- Die Türkei trägt die Verantwortung für schwere Übergriffe und mögliche Kriegsverbrechen durch ihre eigenen Truppen sowie von ihr unterstützte lokale bewaffnete Gruppen in den von der Türkei besetzten Gebieten Nordsyriens.
- Türkische Regierungsbeamte schauen bei Übergriffen nicht nur tatenlos zu, sondern tragen als Besatzungsmacht auch die Verantwortung. In einigen Fällen waren sie direkt an mutmaßlichlichen Kriegsverbrechen in der sogenannten „sicheren Zone“ beteiligt.
- Die Türkei ist verpflichtet, die öffentliche Ordnung und Sicherheit wiederherzustellen, die Bevölkerung zu schützen, die Verantwortlichen für die Übergriffe zur Rechenschaft zu ziehen, Entschädigung zu leisten und die Rechte von Grundbesitzer*innen und Rückkehrenden zu garantieren.
(Beirut, 29. Februar 2023) – Die Türkei trägt die Verantwortung für die schweren Übergriffe und möglichen Kriegsverbrechen, die Mitglieder ihrer eigenen Truppen und von ihr unterstützten lokalen bewaffneten Gruppen in den von der Türkei besetzten Gebieten in Nordsyrien begangen haben, so Human Rights Watch in einem heute veröffentlichten Bericht. Die Hauptleidtragenden der Übergriffe sind die in der Region lebenden Kurd*innen aufgrund ihrer vermeintlichen Verbindungen zu den kurdisch geführten Truppen, die weite Teile des Nordostens Syriens kontrollieren.
Der 74-seitige Bericht „Everything is by the Power of the Weapon: Abuses and Impunity in Turkish-Occupied Northern Syria“ (dt. etwa: Alles wird mit Waffengewalt durchgesetzt: Rechtsverletzungen und Straffreiheit im von der Türkei besetzten Nordsyrien) dokumentiert Entführungen, willkürliche Verhaftungen, unrechtmäßige Inhaftierungen, sexuelle Gewalt und Folter durch die verschiedenen Gruppierungen eines losen Bündnisses bewaffneter Gruppen – die von der Türkei unterstützte Syrische Nationalarmee (SNA) –, sowie durch die Militärpolizei, eine 2018 von der syrischen Übergangsregierung (SIG) und den türkischen Behörden eingerichtete Truppe, vorgeblich um Rechtsverletzungen einzudämmen. Human Rights Watch fand auch heraus, dass türkische Truppen und Geheimdienste an der Durchführung und Beaufsichtigung von Übergriffen beteiligt waren. Human Rights Watch hat außerdem Fälle dokumentiert, in denen Wohn-, Land- und Eigentumsrechte verletzt wurden. Dazu zählen zahlreiche Fälle von Plünderungen und Brandschatzungen sowie Erpressung und die illegale Aneignung von Eigentum. Maßnahmen zur Wiedergutmachung und Eindämmung der Rechtsverletzungen oder Entschädigungsleistungen für die Betroffenen sind unterdessen gescheitert.
„Die anhaltenden Rechtsverletzungen, einschließlich Folter und Verschwindenlassen von Menschen, die unter türkischer Kontrolle in Nordsyrien leben, werden erst dann aufhören, wenn die Türkei selbst Verantwortung übernimmt und handelt, um sie zu beenden“, sagte Adam Coogle, stellvertretender Direktor für den Nahen Osten bei Human Rights Watch. „Türkische Offizielle schauen bei Übergriffen nicht nur tatenlos zu, sondern tragen als Besatzungsmacht auch die Verantwortung dafür und waren in einigen Fällen direkt an mutmaßlichen Kriegsverbrechen beteiligt.“
Human Rights Watch befragte 58 ehemalige Häftlinge, Betroffene sexueller Gewalt, Angehörige und Zeug*innen von Übergriffen sowie Vertreter*innen von Nichtregierungsorganisationen, Journalist*innen, Aktivist*innen und Wissenschaftler*innen. Die Researcher*innen von Human Rights Watch sprachen auch mit einem Informanten, der direkt mit der Militärpolizei zusammenarbeitet, und mit einem Syrer, der früher Mitgliedern des türkischen Geheimdienstes nahestand, die zwischen Juli 2019 und Juni 2020 Einfluss auf das Handeln der verschiedenen Gruppen in Afrin hatten und deren Handeln beaufsichtigten, und der Syrien inzwischen verlassen hat.
