HUMAN RIGHTS WATCH

Europäische Union

Terrorismus und staatliche Terrorismusbekämpfung sind in der Europäischen Union (EU) weiterhin eine große Herausforderung für den Menschenrechtsschutz. Einschränkungen für Migranten und Asylsuchende sowie deren Misshandlung sind ebenfalls ein zentrales Problem in der EU.

Wegen terroristischer Bedrohung verabschiedeten im Jahr 2006 mehrere EU-Staaten Gesetze, die den Menschenrechtsschutz einschränkten. Einige Staaten wollten mutmaßliche ausländische Terroristen auch in Länder abschieben, in denen bekanntermaßen gefoltert wurde. Gerichte und auch Parlamente waren häufig wirkungsvolle Kontrollmechanismus gegen Missbrauch. In Fällen angeblicher Anstiftung zum Terrorismus wurde das Recht auf freie Meinungsäußerung jedoch von den Gerichten nicht ausreichend berücksichtigt.  
 
Die Migrationspolitik der EU und der einzelnen Mitgliedsstaaten zielte weiterhin darauf ab, Migranten und Asylsuchende von EU-Gebiet fern zu halten und diejenigen abzuschieben, die die Europäische Union bereits erreicht hatten. Bedürftigen den nötigen Schutz zu gewähren, spielte dabei nur eine untergeordnete Rolle. Auch 2006 wurden Migranten routinemäßig und oft unter schlechten Bedingungen inhaftiert.  
 
Anti-Terrorismus-Maßnahmen und Menschenrechte  
Im Jahr 2006 wurde verstärkt Rechenschaft von EU-Staaten eingefordert, die die amerikanische Regierung dabei unterstützt hatten, mutmaßliche Terroristen zu entführen oder illegal an Orte zu bringen, an denen ihnen Folter drohte. Dies galt auch für Länder, die bei der Inhaftierung wichtiger mutmaßlicher Terroristen in geheimen Gefängnissen halfen. In einem im Juni veröffentlichten Bericht der Parlamentarischen Versammlung des Europarats (PVER) wurde ein „Spinnennetz“ illegaler Überstellungen und Festnahmen beschrieben. Auch wurden EU-Staaten genannt, die für Rechtsverletzungen einzelner durch die USA „überstellter“ Personen zur Rechenschaft gezogen werden könnten. Dazu zählten Deutschland, Italien, Schweden und Großbritannien.  
 
Im Juli beriet das Europäische Parlament über den Zwischenbericht eines Sonderausschusses, der die angebliche Beteiligung von aktuellen und zukünftigen EU-Mitgliedsstaaten an illegalen Festnahmen und Überstellungen von Häftlingen durch die CIA untersuchte. Das Europäische Parlament stellte am 6. Juli in einer Resolution fest, dass amerikanische Regierungsbeamte direkt für die illegale Festnahme, Überstellung, Entführung und Inhaftierung mutmaßlicher Terroristen auf dem Gebiet von Mitgliedstaaten der EU verantwortlich gewesen sind. Auch sei es „unwahrscheinlich“, dass sich Mitgliedstaaten dabei nicht mitschuldig gemacht hätten. Der Ausschuss führte seine Ermittlungen im Laufe des Jahres 2006 fort und stattete im September Deutschland, im Oktober Großbritannien und Rumänien sowie im November Polen einen Besuch ab. Der Abschlussbericht soll 2007 veröffentlicht werden.  
 
Die Regierungen der EU-Staaten versuchten weiterhin, diplomatische Zusicherungen zu vereinbaren, durch die das Folterrisiko für Abgeschobene ausgeschlossen werden sollte. Terrorismusverdächtige sollen dadurch in Länder abgeschoben werden können, in denen ihnen Misshandlung droht (siehe Abschnitte über die Niederlande und Großbritannien). Dies widerspricht der Ansicht internationaler Menschenrechtsexperten, dass diplomatische Zusicherungen keinen wirksamen Schutz vor Folter und Misshandlung bieten. Diese Haltung wurde 2006 in Stellungnahmen des UN-Hochkommissars für Menschenrechte, des UN-Sonderberichterstatters zu Folter, des Menschenrechtskommissars des Europarats und des EU-Netzwerks unabhängiger Experten für Grundrechte deutlich.  
 
Im April versuchten einige EU-Staaten, im Rahmen der „Expertengruppe des Europarats für Menschenrechte und den Kampf gegen Folter“ Richtlinien für die „akzeptable Nutzung“ diplomatischer Zusicherungen aufzustellen. Dieser Versuch ist jedoch gescheitert. Als immer mehr Beweise dafür vorlagen, dass diplomatische Zusicherungen keinen Schutz vor Folter bieten, weigerte sich die Expertengruppe, derartige Richtlinien aufzustellen.  
 
