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A woman at a food distribution center next to two strollers

„Es zerreißt einen“

Armut und Geschlecht im deutschen Sozialstaat

Eine Frau holt Lebensmittel bei einer der Berliner Tafeln, Kinder schauen aus ihrem Kinderwagen zu, 3. Juli 2023 © 2023 Carsten Koall/picture-alliance/dpa/AP Images


 

Zusammenfassung

Ich kann es mir nicht leisten, meine Kinder gesund zu ernähren. Es ist ein bitteres Gefühl, wenn man am Ende des Monats nur noch Brot und Butter hat ... Es zerreißt einen. Ich habe das Gefühl, ich kann niemandem gerecht werden, nicht den Kindern, nicht dem Haushalt, nicht dem Leben insgesamt und schon gar nicht mir selbst.


— Lisbeth C., eine 43-jährige berufstätige, alleinerziehende Mutter von drei Söhnen, die in einer kleinen Stadt in Sachsen lebt, 10. Februar 2023[1]

Ich bin Rentnerin, die Unterstützung durch den Staat reicht einfach nicht aus. Das Leben ist teuer. Zu Hause lege ich mich unter eine Decke und trinke Tee, Kaffee oder Suppe, um mich warm zu halten. Viel mehr kann ich nicht tun.


— Sieglinde A., eine 71-jährige Frau, die in einer Stadt in Nordrhein-Westfalen lebt, 10. Mai 2023[2]

Deutschland ist die drittgrößte Volkswirtschaft der Welt und war wohl der erste moderne Wohlfahrtsstaat. Dennoch sind die Armutsquoten in den letzten zwei Jahrzehnten erheblich gestiegen. Laut der jüngsten offiziellen Daten lebt jede*r siebte Einwohner*in (14,4 Prozent der Bevölkerung - etwa 12,1 Millionen Menschen) in monetärer Armut, d.h. mit einem Lebensstandard unterhalb der Armutsgrenze.[3] Immer mehr Menschen haben nicht die finanziellen Mittel, um sich lebenswichtige Dinge wie Nahrungsmittel für eine gesunde Ernährung zu leisten und ihre Wohnung zu heizen, geschweige denn notwendige Gesundheitsausgaben aus eigener Tasche zu bezahlen. Ein zentraler Grund dafür ist die 2005 begonnene, umfassende Umstrukturierung des sozialen Sicherungssystems und das damit verbundene Wachstum des Niedriglohnsektors. Das soziale Sicherungssystem nach 2005 bot ein mageres Arbeitslosengeld, bekannt als „Hartz IV“. Dieses wurde Ende 2022 durch das Bürgergeld ersetzt, das nur bedingt besser ist. Um das Problem der Niedriglöhne anzugehen, bietet das staatliche Sozialsicherungssystem eine Reihe von Programmen für Geringverdiener*innen, um ihr Einkommen aufzustocken. Diese Programme reichen jedoch selbst in Kombination oft nicht aus, um ein ausreichendes Einkommen zu erzielen. Das wirkt sich besonders negativ auf Alleinerziehende, Kinder und Menschen ab 65 Jahren aus, insbesondere auf Frauen. Die niedrigeren Löhne von Frauen und die manchmal notwendigen Unterbrechungen der Erwerbstätigkeit, häufig zur Kindererziehung oder Pflege, führen dazu, dass sie während ihrer Arbeitsjahre weniger in die Rentenversicherung einzahlen und ältere Frauen infolgedessen überproportional von Armut betroffen sind.

