruten antun, und so fort.

Während ihres ersten Jahres leben die Rekruten unter ständiger Androhung von Gewalt, als Strafe für das Nichterfüllen von willkürlichen Forderungen der dienstälteren Soldaten, was von Stiefelpolieren bis zum Beschaffen von Essen oder Alkohol reicht. Rekruten im ersten Jahr verbringen ein Gutteil ihrer Zeit damit, diese Forderungen zu erfüllen– ein Nichterfüllen hat routinemäßig Prügel oder andere körperliche Bestrafung zur Folge, die gewöhnlich dann ausgetragen werden, wenn die Offiziere die Kasernen verlassen haben.

Die große Mehrheit der Offiziere ignoriert entweder Hinweise auf solche Misshandlungen, oder fördern sie sogar - in der Überzeugung, die Dedowschtschina sei ein wirksames Mittel, die Disziplin in ihren Reihen aufrecht zu erhalten. In vielen Einheiten sind die existierenden Präventionsmechanismen der russischen Armee auf leere Formalitäten reduziert.

Die Tatsache, dass die Dedowschtschina in einigen Einheiten Überhand nimmt, in anderen jedoch beinahe fehlt, zeigt, dass schikanöse Misshandlungen verhindert werden können, wenn die Offiziere gewillt sind, sie zu beenden. Einige Rekruten berichteten, dass Offiziere in Einheiten ohne Dedowschtschina der Truppe unmissverständlich klar machten, dass sie keine Misshandlungen dulden würden, eine Gewisse Nähe zu der Truppe unterhielten, die existierende Präventionsmechanismen genau umsetzten und bei Hinweisen auf Misshandlungen entschieden handelten.

Obwohl die Dedowschtschina und ihre Auswirkungen in der Öffentlichkeit seit Jahren wohl bekannt sind, lässt die Regierung geeignete Schritte zu ihrer Bekämpfung bislang vermissen. Statt öffentlich klar gegen die Misshandlungen Stellung zu beziehen, haben Regierungsvertreter das Thema in Reformgesprächen am Militärwesen weitestgehend ignoriert. Die Aufgabe für die Regierung bleibt, eine klare und umfassende Strategie zur Bekämpfung der Misshandlungen anzunehmen und ein Verantwortlichkeitssystem zu schaffen.

"Die Gleichgültigkeit der Regierung gegenüber den Schikanepraktiken ist verblüffend," sagte Lohman. "Wie kann ein Land, das so viel Wert auf seine militärische Stärke legt, eine Praxis ignorieren, die diese ganz klar untergräbt?"

Aufgrund von Horrorgeschichten über die Dedowschtschina versuchen jedes Jahr zehntausende russische Eltern, den Militärdienst von ihren Söhnen abzuwenden. Da reichere und gebildetere Familien dabei am meisten Erfolg haben, beziehen die Streitkräfte ihre Rekruten mehr und mehr aus ärmeren Bevölkerungsschichten. Viele junge Rekruten leiden bevor sie eingezogen werden unter Unterernährung, Alkohol- und Drogenabhängigkeit oder anderen sozial bedingten Krankheiten. Während ihres Militärdienstes sind die Rekruten physischen und psychischen Misshandlungen ausgesetzt und leiden unter schlechter Ernährung und medizinischer Versorgung, was zu niedriger Moral führt.

Human Rights Watch forderte die russische Regierung auf, eine Arbeitsgruppe einzusetzen, um eine umfassende Strategie zur Bekämpfung von Misshandlungen im Zusammenhang mit der Dedowschtschina zu entwerfen und umzusetzen. Gefordert wurde auch das Einsetzen eines speziellen Ombudsmannes für Soldaten, unter Russlands Generalombudsmann Wladimir Lukin.

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