Gemeinsame Asyl- und Migrationspolitik der EU  
Die Ausarbeitung einer gemeinsamen Asyl- und Migrationspolitik der EU war weiterhin bedenklich. Neue Standards können den durch Menschen- und Flüchtlingsrecht gewährleisteten Schutz schwächen oder untergraben.  
 
Im Dezember 2005 hat der Rat der Europäischen Union die Asylverfahrensrichtlinie angenommen, ohne dabei die über 100 vom Europäischen Parlament eingebrachten Änderungsvorschläge zu berücksichtigen. Daraufhin reichte das Europäische Parlament im März 2006 beim Europäischen Gerichtshof (EuGH) eine Petition ein, um die gesamte Richtlinie widerrufen zu lassen. Bei diesem Rechtsstreit ging es vor allem um eine für alle EU-Mitgliedsstaaten gültige Liste so genannter „sicherer Herkunftsländer“. Dadurch würden EU-Staaten verpflichtet, Asylanträge von Staatsangehörigen der aufgeführten Länder als „offenbar unbegründet“ einzustufen. Bei Redaktionsschluss hatte das Gericht jedoch noch nicht über die Zulässigkeit dieser Anfechtung entschieden.  
 
Der EuGH wies im Juni eine Beschwerde ab, die 2003 vom Europäischen Parlament zur im selben Jahr eingeführten Richtlinie über das Recht auf Familienzusammenführung eingereicht worden war. Das Gericht entschied, dass die Richtlinie das Recht von Familien nicht unverhältnismäßig einschränke. Darin ist eine Klausel enthalten, die Mitgliedstaaten strengere Regeln für die Familienzusammenführung erlaubt, als in der Richtlinie vorgesehen sind.  
 
Maßnahmen zur Bekämpfung der illegalen Einwanderung standen auf der EU-Agenda weiterhin ganz oben. Nachdem im Sommer 2006 unzählige Migranten über das Meer nach Spanien, Italien oder Malta gekommen waren, sicherte die EU insbesondere die Außengrenzen, fing Migranten ab und führte sie zurück. Der Schutz von Migranten und Flüchtlingen wurde dabei kaum berücksichtigt.  
 
Diese Vorgehensweise war Bestandteil der gegenwärtigen Bemühungen der EU, die Kontrolle, das Bearbeiten entsprechender Anträge sowie das Unterbringen von Migranten und Asylsuchenden in Nachbarstaaten jenseits der EU-Grenzen „auszulagern“. Dazu zählten auch Rücknahmevereinbarungen, in denen sich außerhalb der EU liegende Staaten bereit erklären sollten, aus Drittländern stammende Migranten wieder aufzunehmen, wenn diese durch ihr Land in die EU eingereist waren. Im Oktober 2006 wurde zwischen der EU und der Ukraine eine solche Vereinbarung abgeschlossen. Die Implementierung wurde zwar um zwei Jahre verschoben. Doch Menschenrechtsgruppen befürchten, dass diese zeitliche Verzögerung nicht ausreichen wird, um in der Ukraine die notwendigen Reformen zur Gewährleistung der Rechte von Migranten und Asylsuchenden durchzuführen.  
 
Die Europäische Agentur für die operative Zusammenarbeit an den Außengrenzen, FRONTEX, wurde 2005 ins Leben gerufen. In dem ersten größeren Projekt organisierte sie gemeinsame Patrouillen vor den Küsten Mauretaniens, Senegals und der Kapverdischen Inseln. Als die EU eine ähnliche Vereinbarung über gemeinsame Patrouillen im Mittelmeer mit Libyen vermitteln wollte und Italien dann eine bilaterale Vereinbarung mit dem Land über gemeinsame Polizeieinsätze vor der libyschen Küste abschloss, wurde der Menschenrechtsschutz von Asylsuchenden und Migranten kaum berücksichtigt.  
 
Menschenrechte in EU-Mitgliedstaaten  
 
Frankreich  
Im Juli 2006 verabschiedete das französische Parlament ein neues Gesetz über Immigration und Integration. Es schränkt die Familienzusammenführung für legal in Frankreich lebende Personen ein und schafft das Recht auf automatische rechtliche Anerkennung für diejenigen ab, die seit mindestens zehn Jahren illegal in Frankreich leben. Ein „Integrationsvertrag“ ist für diejenigen verpflichtend, die sich um eine befristete Aufenthaltserlaubnis bewerben; ein Integrationsnachweis wird von denjenigen gefordert, die an einem langfristigen Aufenthalt interessiert sind.  
 
In einem im Februar veröffentlichten Bericht hat Alvaro Gil-Robles, der damalige Menschenrechtskommissar des Europarats, auf überfüllte und unhygienische Bedingungen in Auffanglagern für Migranten und in Gefängnissen hingewiesen. Das Auffanglager im Pariser Justizpalast wurde im Juni geschlossen. Gil-Robles hatte die dortige Situation für Migranten als „unmenschlich und entwürdigend“ bezeichnet.  
 
