(Berlin, 12. April 2024) – Der deutsche Bundestag hat am 12. April 2024 ein wegweisendes Gesetz verabschiedet, das Transgender und nicht-binären Menschen erlaubt, ihre rechtlichen Dokumente durch ein auf der Selbstbestimmung basierendes Verwaltungsverfahren an ihre Geschlechtsidentität anzupassen, so Human Rights Watch heute. Das Gesetz wird voraussichtlich im August 2024 in Kraft treten.
Das neue Gesetz, auch bekannt als Selbstbestimmungsgesetz, ersetzt das veraltete Transsexuellengesetz aus dem Jahr 1980, das von Trans*Personen verlangt, einem Amtsgericht zwei „Experten“-Gutachten vorzulegen, die bescheinigen, dass die antragstellende Person „mit hoher Wahrscheinlichkeit“ nicht in ihr früheres rechtliches Geschlecht zurückkehren will. Das Bundesverfassungsgericht hatte zuvor bereits andere drakonische Aspekte des Gesetzes gekippt, darunter auch operative Eingriffe, die zur Anerkennung des Geschlechts erforderlich waren.
„Deutschland reiht sich hiermit in eine wachsende Liste von Ländern ein, die die pathologisierenden Anforderungen für eine Geschlechtsanerkennung abschaffen. Diese haben in einer vielfältigen und demokratischen Gesellschaft nichts zu suchen“, sagte Cristian González Cabrera, Senior LGBT Rights Researcher bei Human Rights Watch. „Während populistische Politiker*innen in Europa und darüber hinaus versuchen, die Rechte von Trans*Menschen als politisches Druckmittel zu missbrauchen, sendet Deutschlands neues Gesetz die klare Botschaft, dass Trans*Menschen existieren und Anerkennung und Schutz verdienen, ohne jegliche Diskriminierung.“
Mit dem neuen Gesetz können Trans*- und nicht-binäre Menschen zu einem Standesamt gehen und ihr Geschlecht und ihren Vornamen durch eine einfache Erklärung ändern lassen. Es werden keine „Experten“-Gutachten oder ärztliche Bescheinigungen benötigt. Die Antragsstellenden können zwischen mehreren Geschlechtsbezeichnungen wählen - männlich, weiblich oder „divers“ - oder sich dazu entscheiden, gar kein Geschlecht einzutragen.
Laut einem Bericht des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend aus dem Jahr 2017 gaben Antragsteller*innen im Rahmen des Transsexuellengesetzes an, dass sie, um die erforderlichen "Experten"-Gutachten zu erhalten, irrelevante Details aus ihrer Kindheit und ihrer sexuellen Vergangenheit preisgeben und sich sogar körperlichen Untersuchungen unterziehen mussten. Das Ministerium fand auch heraus, dass das dazugehörige gerichtliche Verfahren bis zu 20 Monate andauern und durchschnittlich 1.868 € kosten konnte.
Die Reform der Geschlechtsanerkennung kommt zu einem Zeitpunkt, an dem Lesben, Schwule, Bisexuelle und Transgender (LGBT) Aktivist*innen vor einem Anstieg der Anti-LGBT-Gewalt in Deutschland warnen. Der Bundesinnenminister teilte im Juni 2023 mit, dass die Polizei im vergangenen Jahr über 1.400 Hassverbrechen gegen LGBT-Menschen registriert hatte. In den letzten Jahren gab es mehrere Angriffe auf Pride-Veranstaltungen, von denen einer im Jahr 2022 zum gewaltsamen Tod eines Trans-Mannes führte.
Im Mai 2023 äußerte sich die Bundesbeauftragte für Menschenrechte besorgt über Rückschläge für LGBT-Rechte. Im Juni 2023 verpflichteten sich die Innenminister der Länder, die Prävention von Hassdelikten und Gewalt gegen LGBT Personen zu verstärken, u.a. durch Schulungen der Strafverfolgungsbehörden und die Einführung von Ansprechpartnern in Polizeidienststellen in ganz Deutschland.
Die Reform der gesetzlichen Geschlechtsanerkennung auf Grundlage der Selbstbestimmung wird Trans*Personen in Deutschland nicht per se vor Missbrauch und Diskriminierung schützen. Aber das neue Gesetz zeigt, dass die Regierung die Grundrechte von trans*- und nicht-binären Menschen unterstützt, was zu einem breiteren Verständnis und einer größeren Akzeptanz von verschiedenen Geschlechtsidentitäten beiträgt, so Human Rights Watch.
