HUMAN RIGHTS WATCH

China: Politischer Gefangener deckt Brutalität in chinesischer Polizeipsychiatrie auf

Augenzeugenbericht über berüchtigte Ankang-Anstalt

(New York, 2. November 2005) – Regimekritiker Wang Wanxing wurde nach 13 Jahren in einer chinesischen, polizeilich geführten psychiatrischen Anstalt freigelassen, berichtete Human Rights Watch. Wang wurde in einer Institution für kriminelle Geisteskranke festgehalten, nachdem er am Vorabend des dritten Jahrestags des Massakers vom 4. Juni 1989 eine kurze Ein-Mann-Demonstration für Demokratie auf dem Tiananmen-Platz abgehalten hatte.

Wang ist am 16. August aus der Ankang-Klinik in Peking entlassen worden, einer Einrichtung des Ministeriums für Öffentliche Sicherheit zur Verwahrung und Behandlung geisteskranker Straftäter. Der 56-Jährige wurde sodann unter großem Polizeiaufgebot direkt zum Flughafen von Peking gefahren und in ein Flugzeug nach Frankfurt gesetzt, wo seine Frau und seine Tochter seit einigen Jahren als politische Flüchtlinge leben. Die unerwartete Entlassung von Wang Wanxing aus der polizeilich geführten Anstalt sowie sein erzwungenes Exil in Deutschland fanden kurz vor einem offiziellen Besuch der UN-Menschenrechtskommissarin Louise Arbour in Peking statt. Der Sonderberichterstatter der UN für Folter, Manfred Novak, wird ebenfalls Ende dieses Monats nach China reisen.  
 
Wang Wanxing ist vermutlich der erste Insasse, der aus Chinas berüchtigter Polizeipsychiatrie ins Ausland entlassen wurde und über seine Gefangenschaft sprechen kann. Es wird geschätzt, dass mehr als 3.000 politische Häftlinge seit Anfang der 80er Jahre in Ankang-Anstalten festgehalten werden. Bevor Wang das Flugzeug nach Deutschland bestieg, wurde ihm nach eigenen Aussagen damit gedroht: "Sollten Sie jemals über Ihre Erfahrungen in unserer Klinik sprechen, werden wir kommen und sie wieder hierher zurückbringen."  
 
"Wangs Entlassung ist eine erfreuliche Nachricht, sie macht jedoch das Schicksal Tausender anderer politisch Gefangener umso deutlicher, die ohne medizinischen Grund in psychiatrischen Kliniken festgehalten werden", sagte Brad Adams, Leiter der Asien-Abteilung bei Human Rights Watch. "Es ist höchste Zeit, dass Chinas Führung sich im Zuge der "Modernisierung" dazu entschließt, diesen barbarische Praktiken ein Ende zu setzen."  
 
Wang berichtete Human Rights Watch von den allgemeinen Bedingungen seiner Gefangenschaft in der Pekinger Ankang-Klinik und wie er und andere Insassen dort behandelt wurden. Während der ersten sieben Jahre seiner Gefangenschaft wurde Wang auf einer allgemeinen Station gemeinsam mit 50 bis 70 weiteren Insassen festgehalten. Während der letzten fünf Jahre jedoch war er auf einer gesonderten Station mit einer ähnlichen Anzahl schwer psychotisch gestörter Insassen untergebracht, von denen die meisten Morde begangen hatten. Wang zufolge war das Ausmaß der Gewalt unter den Patienten auf der Station erschreckend. Er habe sich häufig dazu zwingen müssen, nachts wach zu bleiben, um sich vor plötzlichen und unprovozierten Angriffen von Insassen zu schützen. Um sich seine allgemeine sowie seine geistige Gesundheit zu erhalten, habe er dies mit häufigen Kurzschlafphasen über den Tag verteilt ausgeglichen und circa einmal pro Woche mehrere Chlorpromazin-Tabletten geschluckt. Diese hatte er aufgespart, um wenigstens vereinzelt erholsam schlafen zu können.  
 
Augenzeuge des "sadistischen" Missbrauchs  
Obwohl Wang freundliche Worte über einige der Ärzte und Schwestern fand, beschrieb er andere als "grundsätzlich von sadistischer Natur". Das Personal würde schwierige oder störrische Patienten nahezu wöchentlich und manchmal mehrmals pro Woche bestrafen, indem es Patienten an die Betten fesselte und ihnen schmerzhaft hohe Dosen elektrischer Akupunkturbehandlung verabreichte. Alle anderen Insassen der Station hätten die verabreichte Bestrafung mit ansehen müssen. Patienten, die nach häufiger Bestrafung dieser Art körperlich desensibilisiert waren, bekämen abwechselnd und in kurzen Abständen hohe und niedrige Dosen elektrischer Stromstöße. Wang zufolge war diese Methode genauso schmerzhaft, wie starken andauernden Elektroschocks ausgesetzt zu sein. Auch habe er selbst einmal gesehen, wie ein Insasse durch Elektroschocks an einem Herzanfall starb.  
 