Im August wurde der Tunesier Adel Tebourski ausgewiesen. Er war wegen terroristischer Aktivitäten angeklagt und schuldig gesprochen worden. Der Fall zeigt, dass Frankreich auf Abschiebungen im Kampf gegen den Terrorismus zurückgreift. Kurz vor Ablauf seiner fünfjährigen Haftstrafe wegen terroristischer Aktivitäten wurde Tebourski im Juli die französische Staatsbürgerschaft entzogen, die er 2000 erhalten hatte, und der Innenminister verfügte seine sofortige Abschiebung. Tebourski wurde daraufhin in Abschiebehaft genommen. Obwohl der UN-Ausschuss gegen Folter um einen Aufschub bat, bis ausreichend überprüft wäre, ob Tebourski bei seiner Rückkehr nach Tunesien Folter drohte, wurde er nach Ablehnung seines Asylantrags sofort ausgewiesen. Man berief sich dabei auf frühere Anhörungen, in denen ein Folterrisiko ausgeschlossen worden war.  
 
Im Juni wurden vor dem Pariser Strafgerichtshof 25 Männer im Rahmen des so genannten Verfahrens gegen das „tschetschenische Netzwerk“ verurteilt. Einigen von ihnen wurde die „kriminelle Beteiligung an einer terroristischen Organisation“, anderen das Fälschen von Dokumenten sowie weniger schwere Vergehen vorgeworfen. Saïd Arif, ein 40-jähriger Algerier, wurde zu neun Jahren Haft verurteilt, obwohl sein Geständnis und andere Aussagen, die er während seiner Haft in Syrien gemacht hatte, mit der Begründung abgewiesen wurden, dass sie „mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit“ durch Folter erzwungen worden waren. Jean-Louis Bruguière, Frankreichs führender Richter für Terrorismusfälle, hatte für die syrischen Behörden eine Reihe von Fragen vorbereitet und reiste nach Syrien, als Arif im Mai 2004 vernommen wurde.  
 
Im April 2006 verschob ein Pariser Gericht den Urteilsspruch in einem Terrorverfahren auf Mai 2007, um genauer zu untersuchen, unter welchen Bedingungen die Vernehmung von sechs früheren Guantánamo-Häftlingen durch Offiziere des französischen Nachrichtendiensts stattgefunden hatte. Die Häftlinge waren wegen krimineller Beteiligung an einem terroristischen Plan angeklagt. Die sechs französischen Staatsbürger hatten zwischen zweieinhalb und drei Jahren in Guantánamo verbracht, bevor sie an die französischen Behörden ausgeliefert wurden. Die Auslieferung erfolgte im Juli 2004 bzw. im März 2005.  
 
Das Gesetz zur Terrorismusbekämpfung vom Januar 2006 erlaubt, mutmaßliche Terroristen vor der Anklage maximal sechs statt wie bisher vier Tage zu inhaftierten. Menschenrechtsgruppen haben hinsichtlich der Dauer der vor der Anklage zulässigen Inhaftierung Bedenken geäußert, da keine hinreichenden Schutzmaßnahmen wie beispielsweise Rechtsbeistand durch einen Anwalt gewährleistet werden. In Regierungskreisen wurde 2006 auch über eine Reform des Justizsystems diskutiert, wodurch alle polizeilichen und gerichtlichen Vernehmungen in strafrechtlichen Fällen gefilmt werden sollten, um so unter anderem besseren Schutz vor Misshandlung und verfahrensrechtlichen Verstößen zu garantieren. Vernehmungen von mutmaßlichen Terroristen würden von dieser Regel jedoch ausgeschlossen.  
 
Deutschland  
Die deutsche Regierung vereitelte im Juli 2006 einen von Terroristen geplanten Bombenanschlag. Bomben, die in Zügen nach Hamm und Koblenz gefunden wurden, konnten entschärft werden. Innenminister Wolfgang Schäuble warnte im August davor, dass die Sicherheitslage in Deutschland „äußerst ernst“ sei und stärkere Maßnahmen zur Terrorismusbekämpfung erforderlich seien. Die Regierung diskutierte daraufhin über die Ausweitung der Videoüberwachung an öffentlichen Orten und die Einführung einer Datenbank zur Terrorismusbekämpfung.  
 