Die Situation hat sich in den letzten Jahren verschärft, da die rasante Inflation in den Jahren 2022 und 2023 einen Höhepunkt erreicht hat. Diese trifft einkommensschwache Haushalte in Deutschland besonders hart, trotz der begrüßenswerten Pläne der aktuellen Bundesregierung, zentrale Aspekte der sozialen Sicherung zu reformieren und zu verbessern und wichtige Ad-hoc-Maßnahmen zur Unterstützung der Menschen bei Energie- und Transportkosten während der Lebenshaltungskostenkrise zu ergreifen. Von Armut besonders betroffen sind Haushalte von Alleinerziehenden und Menschen ab 65 Jahren (wobei Frauen in beiden Fällen besonders gefährdet sind), was unverhältnismäßige Folgen für ihre Fähigkeit hat, ihre Rechte zu sichern und wahrzunehmen. Trotz seiner beträchtlichen Ressourcen und trotz der Bemühungen um Verbesserungen erweist sich das deutsche Sozialsicherungssystem - und die Höhe der finanziellen Leistungen, die es bietet - als unzureichend, um den Menschen, insbesondere den genannten Gruppen, einen angemessenen Lebensstandard zu sichern.

Der vorliegende Bericht basiert auf Interviews mit direkt Betroffenen, einer Analyse verfügbarer Daten und offizieller Statistiken, einem Vergleich der Einkommen aus Sozialleistungen mit der offiziellen monetären Armutsgrenze und einer Überprüfung von Sekundärquellen. Er dokumentiert die Unzulänglichkeit des deutschen Sozialsystems und die negativen Auswirkungen auf die Menschenrechte von Alleinerziehenden, von Frauen geführten Haushalten und älteren Menschen, auch hier vor allem Frauen. Der Bericht dokumentiert zudem die bisweilen belastenden und übermäßig formalen Dokumentationsanforderungen, Anspruchskriterien und Verfahren für den Zugang zu Sozialleistungen, bewertet die Bemühungen der Regierung, ein neues Bürgergeld einzuführen, welches das frühere Arbeitslosengeld II ersetzt, und eine universelle Kindergrundsicherung gesetzlich zu verankern. Zudem untersucht der Bericht die strukturellen Faktoren, welche die geschlechtsspezifische Armut in Deutschland verschärfen.

***

Offizielle Daten der Bundesregierung zeigen, dass jedes fünfte Kind in Deutschland „von Armut oder sozialer Ausgrenzung bedroht“ ist. Mehr als zwei von fünf Alleinerziehenden-Haushalten in Deutschland werden von der Regierung derzeit als „armutsgefährdet oder von sozialer Ausgrenzung bedroht“ eingestuft. Zu diesen Haushalten mit Kindern gehören Haushalte mit Alleinerziehenden, die mehr als einen Job haben, Eltern, die arbeitslos sind, Selbstständige, die verschiedene Arten von beitragsunabhängigen Sozialleistungen erhalten, deren Zugang oft kompliziert ist, die aber trotzdem nicht genug haben, um am Monatsende über die Runden zu kommen. Frauen sind in Haushalten von Alleinerziehenden und in Niedriglohnjobs überrepräsentiert. Aufgrund langjähriger struktureller Faktoren - darunter fehlende ganztägige Schul- und Betreuungsangebote in einigen Bundesländern und ein fehlendes standarisiertes Angebot kostenloser Mittagessen - sowie aufgrund bestehender Geschlechterstereotypen in Bezug auf die Erziehungs- und Betreuungsaufgaben, sind viele alleinerziehende Mütter entweder nicht in der Lage zu arbeiten oder auf eine schlecht bezahlte Teilzeitarbeit beschränkt. Viele der von uns befragten alleinerziehenden Mütter berichteten, dass sie Hunger leiden oder Lebensmittel oder das Heizen rationieren, um ihre Kinder zu ernähren und warm zu halten. Bei Haushalten von Alleinerziehenden, deren einziges Einkommen das Bürgergeld ist, liegt die Summe ihrer Sozialleistungen nach Wohnkosten zwischen 26 und 51 Prozent unter der Armutsgrenze.

