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Türkei: Fortschritt der Menschenrechte entscheidend für EU-Kandidatur

Ankara muss auf dem Gebiet der Folter und der intern Vertriebenen handeln

(Brüssel, 4. Oktober 2004) In einer Einschätzung der Türkei über die Fortschritte im Hinblick auf die Erfüllung von Menschenrechtsstandards sagte Human Rights Watch heute, dass Pressefreiheit, Religionsfreiheit und Achtung von Minderheiten zwar noch weit vom Ideal entfernt seien, sich jedoch stetig verbesserten. Die türkische Regierung muss Maßnahmen ergreifen, um Folter auf Polizeistationen auszutilgen und hunderttausenden Kurden die Rückkehr in ihre Heimat, aus der sie in den 90iger Jahren flüchten mussten, erleichtern.

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Am 6. Oktober wird die Europäische Kommission ihren Bericht über die Fortschritte der Türkei hinsichtlich des EU-Beitritts, zusammen mit einer Empfehlung darüber, ob die Kandidatur des Landes auf die nächste Stufe gehoben werden soll oder nicht, veröffentlichen. Die türkische Regierung hofft, dass der Europäische Rat am 17. Dezember grünes Licht für den Beginn von Beitrittsverhandlungen geben wird.  
 
Neben einem generellen Rückgang der politischen Gewalt und einem starken Wachstum der Zivilgesellschaft treibt seit 1999 insbesondere die EU-Kandidatur der Türkei die Reformen an.  
 
"Die Türkei ist mit dem rechtlichen Schutz für Häftlinge bereits einigen EU-Mitglieder voraus," sagte Jonathan Sugden, Türkeiexperte für Human Rights Watch. "Der türkische Staat hat sich diesen Veränderungen zwei Jahrzehnte widersetzt, aber die jüngsten Ergebnisse haben internationale Anerkennung eingebracht."  
 
Gouverneure und Staatsanwälte haben sich auf regionaler Ebene jedoch noch nicht in die neue Handhabung der Meinungsfreiheit gefügt. So sind Kritik an staatlichen Behörden und offenes Kundtun von ethnischer Identität weiter von Verfolgung bedroht. Rundfunkübertragungen und Unterricht in Minderheitensprachen wie Kurdisch bleiben im Umfang sehr beschränkt. Fortschritte in jüngster Zeit stimmen aber zuversichtlich, dass die Türkei internationale Normen für diese Freiheiten im Laufe der nächsten Monate und Jahre erfüllen wird.  
 
Human Rights Watch sagte, dass ernste Bedenken in einigen Bereichen bestehen bleiben, und dass man sich diesen noch vor Dezember zuwenden sollte:  
 
• Rechtswidrige Haftstrafen wegen Ausübung des Rechts auf freie Meinungsäußerung. Gegenwärtig verbüßen drei Personen wegen der Äußerung ihrer Meinung mit gewaltfreiem Inhalt solche Haftstrafen. Human Rights Watch fordert ihre sofortige und bedingungslose Freilassung. Hakan Albayrak, ein Journalist der Milli Gazete, befindet sich im Kalecik Gefängnis in Ankara und verbüßt eine Haftstrafe von 15 Monaten, verhängt aufgrund von Gesetz Nr. 5816, das „Verbrechen gegen Atatürk“ zum Gegenstand hat. Er hatte gemeint, Atatürks Begräbnis sei nicht dem angemessenen Zeremoniell gefolgt.  
 
• Wiederholte Berichte über Misshandlungen in Polizeigewahrsam und einige Anschuldigungen wegen Folter (siehe Informationspapier: "Eradicating Torture in Turkey's Police Stations: Analysis and Recommendations" unter http://hrw.org/backgrounder/eca/turkey/2004/torture/).  
 
• Interne Vertreibungen, die seit einem Jahrzehnt oder mehr andauern. Das Verweigern einer Partnerschaft mit der UNO, um einen konkreten Plan zur Rückkehr der 380.000 Kurden, die im Konflikt mit der kurdischen Arbeiterpartei PKK zu Beginn der 90er von Sicherheitskräften gewaltsam aus ihren Häusern vertrieben wurden, zu schaffen. (siehe Informationspapier: "Last chance for Turkey's displaced?" unter http://hrw.org/backgrounder/eca/turkey/2004/10/).  
 
Die Aussicht auf einen EU-Beitritt ist ein entscheidender Katalysator für den Reformprozess, so Human Rights Watch. Integration in Europa, von vielen als die Verwirklichung der Ideale des Gründervaters der Republik, Mustafa Kemal Atatürk, angesehen, hat sich als eine zwingende Notwendigkeit erwiesen. Sie hat den Widerstand gegen Reformen überlagert, ebenso wie die monolithische Auffassung von der türkischen Gesellschaft, die den Staatsapparat lange auf Kosten von Menschenrechten dominiert hat.  
 
"Echte Aussichten auf eine EU-Mitgliedschaft kamen zu einer Zeit, als politische Gewalt zurückging und die Zivilgesellschaft wuchs. Das half, die letzten Reformen in der Türkei voranzutreiben", sagte Sugden. "Ein starker Ruck bei der Überwachung der Polizei und entscheidende Schritte zur Einbindung der internationalen Gemeinschaft bei den Bemühungen, Vertriebene in ihre Heimat zurückzuführen, werden die Türkei dorthin bringen, wo sie im Dezember stehen muss."