Immer mehr Länder haben die belastenden Anforderungen für eine rechtliche Geschlechtsanerkennung abgeschafft, einschließlich medizinischer oder psychologischer Gutachten. In Ländern wie Argentinien, Belgien, Dänemark, Irland, Luxemburg, Malta, Norwegen, Portugal, Spanien und Uruguay gibt es einfache Verwaltungsverfahren zur rechtlichen Anerkennung des Geschlechts auf Grundlage der Selbstbestimmung.
Die Tendenz zu solchen unkomplizierten Verwaltungsverfahren spiegelt den internationalen medizinischen Konsens und die Menschenrechtsstandards wider. Die World Professional Association for Transgender Health, ein interdisziplinärer Berufsverband mit Mitgliedern auf der ganzen Welt, hat festgestellt, dass medizinische und andere Hindernisse für die Geschlechtsanerkennung von Transgender-Menschen, einschließlich Diagnoseanforderungen, „der körperlichen und geistigen Gesundheit schaden können“. Die neueste Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme, das globale Diagnosehandbuch der Weltgesundheitsorganisation, entpathologisiert Transidentitäten offiziell.
Der Internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte (ICCPR), den auch Deutschland unterzeichnet hat, sieht gleiche bürgerliche und politische Rechte für alle vor, das Recht auf Anerkennung vor dem Gesetz und das Recht auf Privatsphäre. Der Menschenrechtsausschuss der Vereinten Nationen, der für die Auslegung des ICCPR zuständig ist, hat die Regierungen aufgefordert, die Rechte von Transgender-Personen zu gewährleisten, einschließlich des Rechts auf rechtliche Anerkennung ihres Geschlechts, und die Staaten aufgefordert, missbräuchliche und unverhältnismäßige Anforderungen für die rechtliche Anerkennung der Geschlechtsidentität aufzuheben.
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte entschied in der Sache Goodwin gegen das Vereinigte Königreich, dass der „Konflikt zwischen sozialer Realität und Gesetz“, der entsteht, wenn eine Regierung die Geschlechtsidentität einer Person nicht anerkennt, einen „gravierenden Eingriff in das Privatleben“ darstellt. Seitdem hat der Gerichtshof entschieden, dass zahlreiche missbräuchliche Auflagen zur Geschlechtsanerkennung, wie Sterilisationen und andere medizinische Eingriffe, die Menschenrechte von Trans*Personen verletzen.
Auch die LGBTIQ-Gleichstellungsstrategie der Europäischen Union (2020-2025) bekräftigt „eine auf Selbstbestimmung basierende und ohne Altersbeschränkung zugängliche rechtliche Geschlechtsanerkennung“ als Menschenrechtsstandard in der Europäischen Union.
Prinzip drei der Yogyakarta-Prinzipien zur Anwendung der internationalen Menschenrechtsgesetze in Bezug auf sexuelle Orientierung und Geschlechtsidentität bekräftigt, dass die selbstbestimmte Geschlechtsidentität eines jeden Menschen „integraler Bestandteil seiner Persönlichkeit und einer der grundlegendsten Aspekte von Selbstbestimmung, Würde und Freiheit ist“.
Als Mitglied der Equal Rights Coalition, des Global Equality Fund und der LGBTI Core Group der Vereinten Nationen spielt Deutschland eine Schlüsselrolle bei der Verteidigung von LGBT und intersexuellen Rechten auch über die eigenen Grenzen hinaus. Im März 2021 hat sich die Bundesregierung mit der LGBTI-Inklusionsstrategie dazu verpflichtet, noch mehr zu tun. Neben vielen anderen Zielen zielt sie darauf ab, Deutschlands Rolle bei der Förderung der Rechte von LGBTI-Menschen in internationalen und regionalen Menschenrechtsinstitutionen zu stärken.
„Mit dem neuen Selbstbestimmungsgesetz hat Deutschland einen Schandfleck in seiner Menschenrechtsbilanz beseitigt und sein Engagement für LGBT-Rechte im In- und Ausland gestärkt“, sagte González. „Nach dieser wichtigen Reform der rechtlichen Geschlechtsanerkennung sollten sich die deutschen Behörden weiterhin für die vollständige Gleichstellung einsetzen, um Gewalttaten gegen LGBT-Personen in Deutschland zu verhindern und Anti-LGBT-Gesetze im Ausland abzuwehren.“