In den letzten zwei Jahrzehnten hat die Armut unter Menschen ab 65 Jahren weiter zugenommen, da die Kosten für viele lebenswichtige Güter und Dienstleistungen, deren Zugang Deutschland im Rahmen seiner Menschenrechtsverpflichtungen garantiert, für viele ältere Menschen und insbesondere für diejenigen, die eine niedrige Rente beziehen, zunehmend unerschwinglich geworden sind. Nach Schätzungen der Bundesregierung ist etwa jeder sechste (etwas mehr als 18 Prozent) Mensch im Alter ab 65 Jahren „von Armut oder sozialer Ausgrenzung bedroht“, wobei ältere Frauen stärker gefährdet sind als Männer. Ältere Menschen, die mit einem geringen Einkommen leben, beschrieben erhebliche Schwierigkeiten und mussten schwierige Entscheidungen treffen. So mussten sie abwägen, ob sie Lebensmittel kaufen, ihre Wohnung heizen, ihre Zahnarztrechnungen, Brillen oder orthopädischen Hilfsmittel zahlen sollten. Unerwartete Kosten wie für etwaige Reparaturen im Haushalt kommen hier erschwerend hinzu. Der Bericht zeigt auf, dass Rentenzuschüsse selbst in Verbindung mit anderen Formen der Unterstützung für Wohn- und Heizkosten dazu führen kann, dass ältere Menschen weit unter der offiziellen monetären Armutsgrenze bleiben.

Die „Gender Pension Gap“, zu dt. das „geschlechtsspezifische Rentengefälle“ - ein Begriff, der die strukturellen Auswirkungen von Faktoren wie niedrigeren Löhnen, Unterbrechungen der beruflichen Laufbahn, Erziehungs- und Betreuungsaufgaben und einer erhöhten Wahrscheinlichkeit von Teilzeitarbeit aufgrund von Geschlechterstereotypen und -rollen beschreibt - führt dazu, dass viele ältere Frauen Renten beziehen, deren Höhe deutlich unter der monetären Armutsgrenze von 1.168 Euro pro Monat für eine*n alleinstehende*n Erwachsene*n liegt. Offizielle Daten zeigen, dass die monatlichen Rentenzahlungen für 38,2 Prozent der Frauen im Alter von 65 Jahren und älter ein Einkommen von weniger als 1.000 Euro pro Monat bedeuten, verglichen mit 14,7 Prozent der Männer derselben Altersgruppe.

Der Umbau der sozialen Sicherungssysteme und des Arbeitsmarktes im Rahmen der „Hartz-Reformen“ ab 2003 steht in direktem Zusammenhang mit dem Anstieg der Armut. Insbesondere das Arbeitslosengeld II (ALG II, ugs. „Hartz IV“), das von 2005 bis Ende 2022 galt, bot eine zunehmend unzureichende Unterstützung durch die soziale Sicherung und war an strenge Auflagen geknüpft, die den Zugang beschränkten. Durch die Verkürzung der Bezugsdauer von Arbeitslosengeld und die Verpflichtung, jede „zumutbare“ Arbeit anzunehmen, förderten die Hartz-Reformen das rasche Wachstum einer Niedriglohnwirtschaft, die auf Teilzeitarbeit, sog. Minijobs und Midijobs basierte, also auf befristeten Arbeitsverhältnissen, die reduzierte oder gar keine Sozialversicherungs- und Steuerbeiträge vorsehen. Frauen sind in diesen Niedriglohn- und Teilzeitjobs überrepräsentiert. Die Beantragung kinderbezogener Leistungen für einkommensschwache Haushalte mit Kindern kann komplex und zeitaufwändig sein. Zudem können Anträge abgelehnt werden, wenn sie nicht in der richtigen Reihenfolge gestellt werden.

Die Unzulänglichkeiten des deutschen Sozialsicherungssystems spiegeln sich auch in der wachsenden Ernährungsunsicherheit wider. Die wichtigste Hilfsorganisation für Lebensmittel in Deutschland, die Tafel, schätzt, dass die Zahl der Menschen, die ihre Hilfe in Anspruch nehmen, von 1,5 Millionen Menschen im Jahr 2014 auf mehr als 2 Millionen im Jahr 2022 gestiegen ist.[4] Viele ältere Menschen, die eine geringe Rente beziehen, und einkommensschwache Haushalte mit Alleinerziehenden haben keine andere Wahl, als sich an die Tafeln und andere Wohltätigkeitsorganisationen für Unterstützung zu wenden. Die von Human Rights Watch befragten Helfer*innen der Tafeln sind sich zunehmend einig, dass Menschen, die Sozialleistungen beziehen, zusätzlich Nahrungsmittelhilfe benötigen. Marcus Wergin, Koordinator der Lebensmittelausgabe der Petruskirche in Schwerin (Mecklenburg-Vorpommern), erklärte, als sich rund 200 Menschen zu einer regelmäßigen Abholung von Lebensmittelpaketen versammelten:

