Herrn
Dr. Albert Schmid
Präsident des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge
90343 Nürnberg
10. Juli 2007
Sehr geehrter Herr Dr. Schmid,
die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch möchte mit diesem Schreiben ihre Besorgnis über die politische Entscheidung in Deutschland zum Ausdruck bringen, irakischen Flüchtlingen den Flüchtlingsstatus abzuerkennen. Als Grund für die Aberkennung werden die veränderten Landesbedingungen im Irak genannt, wobei davon ausgegangen wird, dass Personen, die vor dem Sturz des Regimes der Baath-Partei 2003 als politische Flüchtlinge anerkannt worden sind, heute keine Verfolgung im Irak mehr zu befürchten haben. Zwar können veränderte Landesbedingungen tatsächlich eine Voraussetzung für die Beendigung des Flüchtlingsstatus sein, doch müssen diese Veränderungen grundlegend und von Dauer sein, und die ursprünglichen Ursachen für Flucht oder Vertreibung müssen behoben sein. Andauernde bewaffnete Konflikte, verbreitete Menschenrechtsverstöße einschließlich der Verfolgung bestimmter sozialer Gruppen sowie instabile Landesbedingungen, wie sie heute im Irak vorherrschen, verlangen dagegen kategorisch von Deutschland, dass es davon Abstand nimmt, den Flüchtlingsstatus irakischer Flüchtlinge zu widerrufen, und dass es den Grundsatz der Nichtzurückweisung sorgfältig beachtet.
Darüber hinaus ist Human Rights Watch der Auffassung, dass jedem Iraker, der Anspruch auf subsidiären Schutz hat, Rechte und Leistungen entsprechend der Richtlinie 2004/83/EG des Europäischen Rates vom 29. April 2004 zugestanden werden sollten; diese Richtlinie betrifft die Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, sowie den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (nachstehend als „Anerkennungs-Richtlinie“ oder als „Richtlinie“ bezeichnet).
1. Widerruf oder Verweigerung des Flüchtlingsstatus
Seit 2003 hat Deutschland mehr als 18 000 Irakern ihren Status als Asylberechtigte aberkannt. Das deutsche Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) schreibt an irakische Flüchtlinge, deren Flüchtlingsstatus das Amt aberkennen möchte: "Die politische Situation im Irak hat sich (...) grundsätzlich verändert (...). Es sind keine Anhaltspunkte dafür ersichtlich, dass von der neuen irakischen Regierung politische Verfolgung ausgeht oder ausgehen wird." Für Human Rights Watch ist es nicht nachvollziehbar, wieso auf die Feststellung des Offensichtlichen – die grundsätzliche Veränderung des politischen Regimes im Irak – die Behauptung folgt, es gebe keine Anzeichen für eine derzeitige oder künftige politische Verfolgung durch die neue Regierung im Irak. Tatsächlich wurde wiederholt festgestellt, dass diese neue Regierung Gefangene foltert, die wesentlichen Grundsätze eines Rechtsstaates missachtet und irakische Bürger auf Grund ihrer Religionszugehörigkeit diskriminiert. Auch die Verfolgung von Irakern wegen ihrer Identität, ihrer Verbindungen und Überzeugungen durch nicht-staatliche Akteure im Irak – die inzwischen auch von Deutschland als potentielle Verfolger anerkannt werden – ist weitgehend dokumentiert.
Zwar hat sich das politische Regime im Irak seit 2003 grundlegend verändert, doch wir sind überzeugt, dass aufgrund der verbreiteten Gewalt und der zahlreichen Menschenrechtsverletzungen derzeit im Irak irakische Flüchtlinge erneut Anspruch auf Schutz haben. Dafür sprechen nahezu zwei Millionen Vertriebene im Inneren des Landes und mehr als zwei Millionen irakische Flüchtlinge in den Nachbarländern sowie die Tatsache, dass Iraker den höchsten Anteil an Asylsuchenden in den westlichen Industrieländern ausmachen. Laut dem „UNHCR-Handbuch über Verfahren und Kriterien zur Feststellung der Flüchtlingseigenschaft“ und dessen Auslegung der Bestimmungen über die Beendigung des Flüchtlingsstatus in Artikel 1.C der Genfer Flüchtlingskonvention von 1951 (nachstehend „die Konvention" genannt) kann der Flüchtlingsstatus nur bei grundlegenden und dauerhaften Änderungen der Bedingungen im Herkunftsland des Flüchtlings beendet werden. In diesem Handbuch heißt es: „Eine bloße - möglicherweise vorübergehende - Veränderung der Umstände, die für die Furcht des betreffenden Flüchtlings vor Verfolgung mitbestimmend waren, auf die aber keine weiteren wesentlichen Veränderungen der Umstände folgen, reicht nicht aus, um die Bestimmungen gemäß Artikel 1.C zum Tragen zu bringen.“ Angesichts des weiterhin hohen Maßes an Gewalt und der fortdauernden Instabilität im Irak kann derzeit unmöglich überzeugend argumentiert werden, dass die Veränderungen dort seit 2003 von Dauer sind. Wenn der Flüchtlingsstatus nach deutschem Recht aberkannt werden soll, ohne auf die Frage der Dauerhaftigkeit bei der Veränderung der Landesbedingungen einzugehen, werden hier internationale Normen missachtet. In Folge dessen fehlt es irakischen Flüchtlingen am nötigen Schutz und sie müssen jederzeit damit rechnen, in ein instabiles Land zurückgesandt zu werden, obwohl ihnen gemäß der Konvention rechtlich Schutz zusteht.
