HUMAN RIGHTS
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Das NGO-Gesetz und die allgemeine Situation der Zivilgesellschaft in Russland
Zusammenfassung von Human Rights Watch
März 2007

Einleitung
Die Situation der russischen Zivilgesellschaft, eine der letzten Institutionen für unabhängige Meinungsäußerung im Land, hat sich in den vergangenen Jahren erheblich verschlechtert. Nichtregierungsorganisationen (NGOs), die sich mit Menschenrechtsfragen befassen, insbesondere den Verstößen in Tschetschenien, leiden schon lange unter der Einmischung der Behörden. Teilweise wird ihre Arbeit gänzlich unmöglich gemacht. Doch nach der Verabschiedung des neuen NGO-Gesetzes und Änderungen am sog. „Extremismus-Gesetz“ Anfang 2006 haben solche Eingriffe deutlich zugenommen. Die NGOs, ihre Mitarbeiter und zivilgesellschaftliche Einrichtungen insgesamt leiden unter immer aufwendigeren Verwaltungsvorgängen, Steuern, Eingriffen durch die Regierung, willkürlicher Strafverfolgung und im Extremfall Drohungen und Angriffen.

Das neue NGO-Gesetz, das Präsident Putin im Januar 2006 unterzeichnet hat und das drei Monate später in Kraft getreten ist, erlaubt es Beamten, sich massiv in die Arbeit solcher Gruppen einzumischen. Behörden dürfen bei Nichtregierungsorganisationen umfassende Kontrollen durchführen und ohne richterliche oder sonstige Überwachung Einsicht in beliebige Unterlagen verlangen. Zudem müssen NGOs umfassend Bericht über ihre Arbeit erstatten, insbesondere in Bezug auf ausländische Finanzquellen. Regierungsbeamten muss Zugang zu allen Veranstaltungen der Organisation gewährt werden.

Ausländische NGOs
Nach dem Gesetz müssen Büros ausländischer NGOs die Regierung über Projekte für das bevorstehende Jahr und deren Finanzierung informieren. Die russischen Behörden erhalten dadurch einen umfassenden Ermessensspielraum bei der Beurteilung, ob Vorhaben – oder auch nur Teile von NGO-Projekten - mit den nationalen Interessen Russlands vereinbar sind. Die gleiche Ermessensfreiheit können sie auch nutzen, um ausländischen NGOs die Umsetzung von Projekten zu untersagen, die nicht „dem Schutz des verfassungsmäßigen Systems, der Moral, der allgemeinen Gesundheit, des Rechts und der gesetzlichen Interessen anderer dienen und die Verteidigungsfähigkeit und nationale Sicherheit gewährleisten“. Wenn eine ausländische NGO ein nicht genehmigtes Vorhaben umsetzt, kann die Registrierungsbehörde das Büro der Organisation in Russland schließen. Ausländische NGOs müssen das Justizministerium vierteljährlich über ihre Planungen informieren, jedes geplante Projekt mindestens einen Monat vor seiner Umsetzung ankündigen und „wesentliche“ Änderungen an geplanten Aktivitäten mindestens zehn Tage im Voraus melden.

Das Gesetz verpflichtete ferner alle ausländischen NGOs, ihre Büros in Russland bis Mitte Oktober 2006 nochmals registrieren zu lassen. Alle Anträge mussten bis zum 18. Oktober 2006 in der staatlichen Datenbank eingetragen sein. Dutzende NGOs, auch solche, die ihre Anträge vor dem 18. Oktober eingereicht hatten, waren bis zu diesem Datum nicht registriert und mussten ihre Aktivitäten in Russland für Tage oder Wochen aussetzen, bis die Meldestelle ihre Papiere überprüft und sie offiziell neu registriert hatte.

Besonders eine Organisation hatte große Schwierigkeiten bei der Neuanmeldung. Die „Stiftung Russische Rechtsinitiative“ (SRRI), eine niederländische NGO, welche die Opfer von Menschenrechtsverletzungen in Tschetschenien pro bono vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte vertritt, musste ihre Arbeit aufgrund geringfügiger Fehler in ihren Unterlagen einstellen. Die SRRI hat jüngst mehrere Verurteilungen Russland durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte wegen schwerer Vergehen russischer Truppen während des Tschetschenien-Kriegs erwirkt. Die Organisation wurde schließlich am 27. Februar 2007 neu registriert.