Wangs Erzählungen zufolge wurde ein Insasse in die Ankang-Anstalt eingeliefert, weil er wiederholt Bittschriften eingereicht hatte. Als dieser in Hungerstreik trat, sei er an sein Bett gefesselt und auf direkte Anordnung des Pflegepersonals von Mitinsassen zwangsernährt worden. Statt eine Ernährungssonde über seinen Mund oder die Nase einzuführen, hätten die Insassen einfach flüssige Nahrung in den Mund des Mannes gegossen. Er sei daraufhin in seinem Bett erstickt, so Wang. Über diesen Todesfall mit unnatürlicher Todesursache fand keine unabhängige Untersuchung statt. Stattdessen verfassten laut Wang Ärzte und Schwestern der Ankang-Anstalt – alle Beamte des Ministeriums für Öffentliche Sicherheit – einen Bericht, in dem sie angaben, der Mann sei plötzlich an einem Herzinfarkt gestorben. Keiner der Angestellten wurde jemals für die beiden tödlichen Vorfälle bestraft.  
 
"Diese Berichte sind glaubwürdig und beunruhigend", so Adams. "China muss mit der World Psychiatric Association zusammenarbeiten und unabhängigen Inspektoren Zugang zu allen psychiatrischen Hafteinrichtungen gewähren, damit dieser Missbrauch ein Ende findet."  
 
Der Fall von Wang Wanxing zog breite internationale Aufmerksamkeit auf sich. Er war unter anderem Gegenstand zahlreicher Anfragen und Äußerungen der Besorgnis des UN-Sonderberichterstatters für Folter und verschiedener westlicher Regierungen sowie John Kamms von der "Duihua Foundation". Da Wang international als politischer Häftling bekannt ist, wurde er relativ mild behandelt. Das Personal fürchtete offenbar, dass über schwere Misshandlungen in den internationalen Medien berichtet würde. Ihre Angst war wohl begründet. Im Jahr 1993 organisierte ein britisches Fernsehteam den Besuch einer Chinesin, die aus einem europäischen Land stammte, in der Ankang-Anstalt von Peking. Dieser fand an einem der monatlichen Familien-Besuchstage statt. Die Frau gab sich als Verwandte von Wang aus, trug jedoch eine Videokamera bei sich und interviewte Wang vor laufender Kamera in einem privaten Besuchsraum der Anstalt. Ein Ausschnitt des Interviews erschien im britischen Fernsehen kurz vor der Zusammenkunft des Internationalen Olympischen Komitees, bei der Chinas Bewerbung für die olympischen Spiele 2000 abgelehnt wurde. Als Wang das Personal der Ankang-Anstalt darüber informierte, dass das Fernsehinterview stattgefunden hatte, wurden seine Behauptungen abgestritten und als weiterer klarer Beweis seiner "wahnhaften psychotischen Vorstellungen" bezeichnet.  
 
Wang wurde im August 1999 für kurze Zeit aus der Pekinger Ankang-Anstalt entlassen. Jedoch wurde er nach seiner Ankündigung, eine Pressekonferenz mit ausländischen Journalisten abzuhalten, erneut inhaftiert und wieder in die Anstalt eingeliefert. Während der langen Jahre der Gefangenschaft erhielt Wang private Besuche von zahlreichen anderen bekannten chinesischen Regimekritikern, darunter Wang Dan, Jiang Qisheng, Li Hai und Xu Yonghai.  
 
Unter Drogen gesetzt und als "politisch monoman" diagnostiziert  
Seit Wangs Inhaftierung im Juni 1992 hatten die chinesischen Behörden stets behauptet, dass er an einer "paranoiden Psychose" beziehungsweise einer "politischen Monomanie" leide. Die letztgenannte Diagnose befindet sich auf keiner einzigen international anerkannten Liste psychiatrischer Erkrankungen. Funktionäre des Ankang in Peking wiederholten diese Behauptung auch in einem medizinischen Bericht, den sie der deutschen Regierung eine Woche vor Wangs Entlassung im August vorlegten.  
 