Die wachsende Zahl von Menschen, die sich jetzt an uns wenden, tut dies aus verschiedenen Gründen - die Lebenshaltungskosten sind gestiegen, die Heizkosten ebenso, die Lebensmittelpreise sind in die Höhe geschnellt (in einigen Fällen haben sie sich verdoppelt, wenn nicht noch mehr). Deshalb kommen die Menschen zu den Tafeln ... Hier geht es um Menschenrechte - um ein erfülltes Leben führen zu können, braucht man eine Grundsicherung ... Die Hilfe, die wir hier leisten, ist nichts Großartiges. Sie ist kein Luxus.[5]

Im Dezember 2021 trat die sog. Ampelkoalition, gebildet aus der SPD, Bündnis 90/Die Grünen und der FDP, in die Regierung ein und versprach bedeutende Änderungen am Sozialsicherungssystem, das von den vorherigen Regierungen seit 2005 entwickelt worden war. Die Ampelkoalition plante, das „Hartz IV“-Arbeitslosengeld durch eine neu gestaltete Arbeitslosenunterstützung zu ersetzen, die sie „Bürgergeld“ nannte und die trotz des Namens nicht nur deutschen Bürger*innen zur Verfügung steht, sondern allen, die ihren Wohnsitz und Lebensmittelpunkt in Deutschland haben. Diese Form der Unterstützung sollte sowohl großzügiger ausfallen als ihr Vorgänger als auch weniger streng bezüglich der Bedingungen für den Erhalt dieser Unterstützung sein. Die Regierung versprach zudem, die kinderbezogenen Sozialsicherungsprogramme zu vereinheitlichen und eine neue universelle Kindergrundsicherung mit einer höheren finanziellen Unterstützung als das bislang bestehende Kindergeld einzuführen.

Doch gerade als die wirtschaftlichen Folgen der Covid-19-Pandemie nachließen und die neue Regierung Ende 2021 ihr Amt antrat, kam es in Deutschland zu einem besonders starken Preisanstieg bei vielen Grundnahrungsmitteln, der zum Teil auf den russischen Einmarsch in der Ukraine im Februar 2022 zurückzuführen war. Ende 2022 waren die Kosten für Lebensmittel im Vergleich zum Vorjahr um mehr als 20 Prozent gestiegen. Die Energiepreise hatten sich um fast 35 Prozent erhöht.

Während immer mehr Menschen Schwierigkeiten hatten, sich lebensnotwendige Dinge zu leisten, blieben die von der Regierung versprochenen Verbesserungen des Sozialsystems entweder ganz aus oder fielen hinter den Erwartungen zurück - insbesondere aufgrund politischer Querelen innerhalb der Koalition. Das neue Bürgergeld, welches das Arbeitslosengeld II „Hartz IV“ ersetzen und verbessern sollte, wurde in seinen Ambitionen zurückgeschraubt. Auf eine deutliche Erhöhung der Sozialleistungen um 12,1 Prozent zu Beginn des Jahres 2024 ist ein Einfrieren der Leistungsniveaus im Jahr 2025 gefolgt. Die Regierung hat wieder Sanktionen eingeführt, die die Aussetzung von Zahlungen bei Nichterfüllung bestimmter Kriterien und Auflagen für Bezieher*innen von Bürgergeld beinhalten, und es wurde ein vielversprechendes Programm, das eine Bonuszahlung für Arbeitssuchende vorsah, die eine berufliche Weiterbildung absolvieren, gekürzt. Die jährlichen Erhöhungen der Rentenzahlungen hielten nicht mit der Preisinflation Schritt, was bedeutet, dass die Renteneinkommen älterer Menschen insgesamt geringer ausfielen. Zudem wurde augenscheinlich wenig getan, um das geschlechtsspezifische Rentengefälle abzubauen.