Im Februar begannen Ermittlungen wegen der möglichen Beteiligung Deutschlands an der Entführung und Überstellung von Khaled al-Masri ein. Al-Masri hat die deutsche Staatsangehörigkeit und wurde 2003 in Mazedonien festgenommen, an US-Beamte ausgeliefert und anschließend in einem geheimen Gefängnis in Afghanistan inhaftiert (der Fall wurde auch vom Europäischen Parlament und vom Europarat untersucht). Al-Masri wurde im Mai 2004 in Albanien freigelassen und nie wegen eines Verbrechens angeklagt. Seinen Aussagen zufolge wurde er während seiner Inhaftierung geschlagen und von einem deutschen Beamten in Afghanistan verhört.  
 
Im April wurde in Deutschland ein parlamentarischer Untersuchungsausschuss ins Leben gerufen, der die mögliche Mitschuld der deutschen Regierung an Verstößen untersuchen sollte, die im Rahmen des Anti-Terror-Kampfes durch US-Beamte begangen wurden. Dabei soll unter anderem untersucht werden, ob das Bundeskriminalamt mutmaßliche, im Ausland festgehaltene Terroristen vernommen hat, und auch in den Fällen al-Masri und Mohammed Haydar Zammar ist zu ermitteln. Zammar ist Deutscher syrischer Abstammung und wurde 2001 in Marokko festgenommen. Anschließend wurde er in US-Gewahrsam genommen und in einem Privatflugzeug nach Damaskus gebracht, wo er sich jetzt vor einem Sicherheitsgericht verantworten muss. Zammar wurde von deutschen Geheimdienst- und Sicherheitsbeamten im November 2002 in Syrien verhört. Das deutsche Kanzleramt erließ im Oktober 2006 neue Vernehmungsrichtlinien, aufgrund derer Mitarbeiter der deutschen Bundespolizei mutmaßliche Terroristen nicht mehr im Ausland verhören dürfen.  
 
Kontrovers diskutiert wurde die Rückkehr von Murat Kurnaz im August 2006 nach Bremen. Kurnaz ist ein in Deutschland geborener Türke und verbrachte über vier Jahre im Lager von Guantánamo in US-Gewahrsam. Er wurde während seiner Inhaftierung von deutschen Sicherheitsbeamten verhört. Nach Aussagen seines Anwalts lehnten die deutschen Behörden 2002 ein Angebot der US-Regierung ab, Kurnaz freizulassen. Im Oktober 2006 nahm der Verteidigungsausschuss des Bundestags Ermittlungen auf. Es wird der Vorwurf Kurnaz’ untersucht, in amerikanischem Gewahrsam in Afghanistan - also vor seinem Transfer nach Guantánamo - von Mitgliedern der deutschen Armee misshandelt worden zu sein.  
 
Italien  
In den ersten neun Monate des Jahres 2006 landeten etwa 16 000 Migranten, ausgehend von der libyschen Küste, auf der Insel Lampedusa vor der sizilianischen Küste oder wurden dorthin gebracht, nachdem sie von Booten der italienischen Marine oder Küstenwache abgefangen worden waren. Mindestens 60 Menschen kamen im August bei zwei Bootsunfällen ums Leben. An einem dieser Unfälle war ein Schiff der italienischen Küstenwache beteiligt. Der Vorfall wurde vor Redaktionsschluss noch untersucht.  
 
Die im April 2006 gewählte Regierung von Romano Prodi lehnte es ab, die obligatorische Inhaftierung illegaler Migranten abzuschaffen, obwohl von zivilgesellschaftlichen Gruppen und Parteien der Regierungskoalition Druck ausgeübt wurde. Die Regierung errichtete jedoch einen Ausschuss, der die Haftbedingungen untersuchen sollte. Die Regierung gab im Mai bekannt, dass Italien nur in Länder abschieben würde, die die UN-Flüchtlingskonvention unterzeichnet hätten. Libyen gehört nicht zu diesen Staaten. Dadurch unterschied sich die Regierung Prodi von der Politik der vorherigen Regierung, die auch Personen abschob, ohne dass sie Asyl beantragen konnten.  
 
Im Juli stellte der Oberstaatsanwalt in Mailand einen formellen Auslieferungsantrag für 26 US-Bürger (25 mutmaßliche CIA-Agenten und den früheren Kommandanten des US-Luftwaffenstützpunkts in Aviano, Italien). Dabei ging es um den Fall des Ägypters Hassan Mustafa Osama Nasr (als Abu Omar bekannt): Er wurde im Februar 2003 entführt und von der CIA über Aviano an Ägypten ausgeliefert. Der Justizminister, der für die Genehmigung dieses Antrags zuständig war, hatte vor Redaktionsschluss noch keine Entscheidung getroffen. Staatsanwälte beschuldigten zudem zwölf Italiener, in diese Angelegenheit verwickelt zu sein. Darunter befanden sich der Direktor und der frühere stellvertretende Direktor des italienischen militärischen Nachrichten- und Sicherheitsdiensts (SISMI) sowie sechs SISMI-Agenten. Die Staatsanwälte in Mailand schlossen ihre Ermittlungen im Oktober mit dem Ergebnis ab, dass es sich bei der Entführung um eine illegale Aktion gehandelt habe, die von der CIA organisiert und vom SISMI unterstützt worden war. Im Oktober teilte die italienische Regierung einem parlamentarischen Ermittlungsausschuss mit, dass der mögliche Kontakt zwischen der amerikanischen und italienischen Regierung in diesem Fall durch staatliche Geheimhaltung geschützt würde.  
 