Die russische Regierung macht keinen Hehl daraus, dass sie ausländische NGOs und Hilfsorganisationen verdächtigt, ihre Macht zu unterminieren. Mitte Dezember 2006 erklärte der Chef des nationalen Geheimdienstes FSB, dass Mitarbeiter vieler Nichtregierungsorganisationen Spione anderer Länder seien. Er kritisierte insbesondere den Dänischen Flüchtlingsrat, die wichtigste Hilfsorganisation im Nordkaukasus, und warf ihm Spionage vor.

Russische NGOs
Die Arbeitsbedingungen für russische NGOs haben sich ebenfalls erheblich verschlechtert. Verbale Angriffe auf diese Gruppen durch regionale und nationale Regierungsbeamte häufen sich. Anfang 2006 versuchte der staatliche Fernsehsender Rossiia, mehreren russischen Menschenrechtsorganisationen eine Verwicklung in einen internationalen Spionageskandal anzuhängen. In einer Rede beim FSB im Februar 2006 rief Präsident Putin zur Wachsamkeit gegenüber Nichtregierungsorganisationen auf und bezeichnete sie explizit als Mittel ausländischer Regierungen, sich in interne russische Angelegenheiten einzumischen. Auf der Münchener Sicherheitskonferenz im Februar diesen Jahres attackierte Putin die NGOs wiederum als „Instrumente fremder Länder“, die „deren Russlandpolitik umsetzten“ und Möglichkeiten zur „heimlichen Finanzierung“ von Wahlkampagnen schafften.

In einigen Provinzen haben die Behörden mit Hilfe von Gesetzen gegen Extremismus NGOs verboten; in anderen schikanierten sie unbequeme Gruppierungen durch die selektive Anwendung von Registrierungsformalitäten und Überprüfungen.

Im Februar 2006 verurteilte ein Strafgericht in Nizhny Nowgorod Stanislaw Dmitriewsky, den Vorsitzenden der Gesellschaft für Russisch-Tschetschenische Freundschaft (RCFS), wegen der „Anstiftung zu Rassenhass“ zu zwei Jahren Haft auf Bewährung. Dmitriewsky hatte in der Zeitung der Organisation Artikel veröffentlicht, in denen er Aussagen tschetschenischer Separatisten wörtlich zitiert hatte. Im Oktober ordnete ein Gericht die Schließung der Organisation an. Sie habe Dmitriewskys Verstoß unterstützt, indem sie sich nicht innerhalb von fünf Tagen von ihm distanziert habe. Ende Januar bestätigte der Oberste Russische Gerichtshof das Verbot. Die Europäische Union reagierte in einer öffentlichen Erklärung darauf und brachte ihre Besorgnis darüber zum Ausdruck, dass das NGO-Gesetz und das Gesetz gegen Extremismus „willkürlich eingesetzt werden können”.

In einem weiteren Fall, ebenfalls Anfang 2006, zog das russische Justizministerium vor Gericht, um das Russische Forschungszentrums für Menschenrechte zu schließen, eine Dachorganisation von zwölf russischen Menschenrechtsgruppen, darunter die Moskauer Helsinki Gruppe und das Komitee der Soldatenmütter. Das Ministerium behauptete, die Gruppe habe es versäumt, Berichte über ihre Arbeit in den letzten fünf Jahren einzureichen. Die Organisation wies diese Anschuldigung zurück. Das Zentrum hat immer noch Schwierigkeiten mit den Behörden im Zusammenhang mit seinen Büroräumen, angeblich aus technischen Gründen. Gegen die Moskauer Helsinki Gruppe läuft unterdessen eine Untersuchung wegen „der Legalität ihrer Finanzierung”.

Das „Internationale Zentrum für Rechtshilfe“ (IDAC), eine russische Organisation, die Opfer vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte vertritt, erhielt eine Aufforderung zur Nachzahlung von Steuern und Strafen in Höhe von US$167.000 . Nach russischem Steuerrecht muss Geld für Lehr-, Wissenschafts- und Forschungszwecke nicht versteuert werden. Wenn die Regierung den Gesetzestext umsetzt, muss das Zentrum schließen, das derzeit etwa 250 Fälle vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte betreut.