Anfang 2025 waren die Fortschritte bei der neuen Kindergrundsicherung in den letzten Tagen der scheidenden Regierung fast völlig zum Stillstand gekommen.

Zum Zeitpunkt der Abfassung dieses Berichts ist das Schicksal der bescheidenen Verbesserungen bei der Arbeitslosenunterstützung, die teilweise von der Regierung, die sie selbst eingeführt hatte, wieder eingeschränkt wurden, sowie das der Pläne zur Verbesserung der kinderbezogenen Sozialleistungen ungewiss. Ihre Zukunft hängt nun von der Vereinbarung der Parteien ab, die nach den Bundestagswahlen im Februar 2025 eine neue Regierungskoalition bilden werden.

Deutschland ist durch europäische und internationale Menschenrechtsverträge verpflichtet, alle wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte zu achten, zu schützen und zu verwirklichen, einschließlich der für diesen Bericht besonders relevanten Rechte auf soziale Sicherheit und einen angemessenen Lebensstandard.

Internationale Menschenrechtsnormen, Verträge und damit zusammenhängende Leitlinien zur sozialen Sicherheit enthalten Anforderungen an die Angemessenheit von Leistungen. Das deutsche Grundgesetz beschreibt Deutschland als „sozialen Bundesstaat“. Das deutsche Bundesverfassungsgericht hat in den letzten 15 Jahren auch eine Rechtsprechung zum Existenzminimum entwickelt, d.h. zu dem, was für für ein menschenwürdiges Leben zwingend notwendig ist. Dieses Existenzminimum verpflichtet den Staat, dafür zu sorgen, dass jedem Menschen, der steuerpflichtig ist, nach Erfüllung dieser steuerlichen Pflichten zumindest so viel von seinem Einkommen verbleibt, dass er seinen „grundlegenden Lebensunterhalt“ und den seiner Familie einschließlich Wohnung, Nahrung, Kleidung, Hygiene und Gesundheit bestreiten kann, und ein Mindestmaß an Teilhabe am sozialen, kulturellen und politischen Leben möglich ist. Diese beiden Teile - die Deckung der materiellen Bedürfnisse und die Gewährleistung eines Mindestmaßes an Teilhabe - sind laut dem Bundesverfassungsgericht untrennbar miteinander verbunden.

Trotz der beträchtlichen öffentlichen Ausgaben für die soziale Sicherheit und der Bemühungen um gesetzliche Verbesserungen entspricht das deutsche Sozialsicherungssystem derzeit weder den internationalen Menschenrechten noch den nationalen Standards, da es vielen einkommensschwachen Haushalten in Deutschland keine angemessene Unterstützung garantiert, damit diese ihre sozialen und wirtschaftlichen Rechte, einschließlich eines angemessenen Lebensstandards, wahrnehmen können. Dies wirkt sich besonders negativ auf von alleinerziehenden Frauen geführte Haushalte und ältere Frauen aus, die Altersrenten beziehen.

Der deutsche Staat hat - auf allen Ebenen - die Pflicht, sicherzustellen, dass ihr System der sozialen Sicherung den Menschenrechtsstandards entspricht. In dem Maße, in dem der Bund Zuständigkeiten an Länder und Kommunen überträgt (z.B. in Bezug auf die Bereitstellung von Schulspeisungen oder subventionierten öffentlichen Verkehrsmitteln,) teilen beide Regierungsebenen diese Verpflichtung. Die Bundesregierung sollte den Informationsaustausch koordinieren, die Entwicklung geeigneter Prozesse fördern und die Bemühungen der Länder und Kommunen zur Verbesserung des Schutzes der wirtschaftlichen und sozialen Rechte unterstützen.