Malta  
Im Juli befanden sich 51 afrikanische Migranten acht Tage lang in einer rechtlichen Grauzone. Sie waren von einem spanischen Fischerboot auf hoher See gerettet worden. Malta hatte sich geweigert, das Boot anlegen zu lassen. Die maltesischen Behörden sahen sich nicht zur Aufnahme der Migranten verpflichtet, weil sie außerhalb der Hoheitsgewässer des Landes gerettet worden waren. Schließlich durften die Migranten in Malta von Bord gehen, nachdem sich Spanien bereiterklärt hatte, die Mehrheit von ihnen aufzunehmen, und Italien, die Niederlande und Andorra die restlichen Personen einreisen ließen. Eine Schwangere, eine Mutter und ein zweijähriges Kind durften schon vorzeitig in Malta an Land gehen, um sich dort medizinisch behandeln zu lassen.  
 
Mitarbeiter des UN-Hochkommissars für Flüchtlinge (UNHCR) besuchten diese drei Migranten vor ihrer Weiterreise. Sie erklärten öffentlich, dass sie „geschockt“ waren, als sie bei ihrem Besuch elf Männer sahen, die in einem winzigen, dunklen und muffigen Raum gefangen gehalten wurden. Angeblich sollten diese Männer dafür bestraft werden, einen Fluchtversuch unternommen zu haben. In Malta werden Asylsuchende und illegale Migranten inhaftiert.  
 
Niederlande  
Neun mutmaßliche Mitglieder der Hofstad-Gruppe, einem Netzwerk militanter Islamisten, wurden im März wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung verurteilt. Fünf weitere wurden freigesprochen. Die einzigen Beweismittel, die bei der Verurteilung von fünf der verurteilten Personen verwendeten wurden, waren über Internet und Telefone geführte Gespräche. Darin unterstützen die Verurteilten eine gewalttätige Version des Islams und riefen zum heiligen Krieg gegen den Westen auf. Der Richter Rene Elkerbout erklärte, dass jeder, der Hass und Gewalt predige, die Grundlage für Verbrechen schaffe, um Menschen Angst einzuflößen und die niederländische Demokratie zu zerstören. Das Urteil wurde zwar als wichtiger Durchbruch in den Niederlande betrachtet, Menschen wegen terroristischer Verbrechen verurteilen zu können. Es rief jedoch auch Bedenken hervor, dass die fünf Männer wegen ihrer Meinungsäußerung und ihrer Treffen anstatt der Beteiligung an einer kriminellen Verschwörung verurteilt worden waren. Unter den Verurteilten befand sich Mohammed Bouyeri, der bereits für den Mord am Filmemacher Theo van Gogh (November 2004) zu lebenslänglicher Freiheitsstrafe verurteilt worden war.  
 
Im Mai 2006 verabschiedete das niederländische Abgeordnetenhaus eine neue Gesetzgebung zur Terrorismusbekämpfung. Stimmt auch der Senat der Vorlage zu, über die seit September verhandelt wird, so würde die Polizei eine besondere Überwachungsbefugnis erhalten. Sie könnte bereits angewandt werden, wenn lediglich ein „Anzeichen“ dafür besteht, dass ein mutmaßlicher Täter ein Verbrechen begangen hat. Bisher war dafür ein „begründeter Verdacht“ erforderlich. Darüber hinaus würde die maximal zulässige Dauer der Inhaftierung vor der Anklage von drei Tagen auf vierzehn Tage erhöht. Die Haft vor Durchführung einer Gerichtsverhandlung könnte insgesamt auf maximal zwei Jahre verlängert werden.  
 
Der Obersten Gerichtshof bestätigte im September das Urteil eines untergeordneten Gerichts, aufgrund dessen Nuriye Kesbir, ein Mitglied der kurdischen Arbeiterpartei PKK, nicht in die Türkei ausgeliefert wurde. Das untergeordnete Gericht hatte entschieden, dass die von den türkischen Behörden abgegebenen diplomatischen Zusicherungen für eine menschenwürdige Behandlung und ein faires Gerichtsverfahren keinen ausreichenden Schutz dafür darstellten, dass Kesbir nach seiner Rückkehr nicht misshandelt würde.  
 