In dem medizinischen Bericht wird festgestellt, dass Wang zum Zeitpunkt seiner Entlassung nach wie vor an diesen angeblich gefährlichen psychiatrischen Störungen leide. Zwar sei Wang ansonsten ziemlich normal, stellt der Bericht fest, fährt jedoch fort: "Wenn eine Unterhaltung auf ein politisches Thema zu sprechen kommt, sind seine [mentalen] Aktivitäten immer noch durch Größenwahn, Streitsucht und einen offensichtlich pathologisch übersteigerten Willen geprägt." Die Bezeichnung "Streitsucht" wird häufig von chinesischen Polizeipsychiatern auf Bürger angewandt, die wiederholt bei den Behörden Petitionen oder Beschwerden einbringen und sich dabei auf ihre Erfahrungen als politisch Verfolgte beziehen.  
 
Während eines Interviews, das Human Rights Watch mit Wang im September in Frankfurt führte, sprach und handelte Wang klar und bei vollem Verstand und schien sich in einer einigermaßen guten psychischen Verfassung zu befinden − dies trotz der traumatischen Erlebnisse, die er während seiner 13-jährigen Inhaftierung inmitten von wirklich geistesgestörten Straftätern machen musste.  
Auf Wangs Verlangen veranlasst die "Global Initiative on Psychiatry" gegenwärtig eine unabhängige psychiatrisch-medizinische Untersuchung. Dabei wird die Behauptung der chinesischen Behörden überprüft, Wang sei in den vergangenen 13 Jahren "auf gefährliche Weise psychiatrisch gestört" gewesen.  
 
Während seiner Zeit im Ankang in Peking wurde Wang gezwungen, Chlorpromazin, ein starkes antipsychotisches Medikament, dreimal täglich einzunehmen. Das Pflegepersonal achtete penibel darauf, dass er die täglichen Dosen auch tatsächlich einnahm. Da ihm die schwerwiegenden psychischen und physischen Nebenwirkungen stark zusetzten, versteckte er die Pillen in seinem Mund und entsorgte sie heimlich nach der Inspektion.  
 
Die Meldung von Wang Wanxings Entlassung aus der psychiatrischen Anstalt sowie die Fälle von zwei weiteren "Patienten" werden in der aktuellen Ausgabe der Wochenzeitung "Die Zeit" thematisiert. Einer der Interviewpartner ist der Aktivist für Bauernrechte, Qiu Jinyou. Er wurde 280 Tage im Ankang in der Provinzhauptstadt Hangzhou festgehalten und musste zahlreiche physische und psychische Folterungen über sich ergehen lassen. Ziel der örtlichen Polizei war es, dass er die Namen von Mitstreitern nenne, die sich an seiner Kampagne zur Aufdeckung korrupter Aktivitäten der örtlichen Dorfleitung beteiligt hatten. Der Artikel beleuchtet auch den Fall von Meng Xiaoxia, einer Arbeiterin in einer Schuhfabrik. Sie war zu Unrecht insgesamt zehn Jahre im Ankang in Xi'an inhaftiert. Sie hatte sich beschwert, weil ihr Arbeitgeber einen Mitarbeiter nicht bestraft hatte, von dem sie bewusstlos geschlagen worden war.  
 
Human Rights Watch appellierte an die Staatsoberhäupter von Deutschland, Spanien und England, das Problem politisch motivierter Einweisungen in psychiatrische Anstalten während Präsident Hu Jintaos Europareise, die am 8. November beginnt, zur Sprache zu bringen.  
 
 
"Jetzt, da Opfer und Zeugen allmählich anfangen, die Wahrheit preiszugeben, kann China diese grausamen Methoden nicht länger leugnen", sagte Adams. "Dieses System basiert auf politischen Entscheidungen und eben eine solche politische Entscheidung ist nun auf allerhöchster Ebene notwendig, um diese schändlichen Praktiken zu beenden."  
 
Hintergrund: Politische Psychiatrie in China  
In dem 298-seitigen Bericht "Dangerous Minds: Political Psychiatry in China Today and its Origins in the Mao Era" ("Gefährliche Gedanken: Politische Psychiatrie in China heute und ihre Urprünge in der Mao-Ära"), der im August 2002 veröffentlicht wurde, griffen Human Rights Watch und die Geneva Initiative on Psychiatry (heute Global Initiative on Psychiatry) diese Problematik bereits auf. Darin legen sie detaillierte Beweise vor, dass chinesische Polizeipsychiater Andersdenkende mit der Fehldiagnose "gefährliche Geisteskranke" in Hochsicherheitsanstalten für psychisch Kranke eingewiesen haben. Die beiden Menschenrechtsgruppen schätzen, dass seit den frühen Achtzigern in China mindestens 3.000 politische Dissidenten, religiös Andersdenkende, unabhängige Gewerkschaftler sowie Personen, die Petitionen und Beschwerden einbringen oder Korruption anprangern, einer derartigen Behandlung unterzogen worden sind. Diese Praktiken erinnern stark an den weit verbreiteten Einsatz der Psychiatrie gegen zurechnungsfähige Andersdenkende, zu dem es seit den 50er Jahren in der Sowjetunion gekommen war.  
 