Wenn das BAMF fortfährt, Aberkennungsverfahren gegen irakische Flüchtlinge auf Grund veränderter Landesbedingungen im Irak einzuleiten, sollte es zumindest individuell die Möglichkeit einräumen, angesichts der gegenwärtigen Situation im Irak de novo einen Antrag auf internationalen Schutz zu stellen. Auch den mehr als 18 000 Irakern, deren Flüchtlingsstatus bereits aberkannt worden ist, sollte diese Möglichkeit gegeben werden. Ihr Antrag könnte mit der Furcht vor Verfolgung oder vor ernstem Schaden aufgrund der gegenwärtigen Menschenrechtssituation im Irak begründet werden.
Auch sollte der Flüchtlingsstatus nicht aberkannt oder Schutz verweigert werden mit der Begründung, dass Fluchtmöglichkeiten im Landesinneren bestehen. Zwar sind die Umstände in den nördlichen irakischen Provinzen (Sulaymaniyah, Erbil und Dohuk) verglichen mit dem Rest des Landes relativ stabil, doch die Situation bleibt auch dort unvorhersehbar und angespannt. Der UNHCR warnt, dass Konflikte in anderen Teilen des Landes dorthin überschwappen könnten und dass auch im Norden weiterhin schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen begangen werden. Diesen Monat hat Human Rights Watch einen Bericht veröffentlicht, der dokumentiert, dass schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen auch weiter im Norden stattfinden. Den Bericht “Caught in the Whirlwind: Torture and Denial of Due Process by the Kurdistan Security Forces.”
Es kann von einem Iraker aus dem Süden oder aus dem Zentralirak kaum erwartet werden, dass er in den Norden übersiedelt, da er dort nicht nur auf juristische Hürden bei der Wohnungssuche stoßen würde, sondern auch kaum mit Schutz vor Verfolgung rechnen könnte. Bei der Entscheidung über den Asylantrag eines Irakers aus einer der Nordprovinzen sollten außerdem die persönlichen Umstände des Antragstellers berücksichtigt werden, die sein Schutzbedürfnis begründen sowie die Möglichkeit, dass sich die Situation dort rasch zum Schlechteren wenden könnte. Wenn eine Abschiebung in den Nordirak erwogen wird, empfiehlt der UNHCR, folgende Aspekte zu bedenken: 1) die destabilisierende Wirkung, die es hat, wenn zahlreiche Menschen in ein gefährdetes Gebiet zurückkehren; 2) die Frage, ob dort tatsächlich einigermaßen gute Chancen für eine dauerhafte Reintegration bestehen und 3) die begrenzte Aufnahmefähigkeit der nördlichen Provinzen. Angesichts dieser Umstände sowie der negativen Signale, die davon an Erstasylländer ausgehen würden, bittet Human Rights Watch Deutschland dringend, keine irakischen Flüchtlinge und Asylsuchende, die sich derzeit in Deutschland aufhalten, und keine ankommenden Iraker, die hier Schutz suchen, in irgend einen Teil des Iraks abzuschieben.
2. Die Einhaltung der EU-Richtlinie 2004/83/EG sowie angemessene Rechte für Personen unter dem Status der Duldung
Der subsidiäre Schutz für Flüchtlinge, denen der Flüchtlingsstatus aberkannt wurde, oder für ankommende Flüchtlinge sollte mit den Bestimmungen der EU-Anerkennungsrichtlinie übereinstimmen.
Die Anerkennungsrichtlinie verlangt von den Mitgliedsstaaten, dass sie Menschen subsidiären Schutz vor Abschiebung in Umstände gewähren, in denen eine „ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts“ besteht (Art. 15 (c)). Bei der Umsetzung der Anerkennungsrichtlinie in deutsches Recht sollte diese wesentliche Wortwahl berücksichtigt werden. Derzeit wird nach deutschem Recht der Schutz vor Abschiebung lediglich als Ermessensfrage behandelt, wenn Bedrohung in Form von "willkürlicher Gewalt" besteht. Wie wir erfahren haben, soll bei der Umsetzung der Anerkennungsrichtlinie in deutsches Recht laut einem Gesetzesentwurf, über den derzeit debattiert wird, der Ermessens-Aspekt beibehalten werden, wenn über den Schutz vor Abschiebung in Gebiete mit willkürlicher Gewalt entschieden wird. Durch diesen Ermessensaspekt in dem Gesetzesentwurf werden die schutzbedürftigen Personen nicht ausreichend vor einer Abschiebung in Gebiete mit willkürlicher Gewalt geschützt, wie es ihr Recht laut der Anerkennungsrichtlinie ist.