Die Ministerin für Integration und Immigration, Rita Verdonk, schlug vor, ein Abschiebemoratorium für abgelehnte homosexuelle Asylbewerber in den Iran aufzuheben. Der Vorschlag wurde im April nach intensiven Protesten der niederländischen Zivilgesellschaft und internationalen Menschenrechtsorganisationen, darunter Human Rights Watch, zurückgezogen. Im Oktober vollzog die niederländische Regierung einen entscheidenden Wandel in ihrer Politik: Sie deklarierte homosexuelle Iraner als „Sondergruppe“, die in ihrer Heimat Verfolgung ausgesetzt sei und die daher in den Niederlanden geschützt werde.  
 
Polen  
Präsident Lech Kaczynski rief in einer im Juli ausgestrahlten Radiosendung dazu auf, in Polen und ganz Europa die Todesstrafe wieder einzuführen. Die Europäische Kommission und die Parlamentarische Versammlung des Europarats (PVER) verurteilten diese Äußerung. Im August startete die Liga Polnischer Familien, eine Minderheitspartei der Regierungskoalition, eine Kampagne mit dem Ziel, zu diesem Thema einen Volksentscheid in Polen durchzuführen.  
 
Im Januar 2006 verabschiedete das Europäische Parlament eine Resolution, in der die EU-Mitgliedstaaten dazu aufgerufen wurden, sich klar gegen homophobe Hassreden sowie die Anstiftung zu Hass und Gewalt auszusprechen. Teilweise fand diese Resolution ihren Ursprung in der Homophobie, die in Polen in zunehmendem Maße zu spüren war. Doch auch 2006 äußerten sich polnische Regierungsbeamte offen homophob, und es kam erneut zu Angriffen auf Lesben, Schwule, Bisexuelle und Transgender-Aktivisten (LSBT). Der Generalstaatsanwalt wies im Mai alle Staatsanwälte an, die Finanzierung von LSBT-Organisationen zu überprüfen, nachdem ein Parlamentarier der Liga Polnischer Familien LSBT-Gruppen beschuldigt hatte, Kontakt zu Pädophilen zu haben und in den Drogenhandel verwickelt zu sein. Der Bildungsminister Roman Giertych entließ im Juni den Direktor eines Schulungszentrums für Lehrer, weil er mit einer Veröffentlichung des Europarats gearbeitet hatte, in der die Nichtdiskriminierung sexueller Minderheiten behandelt wurde. Terry Davis, der Generalsekretär des Europarats, verurteilte diese Handlung. Im April wurden LSBT-Aktivisten trotz der Anwesenheit von Polizisten bei einer in Krakau abgehaltenen Demonstration von Rechtsextremen angegriffen.  
 
Im November unterzeichnete der Präsident ein „Untersuchungsgesetz“, durch das Personen identifiziert werden sollten, die zwischen 1944 und 1990 mit den Sicherheitsbehörden der Volksrepublik Polen zusammengearbeitet hatten. Das Gesetz war unter anderem deshalb bedenklich, da Daten nur unzureichend geschützt wurden und nur eingeschränkte Garantien für Rechtsmittelverfahren gewährt wurden.  
 
Spanien  
Bis September erreichten bereits mehr als 25 000 Migranten die Kanarischen Inseln. Dies entsprach einer fünffachen Steigerung im Vergleich zum Gesamtjahr 2005. Da nicht genügend Aufnahmezentren für Migranten vorhanden waren, wurden Hunderte von unbegleiteten Minderjährigen in notdürftigen Lagern untergebracht. Eine Delegation des Europäischen Parlaments, die im Juni 2006 vor Ort war, bezeichnete diesen Zustand als „echte Notsituation“.  
 
Die meisten der Migranten reisten über Senegal oder Mauretanien aus. Spanien hat mit beiden Ländern ein Abkommen zur Rücknahme ihrer Staatsbürger ausgehandelt. Senegal unterbrach die Rückführung jedoch, als im Mai erstmals eine Gruppe von 99 Senegalesen zurückgeschickt wurde. Die Senegalesen berichteten, dass sie von spanischen Behörden misshandelt worden war. Später wurde die Rückführung allerdings wieder aufgenommen. Bei Redaktionsschluss verhandelte Spanien mit beiden Ländern auch über die Rücknahme von Staatsbürgern aus Drittländern, die von den Küsten des Senegal und Mauretaniens ausreisen. Dies ist besorgniserregend, da Flüchtlingen und anderen gefährdeten Personen auf spanischem Boden dadurch Schutz verweigert werden könnte.  
 
