HUMAN RIGHTS WATCH

Tschetschenien: „Verschwindenlassen“ – ein Verbrechen gegen die Menschheit

EU verabsäumt entsprechende Schritte

Genf, (21. März, 2005) – Das „Verschwindenlassen“ geht in Tschetschenien im großen Stil weiter, diese Vorgehensweise hat nun die Stufe des Menschenrechtsverbrechens erreicht, sagte Human Rights Watch am Montag.

Die Europäische Kommission, die in der Vergangenheit eine Resolution zu Tschetschenien bei der U.N. Menschenrechtskommission eingebracht hatte, unternimmt während der derzeit tagenden U.N. Kommission nichts dergleichen. „Es ist erstaunlich, dass die Europäische Union sich entschieden hat, wegen Tschetschenien bei der U.N. Kommission nichts zu unternehmen“, sagte Rachel Denber, Direktorin der Europa- und Zentralasienabteilung von Human Rights Watch. „Wegzusehen während Menschenrechtsverbrechen begangen werden ist skrupellos.“  
 
Ein weitläufiges System von gewaltsamen Verschwinden bedeutet nach internationalem Recht ein Verbrechen gegen die Menschheit – eine Handlung, die das Gewissen der Menschheit erschüttert. Jeder Staat darf jene, die solche Verbrechen begehen, mitsamt den verantwortlichen Regierungsbeamten und den Staatschefs verfolgen.  
 
„Tausende Menschen sind seit 1999 in Tschetschenien verschwunden. Und die russischen Behörden wissen davon“, sagte Denber. „Zeugen erzählen uns, dass diese Atmosphäre der reinen Willkür und Einschüchterung schlimmer als Krieg ist. „Der 57-Seiten lange Report, der bei der jüngsten Mission von Human Rights Watch in Tschetschenien entstanden ist, dokumentiert mehrere neue Fälle von „Vermissten“. Am häufigsten passierte dies in den vergangenen Monaten, als die russische Regierung der internationalen Gemeinschaft beteuerte, dass sich die Situation in Tschetschenien stetig normalisiere. „Verschwindenlassen“ ist die charakteristische Misshandlung für den 6-jährigen Konflikt in Tschetschenien“, erklärte Denber. “Die Menschenrechtskommission muss einen wichtige Resolution erlassen, um deutlich zu machen, dass die russische Methode des „Verschwindenlassens“ Konsequenzen hat.“  
 
Lokale Menschenrechtsorganisationen schätzen, dass seit dem Beginn des Konflikts 1999, zwischen 3.000 und 5.000 Menschen „verschwunden“ sind. Statistiken der russischen Regierung sprechen von 2.090 Personen. Alle waren Zivilisten oder Unbewaffnete als man sie in Verwahrung nahm. Russische Behörden lehnen jegliche Verantwortung für das Schicksal oder das Verbleiben der Vermissten ab.  
 
Laut Human Rights Watch „verschwand“ die Mehrheit der Vermissten mit Regierungsvertretern – entweder russische Truppen, oder vermehrt lokale tschetschenische Sicherheitskräfte, die letztendlich den russischen Behörden unterstehen.  
 
Behörden haben in den vergangenen fünf Jahren 1.800 Vermisstenfälle untersucht. Aber kein einziger Fall hat zu einer gerichtlichen Verurteilung geführt.  
 
„Die russische Regierung ist sich des Problems bewusst”, erklärte Denber. „Aber sie zeigt kein Interesse daran, die Täter zu verurteilen. Und das treibt den Teufelskreis der Misshandlungen voran.”  
 
Folgende Fälle werden unter anderen in dem Bericht beschrieben:  
• Der 22-jährige Student Adam Demelkhanov und der Zimmermann Badrun Kantaev (44) wurden in ihrem Dorf in der Nacht des 7. November 2004 von Soldaten verhaftet. Die Familien wurden mit Waffen bedroht, als die Soldaten die zwei Männer in gepanzerten Fahrzeugen wegbrachten. Seit damals fehlt von beiden jede Spur, obwohl ihre Familien nicht aufgeben, nach ihnen zu suchen.  
 
• Die vierfache Mutter Khalimat Sadulaeva (37) wurde am frühen Morgen des 12. September 2004 von bewaffneten Männern von ihrem Haus in Argun abgeführt. Ihre Familie hat gehört, dass sie auf der Militärbasis in Khankala in der Nähe von Grosny gesehen wurde. Es gibt aber keine offizielle Stellungnahme über das Verbleiben von Sadulaeva.  
 
• Acht Verwandte von Rebellenführer Aslan Maskhadov, der im März 2005 getötet wurde, sind verschwunden. Die drei Geschwister von Maskhadov und fünf seiner Verwandten wurden von Soldaten unter dem Kommando von Vize-Premierminister Ramzan Kadyrov abgeführt. Die Aktion war Teil der „Gegen-Geisel-Massnahmen“, die von russischen und Pro-Moskau Gruppen eingeführt wurden, um Rebellenführer und Kämpfer zum Aufgeben zu zwingen.  
 
Human Rights Watch erklärte, dass keine einzige Untersuchung dieser Vermisstenfälle zu einem Ergebnis geführt habe.  
 