Sobald die neue Bundesregierung gebildet ist, sollte sie in einem offenen und partizipativen Prozess, der die von Armut betroffenen Menschen einbezieht, klären, was das Prinzip des Existenzminimums für die Leistungen der sozialen Sicherung bedeutet, und sicherstellen, dass alle entsprechenden Programme ausreichend sind, um zu gewährleisten, dass die entsprechenden Empfänger*innen ihre Menschenrechte wahrnehmen können. Die Regierung sollte Sanktionsmaßnahmen aufheben, mittels derer Bürgergeldzahlungen bei Nichterfüllung von Kriterien wie der Arbeitssuche ausgesetzt werden können. Die Regierung sollte zudem von einer Senkung der Leistungen im Rahmen des neuen Bürgergelds absehen und rasch darauf hinwirken, dass das geplante Gesetz über eine Kindergrundsicherung verabschiedet wird und zügig in Kraft tritt, mit einem angemessenen Unterstützungsniveau für alle Kinder. Der Preis für die politische Untätigkeit oder das unzureichende Handeln ist hoch: Er bedeutet, dass Mütter weiterhin Mahlzeiten ausfallen lassen, damit ihre Kinder etwas zu essen haben, und dass ältere Menschen auf Einrichtungen wie die Tafeln angewiesen sind, um nicht hungern zu müssen.

Die Regierung sollte auch in Erwägung ziehen - je nachdem, was im Rahmen der föderalen Struktur der Bundesrepublik am besten geeignet ist -, die Umsetzung der Rechtsvorschriften zur Vereinheitlichung der Schultage zu beschleunigen, das Angebot an kostenlosen Schulmittagessen zu erhöhen, die staatlichen Zuschüsse für den Zugang älterer Menschen zu Brillen, Zahnbehandlungen und Mobilitätshilfen wieder einzuführen und Empfänger*innen von beitragsunabhängigen Maßnahmen der sozialen Sicherung oder einer altersabhängigen Grundrente kostenlosen Zugang zu öffentlichen Verkehrsmitteln zu gewähren. Die Bundesregierung sollte eine aktualisierte unabhängige Studie in Auftrag geben, in der das geschlechtsspezifische Rentengefälle untersucht wird, und weitere Maßnahmen in Erwägung ziehen, um die negativen strukturellen Auswirkungen der geschlechtsspezifischen Ungleichheit auf das Leben von alleinerziehenden Müttern und älteren Frauen, die von Armut betroffen sind, abzumildern.

Diese Maßnahmen stehen im Einklang mit den Zusagen der Regierung, sind unter Berücksichtigung der maximalen verfügbaren Ressourcen des deutschen Staates umsetzbar und sollten oberste Priorität haben. Angesichts des Ausmaßes der Armut, insbesondere bei Alleinerziehenden (überwiegend Frauen) und älteren Menschen (überproportional Frauen), sollte die neue Regierung entschlossen handeln und die Gelegenheit zur Sicherung dieser wichtigen sozialen und wirtschaftlichen Rechte nicht ungenutzt lassen. Politische Untätigkeit würde für noch mehr Menschen, vor allem Frauen, ein Leben in Armut bedeuten. Deutschland hat es in der Hand, dafür zu sorgen, dass jeder Mensch Zugang zu einer angemessenen sozialen Absicherung hat und sich das leisten kann, was er für ein würdevolles Leben braucht.


 

Empfehlungen

An die deutsche Bundesregierung:

●        Leiten Sie einen transparenten, öffentlichen Konsultationsprozess über die Anpassung der Sozialleistungen an die internationalen Menschenrechtsverpflichtungen und das verfassungsmäßige Existenzminimum ein und streben Sie dabei die Beteiligung von Menschen aller Altersgruppen, die von Armut betroffen sind, sowie anderer Personen mit einschlägigem Fachwissen an;

