Nach dem Ausbruch des bewaffneten Konflikts in Tigray Ende 2020 hat die Europäische Union erklärt, dass der Kampf gegen Straflosigkeit ein zentrales Element einer erneuten Zusammenarbeit mit der äthiopischen Regierung sein würde. Ähnlich haben sich auch die einzelnen EU-Mitgliedstaaten geäußert. Während einer Reise nach Äthiopien im Januar 2023 sagte Bundesaußenministerin Annalena Baerbock, es sei wichtig, Menschenrechtsverletzungen anzugehen, um eine Aussöhnung zu ermöglichen.
Als die Kämpfe ihren Höhepunkt erreichten, half die EU, den Kampf gegen Straflosigkeit voranzutreiben. Sie war federführend bei der Einrichtung der Internationalen Kommission von Menschenrechtsexperten für Äthiopien, einer unabhängigen Untersuchungskommission, die Beweise für internationale Verbrechen sammelt und für die künftige Strafverfolgung im Rahmen des Menschenrechtsrats der Vereinten Nationen verwahrt.
Im September muss das Mandat der Kommission im Menschenrechtsrat verlängert werden. Bis jetzt ist noch offen, ob die EU und ihre Mitgliedstaaten weiterhin kritische Untersuchungen unterstützen werden. Oder ob sie stattdessen versuchen werden, die Beziehungen zu Äthiopien zu verbessern, und Äthiopiens Maßnahmen zur Rechenschaftspflicht akzeptieren. Diese sind jedoch kaum geeignet, den Opfern Zugang zu einer glaubwürdigen Justiz zu gewährleisten.
Der Konflikt in Äthiopien ist brutal. Die Konfliktparteien haben bereits gegen alle Regeln verstoßen und Massenmorde, sexualisierte Gewalt und gezielte Angriffe auf medizinische Einrichtungen verübt. Die äthiopische Regierung und ihre Verbündeten haben in Tigray Hunger als Kriegswaffe eingesetzt und war für ethnische Säuberung verantwortlich.
Trotz eines Waffenstillstandsabkommens Ende 2022 haben die eritreischen Streitkräfte, die Teile von Tigray kontrollieren, den Zugang für humanitäre Hilfen behindert, während die Amhara-Kräfte weiterhin ethnische Säuberungen von Tigrayer*innen in der West-Tigray-Zone durchführen.
In anderen Teilen von Äthiopien leidet immer noch hauptsächlich die Zivilbevölkerung unter den Feindseligkeiten. Seit April tragen Zivilisten die Hauptlast der Kämpfe in Amhara zwischen dem äthiopischen Militär und Amhara-Milizen. Die äthiopische Regierung hat dort kürzlich einen umfassenden Ausnahmezustand verhängt. In Oromia läuft seit 2019 eine menschenrechtsverletzende Kampagne zur Aufstandsbekämpfung gegen eine bewaffnete Gruppe.
Die Regierung hat sich Forderungen nach unabhängigen Untersuchungen der Gräueltaten während des Konflikts in Nordäthiopien vehement widersetzt und es versäumt, für Gerechtigkeit und Wiedergutmachung zu sorgen. Sie hat zudem wiederholt versucht, unabhängige Untersuchungen, einschließlich einer Untersuchung durch die Afrikanische Union, zu unterbinden, und hat die Berichterstattung über Menschenrechtsverletzungen rigoros kontrolliert, offenbar um ihre Streitkräfte und Verbündeten zu schützen.
Als sich Anfang 2021 die Berichte über Gräueltaten häuften, stimmte die Regierung schließlich einer Untersuchung zu, allerdings zu ihren Bedingungen. Sie akzeptierte eine gemeinsame Untersuchung durch das Büro des UN-Hochkommissars für Menschenrechte und die äthiopische Menschenrechtskommission. Als Reaktion auf den entsprechenden Bericht, der keine vollständige Aufarbeitung der Ereignisse ermöglichte, richtete die Regierung eine Task Force ein, welche die Maßnahmen zur Wiedergutmachung und Rechenschaftspflicht überwachen sollte. Die Task Force hat ihre Ergebnisse zu den Ereignissen in Tigray jedoch noch nicht veröffentlicht.
