(Washington, DC, 6. Januar 2021) - Das „Remain in Mexico“-Programm der US-Regierung setzt Kinder und Erwachsene schwerem, andauerndem Leid aus, darunter Entführungen und Vergewaltigungen. Es sollte schnell und entschieden eingestellt werden, so Human Rights Watch. Der künftige US-Präsident Joe Biden sollte sein Wahlversprechen zügig einlösen und das seit zwei Jahren bestehende Programm beenden.
Der 103-seitige Bericht, „'Like I'm Drowning': Children and Families Sent to Harm by the US 'Remain in Mexico' Program” ist eine gemeinsame Untersuchung von Human Rights Watch, dem Human Rights in Trauma Mental Health Program der Stanford University und der Child and Family Advocacy Clinic der Willamette University. Die hierfür befragten Kinder und Erwachsenen beschrieben, dass sie im Rahmen des US Migrant Protection Protocols (MPP), bekannt als „Remain in Mexico“-Programm, sexuell missbraucht, entführt, erpresst, ausgeraubt oder Opfer anderer Straftaten wurden. In vielen Fällen ereigneten sich diese Verbrechen unmittelbar nachdem die US-Behörden die Betroffenen nach Mexiko geschickt hatten, wo sie auf die Anhörung vor dem US-Einwanderungsgericht zu ihrem Asylantrag warten sollten, oder als sie von einer solchen Anhörung zurückkehrten. Zeugen gaben an, mexikanische Einwanderungsbeamte oder Polizisten hätten einige dieser Verbrechen begangen.
„Das Programm hat Kinder und Erwachsene einem hohen, vorhersehbaren und völlig unnötigen Risiko von Gewalt und anderem Leid ausgesetzt“, sagte Michael Garcia Bochenek, leitender Kinderrechtsberater bei Human Rights Watch und Autor des Berichts. „Diesen Schaden wiedergutzumachen wird Zeit brauchen, aber die Biden-Regierung sollte den Betroffenen unverzüglich die Rückkehr in die Vereinigten Staaten erlauben, solange ihre Asylverfahren weiterlaufen.“
Das Untersuchungsteam befragte 52 Personen, die vom MPP betroffen waren. Das Team überprüfte zudem Fallakten, darunter Dokumente, die von der Zoll- und Grenzschutzbehörde und dem Einwanderungsgericht ausgestellt wurden und, soweit verfügbar, medizinische Aufzeichnungen und Polizeiberichte zu Vorfällen in Mexiko. Diese Dokumente liegen für die meisten der Befragten vor. Zudem sprach das Team mit mehr als 40 Anwälten, medizinischen Fachkräften, haupt- und ehrenamtlichen Mitarbeitern in Unterkünften und anderen, die mit Migrantenfamilien arbeiten.
Die US-Behörden haben im Rahmen des Programms mehr als 69.000 Asylbewerber in einige der gefährlichsten Städte Mexikos geschickt, auch Säuglinge und Kinder aller Altersgruppen, darunter einige mit Behinderungen.
Den Status besonders schutzbedürftiger Menschen zu erlangen und damit vom Programm ausgenommen zu werden, ist laut der Untersuchungsgruppe praktisch unmöglich. „US-Beamte gehen offenbar davon aus, dass man damit rechnen muss, entführt, vergewaltigt oder erpresst zu werden“, so ein Anwalt für Einwanderungsrecht.
Zehntausende Menschen, die sich sonst über die Vereinigten Staaten verteilt hätten, wurden im Rahmen des Programms in mexikanische Grenzstädte geschickt. Die nur begrenzt verfügbaren Unterkünfte, Gesundheitsdienste und Hilfsangebote wurden so an ihre Kapazitätsgrenzen gebracht. Die Notunterkünfte für Migranten in Ciudad Juárez, Tijuana und anderen Grenzstädten waren schnell überfüllt. Besonders dramatisch sind die Bedingungen in Matamoros, wo zwischen 1.000 und 2.600 Menschen oder mehr in Zelten mit unzureichendem Zugang zu sauberem Wasser oder angemessenen sanitären Anlagen leben.