Seit Beginn der türkischen Militäroffensive in Nordsyrien 2016 hält die Türkei die überwiegend arabische Region nördlich von Aleppo besetzt. Dazu zählen die Städte Azaz, al-Bab und Jarablus, das zuvor mehrheitlich kurdische Afrin und ein schmaler Landstreifen entlang Syriens Nordgrenze zwischen den ethnisch gemischen Städten Tel Abyad und Ras al-Ain.
Über ihre Streitkräfte und Nachrichtendienste übt die Türkei militärische Kontrolle über die Gebiete aus. Die Syrische Nationalarmee (SNA) steht de facto unter türkischem Kommando und erhält von der Türkei Waffen, Gehälter, Ausbildung und logistische Unterstützung. Über Gouvernements in den an Syrien angrenzenden türkischen Provinzen übt die Türkei auch administrative Kontrolle über die besetzten Gebiete aus.
Die türkische Regierung hat ihre Absicht erklärt, in den von ihr besetzten Gebieten „sichere Zonen“ einzurichten. Sie begründet das damit, dass die kurdisch geführten Kräfte in Nordostsyrien der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) angehören würden, die von der Türkei, den USA und der Europäischen Union als terroristische Vereinigung eingestuft wird und mit der die Türkei einen jahrzehntelangen Konflikt austrägt. Laut der türkischen Regierung sollen die „sicheren Zonen“ auch die Rückkehr syrischer Geflüchteter aus der Türkei erleichtern.
Die Türkei ist jedoch damit gescheitert, für die Sicherheit und das Wohlergehen der Zivilbevölkerung zu sorgen. Stattdessen ist das Leben der 1,4 Millionen Bewohner*innen der Region von Gesetzlosigkeit und Unsicherheit geprägt. „Alles wird mit Waffengewalt durchgesetzt“, sagte ein ehemaliger Bewohner, der knapp drei Jahre unter der Herrschaft der SNA lebte.
Die Militärpolizei sowie Gruppierungen der SNA haben unzählige Menschen willkürlich verhaftet und inhaftiert, verschwindengelassen, gefoltert und anderweitig misshandelt und unfairen Militärprozessen unterzogen, ohne dafür selbst zur Rechenschaft gezogen worden zu sein. Inhaftierte Kurdinnen berichteten über sexuelle Gewalt, einschließlich Vergewaltigung. Selbst Kinder im Alter von sechs Monaten wurden zusammen mit ihren Müttern inhaftiert.
In den Fällen, die Human Rights Watch, die UN-Untersuchungskommission und andere Menschenrechtsorganisationen dokumentiert haben, waren Kurd*innen die Hauptleidtragenden der Übergriffe. Doch auch Araber*innen und andere Personen, denen eine enge Verbindung zu den Demokratischen Kräften Syriens (SDF) nachgesagt wird, wurden zur Zielscheibe.
Einheiten der von der Türkei unterstützten Syrischen Nationalarmee und der Militärpolizei haben Menschen in Haftzentren misshandelt. Ehemalige Gefangene berichteten, dass dies zum Teil im Beisein türkischer Militär- und Geheimdienstbeamter geschah und dass türkische Offizielle manchmal sogar direkt beteiligt waren, als sie gefoltert und misshandelt wurden.
Human Rights Watch befragte 36 Personen, deren Wohn-, Land- und Eigentumsrechte verletzt wurden.