„Die Verwandten der Verschwundenen“ haben die Hoffnung auf ein Wiederfinden aufgegeben“, sagte Denber. „Oft wollen sie das Verschwinden nicht bei den Behörden melden, weil sie Angst um die Sicherheit der restlichen Familienangehörigen haben.“  
 
Human Rights Watch drängte Russland, die U.N. Organisationen, die sich mit diesen Themen beschäftigen, insbesondere die Arbeitsgruppe für Verschwundene und den Sonderbeobachter für Folter, nach Tschetschenien einzuladen. Human Rights Watch forderte auch die Mitgliedsstaaten der U.N. auf, diesbezüglich Druck auf Russland auszuüben.  
 
Der Konflikt in Tschetschenien, der nun seit sechs Jahren andauert, brachte Hunderttausenden Zivilisten unaussprechbares Leid. Sie wurden Opfer von Misshandlungen durch russische Truppen und tschetschenische Rebellen. Tschetschenische Kämpfer verübten Terroranschläge in Tschetschenien und anderen Teilen Russlands. Russische Behörden verübten zusammen mit tschetschenischen Pro-Moskau Gruppen, neben dem gewaltsamen Verschwinden, zahlreiche weitere Verbrechen an Zivilisten, unter anderem außergerichtliche Hinrichtungen, Folter, willkürliche Verhaftungen und Plünderungen. Die meisten dieser Verbrechen bleiben unbestraft.  
 
Sowohl 2000 als auch 2001 erließ die U.N. Menschenrechtskommission eine Resolution, in der sie die russische Regierung aufforderte, die Misshandlungen einzustellen, Verantwortlichkeiten herzustellen und die Beobachtermechanismen der U.N. in die Region einzuladen. Human Rights Watch war der Auffassung, dass Russland die Empfehlungen dieser Resolutionen missachtete.  
 
Zitate aus dem Human Rights Watch Bericht “Schlimmer als Krieg: ‚Verschwinden lassen’ - ein Menschenrechtsverbrechen in Tschetschenien.”  
 
Wir haben geschlafen. Sie brachen die Tür auf, stürmten herein, schrieen und richteten ihre Maschinengewehre auf uns. „Alle runter! Wir schießen!“ … Ich sprang auf, begann ihnen meine Papiere zu zeigen und fragte, wen sie wollten und warum und wer sie seien — alle hatten Masken auf. Ich flehte sie an: „Warum?“ … Sie erklärten nichts, legten [Rasul] Handschellen an, zogen ein T-Shirt über seinen Kopf, und führten ihn ab … Ein Ermittler kam [später] und stellte Fragen und suchte nach Fußspuren im und vor dem Haus, aber wir wissen immer noch nicht, wo [Rasul] ist. – Eine Verwandte von Rasul Mukaev (geb. 1982), aus dem Dorf Duba-Yurt am 3. Dezember 2004 „verschwunden“  
 
Ich dachte, sie nehmen meinen Sohn mit. Ich lief raus und rief: „Wohin bringt ihr ihn?“ Ich konnte nichts erkennen — sie umringten sie. Aber die Kinder begannen zu weinen, „sie nehmen Mami mit!“. .. Ich lief mit ihrem Reisepass hin, aber sie haben ihn nicht genommen. Als sie sie wegbrachten, eilte ich zu ihnen, aber sie stießen mich weg. [Einer] richtete sein Gewehr auf mich und ich sagte, „Los, erschieß mich, wenn du so ein Mann bist.“ Er schoss nicht, sie führten sie nur ab … Wir waren bei der lokalen Verwaltung, beim Bundessicherheitsdienst, beim Militärkommandanten—aber auch die sagen, dass sie sie nicht haben und nicht wissen, wo sie ist. – Mutter von Khalimat Sadulaeva (geb. 1967), “verschwunden” in Argun am 12. September, 2004.  
 
Sie stürmten herein und fragten nur, „wo sind deine Männer?“ Sie drückten alle Frauen und Kinder in einer Ecke zusammen, gingen ins Schlafzimmer und begannen [die Männer] erbarmungslos zu schlagen. Alles in dem Raum war mit Blut [bedeckt], die Betten, die Vorhänge. Sie fragten nicht einmal nach Namen oder Dokumenten … Sie nahmen das Geld, den Schmuck und einen Ersatzreifen und eine Autobatterie, die sie im Garten fanden. Dann führten die Soldaten alle vier aus dem Haus und fuhren mit ihnen in ihren gepanzerten Fahrzeugen davon. … Der stellvertretende Innenminister [von Tschetschenien] erzählte uns im Oktober [2004], „die Fahrzeuge sind identifiziert, wir wissen, wer [die Männer] mitgenommen hat, wir wissen wer sie sind. Ich mache einen Anruf und die [Gefangenen] werden entlassen.“ Aber wir wissen noch immer nicht, wo sie sind. – Eine Verwandte von Adlan Ilaev (geb. 1987), Inver Ilaev (geb. 1982), Rustam Ilaev (geb. 1974) und Kazbek Bataev (geb. 1983), „verschwunden” aus dem Dorf Assinovskaia am 3. Juli 2004.