Nachdem die baskische Separatistengruppe ETA im März einen dauerhaften Waffenstillstand erklärt hatte, kündigte der Ministerpräsident José Luis Rodríguez Zapatero im Juni offiziell an, dass seine Regierung die nahezu vier Jahrzehnte andauernde politische Gewalt um den Status der baskischen Region durch Verhandlungen beenden möchte. Mutmaßliche Kollaborateure und Mitglieder der ETA werden weiterhin in dem für Terrorismusfälle zuständigen Gerichtshof Audiencia Nacional strafrechtlich verfolgt. Einige dieser Fälle waren bedenklich, da sie das Recht auf freie Meinungsäußerung und auf Vereinigungsfreiheit unangemessen einschränken könnten. Im Februar lehnte das Gericht den Einspruch gegen die Anklage von sieben Mitarbeitern der auf Baskisch veröffentlichten Zeitung Euskaldunon Egunkaria ab und ebnete dadurch den Weg für einen Strafprozess. Den Mitarbeitern wurden terroristische Aktivitäten vorgeworfen. Die Zeitung musste im Februar 2003 ihre Arbeit einstellen; das Personal wurde unter dem Vorwurf der Zusammenarbeit mit der ETA verhaftet. Der Batasuna-Führer Arnaldo Otegi wurde im April wegen Verherrlichung des Terrorismus verurteilt, aufgrund einer Rede, die er im Dezember 2003 zu Ehren eines 1978 ermordeten ETA-Führers gehalten hatte.  
 
Im April 2006 und somit mehr als zwei Jahre nach den Madrider Zuganschlägen, bei denen 191 Menschen ums Leben gekommen und über 1 700 verletzt worden waren, erhob der Untersuchungsrichter Juan del Olmo Anklage gegen 29 der 116 verdächtigen Personen. 18 Angeklagte befinden sich in Gewahrsam. Das Gerichtsverfahren beginnt voraussichtlich im Februar 2007.  
 
Im Juli hob der Oberste Gerichtshof eine 2005 ausgesprochene Verurteilung wegen Terrorismus auf, mit der Begründung, dass für die Strafverfolgung keinerlei Beweismittel vorlagen. Dabei ging es um Hamed Abderrahman Ahmed, einen spanischen Staatsbürger, der über zwei Jahre in Guantánamo inhaftiert war. Seine sofortige Freilassung wurde angeordnet. In einem anderen Fall, bei dem der syrischstämmige Spanier Imad Yarkas 2005 wegen Verschwörung in Bezug auf die am 11. September in den USA verübten Terroranschläge verurteilt worden war, wies das Gericht im Juni ebenfalls auf unzureichende Beweismittel hin und hob das Urteil auf. Die Verurteilung aufgrund einer Mitgliedschaft in al-Qaida und die zwölfjährige Haftstrafe wurden jedoch aufrechterhalten. In anderen Berufungsverfahren von Angeklagten, die im demselben 2005 stattfindenden Verfahren wegen mutmaßlicher Mitgliedschaft in einer spanischen al-Qaida-Zelle verurteilt worden waren, sprach das Gericht drei Personen frei. Es bestätigte jedoch die Verurteilung des Korrespondenten von al-Dschasira, Taysir Allouni.  
 
Im Juni 2006 begann die Audiencia Nacional Ermittlungen darüber, ob die CIA spanische Flughäfen zum illegalen Transfer mutmaßlicher Terroristen genutzt hatte.  
 
Im März 2006 ratifizierte Spanien das Fakultativprotokoll zur Anti-Folter-Konvention. Nicht einmal einen Monat später lehnte das Parlament jedoch eine Änderung des Strafgesetzbuches zur Isolationshaft ab. Dadurch können mutmaßliche Terroristen und andere Personen, die wegen schwerwiegender Verbrechen angeklagt werden, weiterhin maximal 13 Tage lang praktisch ohne Kontakt zur Außenwelt inhaftiert werden (d.h. stark eingeschränkter Kontakt zu einem Anwalt und kein Recht, mit Familienangehörigen zu sprechen).  
 
Großbritannien  
Von der britischen Regierung eingeführte Gesetze und Maßnahmen zur Terrorismusbekämpfung wurden 2006 rechtlich überprüft. Wenn durch die Anti-Terror-Politik der grundlegende Schutz von Menschenrechten verletzt wurde, lehnten die Gerichte diese Maßnahmen gewöhnlich ab. Im Dezember 2005 entschied das Judicial Committee des Oberhauses, die höchste Gerichtsinstanz Großbritanniens, im Fall „A. and Others“, dass durch Folter erhobene Beweismittel unter keinen Umständen in Gerichtsverfahren verwendet werden können. Dadurch wurde eine im August 2004 getroffene Mehrheitsentscheidung des Berufungsgerichts aufgehoben.  
 