Seit der türkischen Militäroffensive „Olivenzweig“ auf Afrin im Jahr 2018 und der Operation „Friedensfrühling“ im Grenzstreifen zwischen den Städten Tel Abyad und Ras al-Ain im Jahr 2019 wurden Hunderttausende Menschen aus ihren Häusern vertrieben. Es kam zu zahlreichen Plünderungen, Brandschatzungen und der illegalen Aneignung von Eigentum durch SNA-Gruppen. Die Mehrheit der Betroffenen wurde weder angemessen entschädigt noch erhielt sie ihr Eigentum zurück. „Das Schlimmste für mich war, vor meinem Haus zu stehen und es nicht betreten zu können“, sagte ein vertriebener Jeside aus Ras al-Ain. Die Plünderungen, Brandschatzungen und illegalen Aneignungen von Eigentum gehen weiter. Diejenigen, die sich dagegen wehren, sind von willkürlicher Festnahme, Inhaftierung, Folter, Entführung und Verschwindenlassen bedroht.
Nach wie vor werden die Verantwortlichen für schwere Menschenrechtsverletzungen und mögliche Kriegsverbrechen in den von der Türkei besetzten Gebieten nicht belangt. Human Rights Watch hat vier Fälle untersucht, in denen hochrangige Beamte in schwere Menschenrechtsverletzungen verwickelt sein sollen. Keiner von ihnen wurde strafrechtlich verfolgt, und drei von ihnen bekleiden nach Angaben von Informant*innen derzeit hochrangige Positionen innerhalb der SNA.
Weder die Militärgerichte der SNA, die nicht unabhängig sind, noch die Türkei als Besatzungsmacht und wichtigster Unterstützer der SNA haben die schweren Verbrechen der Machthaber in den von der Türkei besetzten Gebieten angemessen aufgearbeitet. Human Rights Watch hat versucht, mit der Türkei zu dieser Angelegenheit in einen Dialog zu treten. In zwei E‑Mails an Außenminister Hakan Fidan (vom 21. November 2023 und vom 4. Januar 2024) teilte die Organisation detaillierte Rechercheergebnisse. Bisher gab es keine Reaktion darauf. Weitere Schreiben an das Verteidigungsministerium SIG vom 20. November 2023 sowie vom 8. Januar 2024, in denen Human Rights Watch unter anderem Informationen zu Gerichtsverfahren im Zusammenhang mit vier öffentlich gemeldeten Todesfällen in der Haft forderte, blieben ebenfalls unbeantwortet.
Die Türkei hat sicherzustellen, dass ihre Streitkräfte die internationalen Menschenrechte achten und das humanitäre Völkerrecht strikt einhalten. Dazu gehören die nach dem Völkerrecht definierten Pflichten als Besatzungsmacht und De-facto-Regierung in diesen Gebieten Nordsyriens, etwa die Wiederherstellung und Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit in den von ihr besetzten Gebieten, der Schutz der Zivilbevölkerung vor Gewalt, die strafrechtliche Verfolgung der für Übergriffe Verantwortlichen, Wiedergutmachung für alle Betroffenen schwerer Menschenrechtsverletzungen durch ihre Streitkräfte und von ihr kontrollierten lokalen Kräfte sowie die Durchsetzung der Rechte von Grundbesitzer*innen und Rückkehrenden, einschließlich Entschädigung für die illegale Aneignung und Nutzung ihres Eigentums und für alle entstandenen Schäden. Die Türkei und die syrische Übergangsregierung sollten unabhängigen Ermittlungsbehörden sofortigen und ungehinderten Zugang zu den von ihnen kontrollierten Gebieten gewähren.
„Die Besetzung von Teilen Nordsyriens durch die Türkei hat ein Klima der Gesetzlosigkeit, des Missbrauchs und der Straflosigkeit begünstigt. Das ist das Gegenteil einer ‚sicheren Zone‘“, sagte Coogle.