Alle Mitarbeiter des Ankangs in Peking, einschließlich des medizinischen Personals und des Pflegepersonals, sind Vollzeit-Beamte beim Öffentlichen Sicherheitsbüro. Bei den Insassen handelt es sich hingegen um Personen, die wegen krimineller Vergehen festgehalten werden, die sie angeblich im Zustand einer schwerwiegenden psychischen Erkrankung begangen hatten. Es gibt derzeit circa 25 Ankang-Kliniken für geistesgestörte Straftäter in China. Die Regierung plant, in jeder Stadt mit einer Bevölkerung von mindestens einer Million Einwohner eine solche Anstalt zu errichten. Es gibt mehr als 70 Städte dieser Größenordnung in China. Der Name "Ankang" bedeutet "Friede und Gesundheit".  
 
Nur eine Handvoll ausländischer Beobachter konnten jemals diese psychiatrischen Hochsicherheitseinrichtungen besichtigen. So besuchte im Jahre 1987 zum Bespiel eine psychiatrische Delegation der Weltgesundheitsorganisation das Ankang in Tianjin. Doch der Zugang ist für Aussenseiter jeglicher Art, einschlieβlich Chinesen, strikt verboten. Das nationale Sicherheitsbüro entscheidet, wer in ein Ankang eingewiesen wird. Häftlinge haben kein Recht auf Berufung oder auf eine regelmäβige medizinische Überprüfung ihres Falls. Nach Aussage chinesischer Behörden beträgt die durchschnittliche Haftzeit in einem Ankang fünf Jahre. Viele Häftlinge werden jedoch für 20 Jahre oder länger gefangen gehalten. Gemäβ Wang Wanxing sind mehrere seiner ehemaligen Mitgefangenen seit 30 oder 40 Jahren in Pekings Ankang. Darüber hinaus unterliegen diese polizeilichen Einrichtungen keiner Kontrolle von auβen, weder durch die Gerichte noch durch irgendeine andere chinesische Regierungsbehörde. Die Namen und die gegenwärtigen Umstände der meisten in der Psychiatrie festgehaltenen Dissidenten bleiben unbekannt.  
 
Seit Mitte 1999 haben die chinesischen Sicherheitsbehörden psychiatrische Inhaftierungen auch zur Einschüchterung und Bestrafung von Falun Gong-Praktizierenden angewendet. Seit 2001 wird im Rahmen einer Kampagne der Internationalen Psychiater Gemeinde eine offizielle Untersuchung darüber gefordert, ob politische Dissidenten, Aktivisten für Arbeitsrecht und Anhänger von Falun Gong unter Zwang in psychiatrischem Gewahrsam gehalten werden. Während des Weltkongresses der internationalen Mitglieder der Weltpsychiatrischen Gesellschaft (WPA) im August 2002 in Yokohama wurde beschlossen, eine offizielle Untersuchungsdelegation nach China zu schicken. Doch nach monatelangen Verhandlungen mit der chinesischen Regierung und der Chinesischen Gesellschaft der Psychiater (CSP) hat laut dem Präsidenten des WPA, Ahmed Okasha, China im April 2004 diesen Plan zunichte gemacht.  
 
Auch die internationale Diplomatie hat sich mit dieser Angelegenheit beschäftigt. Der Name Wang Wanxing stand auf den Listen politischer und religiöser Gefangener. Mehrere westliche Regierungen drängten die chinesischen Behörden, diese Häftlinge freizulassen oder zumindest aktuelle Informationen über sie herauszugeben. Und man nimmt an, dass die UN-Menschenrechtskommissarin Louise Arbour bei ihrem Besuch in Peking im August 2005 den zunehmenden Missbrauch von psychiatrischen Diagnosen zur Sprache gebracht hat.  
 
In den vergangenen zehn Jahren ließ die chinesische Regierung regelmäβig politische und religiöse Andersdenkende frei, und sie wurden in die Vereinigten Staaten ins Exil verbannt. Wang ist der erste Ankang-Insasse seit 1989, der in ein europäisches Land ins Exil geschickt wurde.  



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