Die Behauptung der britischen Regierung, im August einen Bombenanschlag auf einen Transatlantikflug vereitelt zu haben, führte zur Festnahme und Inhaftierung mutmaßlicher Terroristen und war der erste Testfall für die durch das Terrorismusgesetz 2006 gewährte erweiterte Haftbefugnis. Das Gesetz wurde im März rechtskräftig und stellt die Rechtsgrundlage dafür da, mutmaßliche Terroristen ohne Anklage maximal 28 Tagen festzuhalten. Das Gesetz kriminalisiert auch die Befürwortung des Terrorismus, selbst wenn dadurch nicht direkt zu Gewalt aufgerufen wird. Dies schließt die „Verherrlichung“ des Terrorismus oder auch eine mögliche indirekte Ermutigung zum Terrorismus ein. Der restriktive Charakter des neuen Gesetzes stellt eine ernsthafte Gefahr für das Recht auf freie Meinungsäußerung dar.  
 
Der Gemeinsame Parlamentarische Ausschuss für Menschenrechte veröffentlichte im Mai 2006 seine Einschätzung, ob die Regierungspolitik mit der Anti-Folter-Konvention übereingestimmt habe. Darin wird auf die Politik der diplomatischen Zusicherungen gegen Folter im Rahmen so genannter „Memoranda of Understanding“ hingewiesen. Sie wurden bis jetzt mit Jordanien, Libyen und dem Libanon abgeschlossen, Länder, in die Großbritannien mutmaßliche Terroristen abschieben wollte. Der Ausschuss stellte fest, dass durch diese Vereinbarungen die Abgeschobenen einem beträchtlichen Risiko ausgesetzt waren, tatsächlich gefoltert zu werden. Auch würde das Verbot untergraben, Menschen in Länder abzuschieben, in denen ihnen Folter droht.  
 
Im Mai wurde erstmals ein derartiges „Memorandum of Understanding“ rechtlich angefochten. Dabei handelte es sich um den Fall von Omar Othman, einem mutmaßlichen Terroristen mit jordanischer Staatsbürgerschaft, der auch unter dem Namen Abu Qatada bekannt ist und den die britische Regierung nach Jordanien abschieben wollte. Othmans Anwälte argumentierten vor dem Sondergericht SIAC (Special Immigration Appeals Commission), dass Othman bei einer Auslieferung nach Jordanien Folter, ein unfaires Gerichtsverfahren und möglicherweise die Abschiebung in ein Drittland drohe. Die Versprechen des Landes, faire Gerichtsverfahren zu garantieren, seien nicht glaubwürdig.  
 
Die SIAC wies den Einspruch eines Algeriers gegen seine Abschiebung in sein Heimatland aus Gründen der nationalen Sicherheit zurück. Er wäre keinem tatsächlichen Folterrisiko ausgesetzt, weil er unter ein neues Amnestiegesetz falle. Der Algerier war in Großbritannien als Flüchtling anerkannt, weil er zuvor gefoltert worden war. 2005 wurde er vor einem britischen Gericht von der Anklage freigesprochen, an Planungen für einen terroristischen Anschlag beteiligt gewesen zu sein. Bei Redaktionsschluss war gegen die Entscheidung der SIAC ein weiteres Rechtsmittelverfahren anhängig.  
 
Im August bestätigte das Berufungsgericht die Entscheidung eines untergeordneten Gerichts, wodurch die „Überwachungsanweisungen“ gegen sechs mutmaßliche Terroristen verworfen wurden. Die Überwachung stellte einen Freiheitsentzug dar, der gegen die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) verstieß. Im Rahmen dieser Anweisungen, die aufgrund des Terrorismusgesetzes von 2005 zulässig waren, wurden den sechs Verdächtigen 18-stündige Ausgangssperren auferlegt und ihre Bewegungsfreiheit eingeschränkt. Der Innenminister erteilte daraufhin neue Anweisungen für eine 14-stündige Ausgangssperre. Im selben Monat widerrief das Berufungsgericht die Entscheidung eines untergeordneten Gerichts, gemäß der die rechtliche Prüfung und der Beweisstandard, die für die Auferlegung einer Überwachungsanweisung erforderlich sind, gegen das in der EMRK verankerte Recht auf faire Anhörung verstieß.  
 
Die britische Staatsanwaltschaft (Crown Prosecution Service) schloss die Untersuchung des Falles Jean Charles de Menezes ab. De Menezes war am 21. Juli 2005 und somit einen Tag nach vereitelten Terroranschlägen versehentlich von der Londoner Polizei getötet worden war. Die Staatsanwaltschaft verkündete im Juli, dass in Zusammenhang mit der Erschießung kein Polizist wegen Mord, Totschlags oder einer anderen Straftat angeklagt würde. Vielmehr würde das Büro des Polizeipräsidenten der Metropolitan Police unter Anwendung von Arbeitsschutzgesetzen strafrechtlicht belangt.  



Zu diesem Thema

World Report
http://hrw.org/wr2k7/

Download Chapter (PDF)
http://www.hrw.org/wr2k7/pdfs/eu_de.pdf

European Union Member States
http://www.hrw.org/doc?t=eu_states