Fast drei Jahre nach dem Ausbruch des Konflikts in Nordäthiopien ist für die Opfer schwerster Übergriffe noch keine ernsthafte Rechenschaftspflicht in Sicht. Die Regierung hat wiederholt auf eine Handvoll Strafverfolgungen vor den Militärgerichten verwiesen, ohne konkrete Angaben zu den Angeklagten, zur Art der verhandelten Verbrechen oder zum Ausgang dieser Fälle zu machen.
Es ist wenig überraschend, dass die Regierung die Ermittlungen nicht ernsthaft weiterverfolgt hat. Keine der bisherigen äthiopischen Regierungen hat glaubwürdige Untersuchungen vergangener oder aktueller schwerer Menschenrechtsverletzungen zugelassen oder Maßnahmen ergriffen, die wichtige Elemente einer Übergangsjustiz gewährleisten würden.
Jüngst hat die aktuelle Regierung der äthiopischen Menschenrechtskommission und dem Büro des UN-Hochkommissars für Menschenrechte gestattet, Missstände in Nordäthiopien zu prüfen. Eine solche Prüfung kann jedoch nicht die Art von eingehender Untersuchung und Beweissicherung ersetzen, zu der ein internationaler Untersuchungsmechanismus verpflichtet ist.
Die Regierung weiß natürlich um diesen Unterschied. Sie hat mit allen Mitteln versucht, internationale Maßnahmen zu vereiteln und die Arbeit der internationalen Kommission zu unterminieren. So hat sie etwa den Ermittler*innen den Zugang zu den Konfliktgebieten verweigert. Zudem hat sie zweimal versucht, der Kommission das Geld zu streichen, und Lobbyarbeit betrieben, um ihr Mandat vorzeitig zu beenden.
Seit Anfang Januar verfolgt die Regierung den Kurs einer Übergangsjustiz, die den Schwerpunkt auf Versöhnung legt und die Strafverfolgung herunterspielt.
Einige Diplomat*innen der EU und der Mitgliedstaaten argumentieren, dass man der äthiopischen Regierung eine Chance geben sollte, ihre Bereitschaft zur Gewährleistung einer Übergangsjustiz unter Beweis zu stellen. Aber sie haben sich auch damit abgefunden, dass die Messlatte für die nationale Rechenschaftspflicht sehr niedrig liegt.
In ihren Schlussfolgerungen vom April 2023 über das künftige Engagement der EU in Äthiopien haben die EU-Außenminister*innen die mangelnden Fortschritte bei der nationalen Rechenschaftspflicht weitgehend ignoriert und es sogar versäumt, die äthiopische Regierung öffentlich zur Zusammenarbeit mit der Kommission aufzufordern.
Dennoch weiß die EU, dass es ohne tragfähige Beweise keine Gerechtigkeit für Kriegsverbrechen im Land oder auf internationaler Ebene geben wird. Da die Menschenrechtsverletzungen in Äthiopien weitergehen, ist es unwahrscheinlich, dass solche Beweise ohne kontinuierliche und unabhängige Untersuchungen gesammelt werden können, bei denen auch die verantwortlichen Akteure ermittelt werden, die zur Rechenschaft gezogen werden sollten.
Auf der Tagung des Menschenrechtsrats im September muss die EU eine Führungsrolle übernehmen, um die Unterstützung für eine sinnvolle Rechenschaftspflicht zu gewinnen, indem sie auf ein neues Mandat der internationalen Kommission drängt. Alles andere wäre ein Bruch der Verpflichtungen, welche die EU-Chef*innen auf höchster Ebene eingegangen sind, und würde die klare Botschaft vermitteln, dass die Forderungen der Opfer nach Gerechtigkeit nicht relevant sind.