In den beengten Unterkünften breiten sich Krankheiten schnell aus. Die befragten Personen schilderten ihre täglichen Bemühungen, einigermaßen hygienische Bedingungen für sich und ihre Kinder zu schaffen. Hautkrankheiten, Windpocken, Atemwegs- und Darminfektionen waren besonders verbreitet, sagten Gesundheitsbeamte und freiwillige Gesundheitshelfer.
Die Gewalt und das Leid in Mexiko wirken sich auf das psychische Wohlbefinden aus. Erwachsene und Kinder berichteten von starken Angstgefühlen, Stress oder einem Gefühl der Hoffnungslosigkeit, von Stimmungsschwankungen, dem Gefühl, ständig in Alarmbereitschaft zu sein, oder von Verhaltensänderungen. Eltern berichteten, dass ihre Kinder unter Albträumen litten, sich nachts einnässten, verhaltensauffällig oder trotzig wurden oder Schwierigkeiten hatten, mit anderen zu interagieren. „Jetzt ist er schnell irritiert, er ist reizbarer und wird leicht wütend“, sagte der Vater eines 5-Jährigen. „Der Junge hat sich komplett verändert.“
Je näher die Termine vor dem Einwanderungsgericht rückten, desto stärker reagierten die Kinder mit Panik, großer Angst und anderen Verhaltensänderungen. Die Eltern führten diese Reaktionen auf das zurück, was ihre Kinder während ihrer Zeit in den Zellen der Einwanderungsbehörde nach den Gerichtsterminen, oft während der Nacht, erlitten hatten. Die betroffenen Eltern sagten, dass sie sich gezwungen sahen, sich zwischen der Traumatisierung ihrer Kinder und verpassten Anhörungen vor dem Einwanderungsgericht zu entscheiden.
„Die ständig lauernde Gefahr, wiederholte Misshandlungen und Schikanen, fehlende Klarheit über Schutzmöglichkeiten und ein fehlender Zugang zu Hilfsangeboten erzeugen und verschlimmern das Trauma“, sagte Dr. Ryan Matlow, außerordentlicher Professor für Psychiatrie an der Stanford University School of Medicine und Mitglied des Untersuchungsteams. „Für viele Familien ist das Ergebnis eine schwere, akute Notlage mit möglichen psychologischen und gesundheitlichen Langzeitfolgen.“
Wiederholte Verschiebungen von Asylanhörungen seit März bedeuten, dass die meisten Menschen mindestens ein Jahr, in vielen Fällen sogar länger, in Mexiko verbringen werden, bevor die US-Einwanderungsgerichte ihre Fälle prüfen.
Das Programm wurde bereits juristisch angefochten. In einem Fall befand ein Bundesberufungsgericht in San Francisco im Februar, dass das Programm gegen Bundesrecht und internationale Verträge verstößt und „extremen und irreversiblen Schaden“ verursacht. Der Oberste Gerichtshof hat angekündigt, das Urteil noch in diesem Jahr zu prüfen.
Die Biden-Regierung sollte schnell handeln, um das Programm fair und geordnet zu beenden, so Human Rights Watch. Das Ministerium für Innere Sicherheit, das Justizministerium und das Außenministerium sollten Pläne entwickeln, damit sich die Betroffenen an einem US-Grenzübergang melden und wieder in die Vereinigten Staaten einreisen dürfen, bis über ihre Asylanträge entschieden wird.
Die US-Regierung sollte das Recht von Asylbewerbern auf eine faire und zeitnahe Anhörung sicherstellen, u.a. durch die Einrichtung eines angemessen ausgestatteten, unabhängigen Einwanderungsgerichtssystems und durch einen gerichtlich bestellten Rechtsbeistand für Asylbewerber, wenigstens für jene, die zu schutzbedürftigen Gruppen gehören.
„Das MPP wurde von US-Regierungsbeamten ausgearbeitet und umgesetzt, die wussten oder hätten wissen müssen, dass sie damit Kinder in Gefahr bringen“, sagte Warren Binford, Rechtsprofessor an der Willamette University und Mitglied des Untersuchungsteams. „Es wäre skrupellos von der Biden-Regierung, das Programm vor Gericht zu verteidigen.“