Die Rechte von Personen, denen subsidiärer Schutz gewährt wird, müssen mit der EU-Anerkennungsrichtlinie übereinstimmen; dies gilt einschließlich des Rechts auf Erwerbstätigkeit, Reisefreiheit, Zugang zu Bildung und zu sonstigen Sozialleistungen. Besonders besorgt sind wir darüber, dass Personen mit Duldungsstatus ein volles Jahr ab Beginn dieses Status keiner Erwerbstätigkeit nachgehen dürfen. Deutschlands derzeitige Politik gegenüber Personen mit Duldungsstatus entspricht nicht der Anerkennungsrichtlinie, die von den Mitgliedstaaten fordert: „Unmittelbar nach der Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus gestatten die Mitgliedstaaten Personen, denen der subsidiäre Schutzstatus zuerkannt worden ist, die Aufnahme einer unselbständigen oder selbständigen Erwerbstätigkeit“ (Art. 26.3; die Betonung wurde nachträglich von uns hinzugefügt). Zwar fühlen wir uns durch die jüngsten Bemühungen der Bundesregierung ermutigt, die Personen mit Duldungsstatus den Weg zu einer dauerhaften Aufenthaltserlaubnis ebnen, doch wir stellen fest, dass auf Grund der Arbeitsbeschränkungen nur ein Bruchteil dieser Gruppe das Kriterium eines festen Arbeitsverhältnisses erfüllen kann.
Außerdem ist es ja wohl so, dass Personen mit Duldungsstatus sich nicht frei in Deutschland bewegen dürfen und dass ihre Möglichkeiten, sich in Deutschland niederzulassen, auf bestimmte Gebiete oder Bundesländer beschränkt sind. Die Anerkennungsrichtlinie sieht indes vor, dass Mitgliedstaaten Personen mit subsidiärem Schutzstatus Bewegungsfreiheit unter den gleichen Bedingungen einräumen wie sie für andere Drittstaatsangehörige gelten, die sich rechtmäßig in ihrem Hoheitsgebiet aufhalten (Art. 32). Darüber hinaus werden Personen mit Duldungsstatus häufig staatliche Leistungen verweigert, auch wenn hier die Regelungen von Bundesland zu Bundesland unterschiedlich sein mögen. Im Rahmen der Bleiberechtsregelung vom März 2007 wurde der Anspruch auf Sozialleistungen in den verschiedenen Bundesländern noch weiter beschnitten. Durch Arbeitsbeschränkungen in Verbindung mit niedrigen Sozialleistungen droht eine zunehmende Verarmung, die die Menschen in die Illegalität treibt, wenn sie sich ihren Lebensunterhalt verdienen wollen.
Zum Schluss möchten wir Deutschland noch einmal dringend bitten, sich die Signalwirkung bewusst zu machen, die von einer Aberkennung des Flüchtlingsstatus ausgeht, insbesondere in Bezug auf Länder im Nahen und Mittleren Osten, die nicht zu den Unterzeichnern der Genfer Flüchtlingskonvention gehören und in denen irakische Flüchtlinge und Asylsuchende in großer Gefahr sind, in ihre Heimat abgeschoben zu werden, wo ihnen Verfolgung droht.
Zu einem Zeitpunkt, wo die Flüchtlingskrise unverändert anhält, wo der UN-Flüchtlingskommissar (UNHCR) die internationale Gemeinschaft aufgerufen hat, den irakischen Nachbarstaaten bei der Bewältigung des Flüchtlingsstromes zu helfen, geht von einer Aberkennung des Flüchtlingsstatus bei den Irakern innerhalb der deutschen Grenzen ein falsches Signal aus. Solch ein Schritt seitens der Bundesregierung hat auch weit reichende Konsequenzen für Flüchtlinge in Jordanien, Syrien, im Libanon und anderen Staaten in der Region, wo der rechtliche Status dieser Flüchtlinge bestenfalls prekär genannt werden kann und wo die Gefahr extrem hoch ist, dass sie an der Grenze zurückgewiesen oder massenhaft abgeschoben werden.
Hochachtungsvoll
Bill Frelick
Direktor der Abteilung Flüchtlingspolitik
Holly Cartner
Direktorin der Abteilung Europa/Zentralasien