Die Nichtregierungsorganisation „Staatsbürgerliches Hilfskomitee”, die über jahrelange Erfahrung in der Flüchtlingsarbeit verfügt, ist kürzlich ins Visier strafrechtlicher Ermittlungen gekommen. Ein Parlamentsabgeordneter hat die Gruppe beschuldigt „kriminelle ethnische Gruppen“ zu schützen. Obwohl letztendlich kein Anklagepunkt aufrechterhalten werden konnte, wurde eine Abmahnung gegen die Gruppe ausgesprochen.

Ende Februar forderten Ermittler die größte russische Menschenrechtsorganisation „Memorial“ auf, Informationen über die Finanzierung ihres Handbuchs offen zu legen. In der Publikation wird erläutert, wie Klagen beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte eingereicht werden können.

Forderungen an die Internationale Gemeinschaft
Die Internationale Gemeinschaft soll jede Gelegenheit nutzen, um ihre Besorgnis über das NGO-Gesetz und über die schwierige Lage der Zivilgesellschaft in Russland auszudrücken. Sie soll ihren Unmut sowohl über das Gesetz an sich also auch über seine Umsetzung äußern.

Irreführende Erklärungen von russischen Offiziellen, wonach die neuerlichen Einschränkungen für ausländische und russische NGOs in demokratischen Gesellschaften üblich sind, dürfen nicht widerspruchslos hingenommen werden. Das russische Außenministerium betont zwar, das NGO-Gesetz unterscheide sich nicht wesentlich von den Bestimmungen in den USA, Israel und einigen europäischen Staaten. Doch eine Studie des „International Center for Not-for-Profit Law“ (ICNL) ergab, dass sich das russische Gesetz in seinen restriktivsten Bestimmungen von den Gesetzen in diesen Staaten unterscheidet. Der Ermessensspielraum, den das neue russische NGO-Gesetz zulässt, widerspricht Russlands Verpflichtung nach Artikel 11 der Europäischen Menschenrechtskonvention, die Versammlungs- und Koalitionsfreiheit zu schützen. Er geht weit über die europäischen Standards zur staatlichen Überwachung von Nichtregierungsorganisationen hinaus, die sich auf jährliche Berichte und die Kontrolle der Bilanzen beschränken.

Was die Implementierung des Gesetzes betrifft, so könnte ein weiteres Abwarten und Beobachten nachhaltige negative Auswirkungen auf die Zivilgesellschaft in Russland haben. Das NGO-Gesetz ist der vorläufige Höhepunkt einer mehrere Jahre andauernden Entwicklung, durch die die Arbeitsbedingungen für NGOs immer schlechter wurden. Die oben beschriebene Problematik zeigt die Absicht der Behörden, mit Hilfe des Gesetzes unabhängige kritische Stimmen zu unterdrücken. Es müssen jetzt dringend Maßnahmen ergriffen werden, um weitere Eingriffe gegen NGOs und deren Schließung zu verhindern.

Die russische Regierung soll aufgefordert werden, in der Gesetzgebung seine Verpflichtungen gegenüber Europa und der Welt zu erfüllen und die Zivilgesellschaft zu schützen, indem sie das Recht auf Versammlungs-, Koalitions- und Pressefreiheit sowie den Schutz der Privatsphäre gewährleistet. An die russische Regierung sollen folgende Forderungen gestellt werden:

  • Die Artikel in dem Gesetz, die massive Eingriffe in die Arbeit von NGOs ermöglichen, sollen widerrufen werden. Dazu gehört das Recht für Beamte, Inspektionen anzuordnen, jederzeit an allen Veranstaltungen teilnehmen zu dürfen sowie die Verpflichtung für internationale Gruppen, die Regierung im Voraus über ihre Projekte zu informieren.
  • Gesetzeswidriges Vorgehen, Belästigungen und Einschüchterungen gegenüber NGOs und ihren Mitarbeitern sollen beendet werden.
  • Extremismus-Gesetze sollen nicht dazu missbraucht werden, um die friedliche Äußerung von Kritik oder religiöser Gedanken zu verhindern oder einzuschränken. Die RCFS soll rehabilitiert und die Klage gegen Stanislav Dmitriewsy aufgehoben werden.
  • Die Arbeit von NGOs soll öffentlich unterstützt und ihre Bedeutung für eine demokratische Gesellschaft hervorgehoben werden.
  • Dem UN-Sonderbeauftragten für Menschenrechtsverteidiger soll die Einreise nach Russland gestattet werden.
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