●        Stellen Sie sicher, dass alle Menschen Zugang zu Programmen der sozialen Sicherung haben, die ein angemessenes Maß an Unterstützung bieten, um zu gewährleisten, dass die Empfänger*innen ihre wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte wahrnehmen können, darunter der Zugang zu Nahrung, Gesundheitsfürsorge und einem angemessenen Lebensstandard, so dass niemand, der eine solche Unterstützung erhält, unterhalb der offiziell anerkannten monetären Armutsgefährdungsschwelle bleibt. Dies sollte u.a. erreicht werden durch:

o   Die dringende Überprüfung der Angemessenheit der Unterstützung im Rahmen des Bürgergeldes und die Verpflichtung zu regelmäßigen Anpassungen der Schwellenwerte für Wohn- und Betriebskosten sowie zur raschen Umsetzung von Erhöhungen, wenn diese erforderlich sind;

o   Die Abschaffung der Sanktionen im Rahmen des Bürgergeldsystems, die dazu führen können, dass das Einkommen von Empfänger*innen unter der Armutsgrenze oder unter dem Existenzminimum liegt;

o   Die dauerhafte Wiedereinführung des Bürgergeld-Bonus 2023;

o   Dringende Fortschritte beim Gesetzesentwurfs zur Kindergrundsicherung, die Erhöhung des vorgesehenen Betrags und die Sicherstellung, dass es sich um eine universelle Leistung handelt, indem Ausnahmen für Haushalte, die asylbezogene Sozialleistungen erhalten, abgeschafft werden, sowie eine zügige Verabschiedung des Gesetzes durch den Bundestag;

o   Die dringende Überprüfung der Leistungsbeträge der Grundrente und Überarbeitung der folgenden Punkte:

▪          Beitragsjahre für die Anspruchsberechtigung;

▪          Kriterien, die dazu führen können, dass Teilzeitbeschäftigte, Geringverdienende und Personen, die ihre berufliche Laufbahn unterbrochen haben oder erst später in den deutschen Arbeitsmarkt eingetreten sind, nicht anspruchsberechtigt sind;

▪          das Verhältnis der Gutschrift von Rentenpunkten für Personen, die Angehörige betreuen

o   Die dringende Verpflichtung zur Erhöhung des Niveaus der Unterstützung durch die Grundsicherung im Alter, um sicherzustellen, dass niemand unter der monetären Armutsgrenze bleibt;

o   Konkrete Maßnahmen zur Erhöhung der Inanspruchnahme der Grundsicherung

o   Den Einsatz für eine bessere Absicherung der Erwerbstätigen in der gesetzlichen Rentenversicherung (GRV) unter besonderer Berücksichtigung von Personen in geringfügigen Beschäftigungsverhältnissen wie Minijobs und Midijobs;

●        Verpflichten Sie sich öffentlich, keine Änderungen an den Bestimmungen der sozialen Sicherung vorzunehmen, die einen Rückschritt im Sinne der internationalen Menschenrechtsnormen darstellen könnten;

●        Vereinfachen Sie die Antragsverfahren für kinderbezogene Sozialleistungen, einschließlich jener für den Kinderzuschlag und das Bildungspaket, sowie führen Sie weitere Maßnahmen ein zur Verbesserung der Inanspruchnahme des Kinderzuschlags, u.a. durch dessen Einbindung in ein Konzept für eine Kindergrundsicherung;

●        Beauftragen Sie eine unabhängige Folgenabschätzung zur Gleichstellung von Frauen und Männern (im Einklang mit der Gemeinsamen Geschäftsordnung der Bundesministerien, §§ 2 und 44, Absatz 1) bezüglich der sozialen Sicherung, einschließlich der Funktionsweise des beitragsabhängigen Punktesystems und der Anrechnung von Kindererziehungs- oder Pflegezeiten sowie die Bereiche bewerten, in denen Verbesserungen zur Gewährleistung der Gleichstellung möglich sind, und die einschlägigen Empfehlungen einer solchen Studie umsetzen.

●        Verpflichten Sie sich zur vollständigen Umsetzung der Europäischen Kindergarantie, einschließlich der Bereitstellung von Bundesmitteln zur Gewährleistung eines kostenlosen Mittagessens für jedes Kind in allen Regelschulen im Einklang mit der Europäischen Kindergarantie. Dies sollte zum frühestmöglichen Zeitpunkt passieren, spätestens jedoch bis 2030;

o   Die Bundesbehörden sollten unverzüglich aktiv mit allen Landesregierungen und der Kultusministerkonferenz zusammenarbeiten, um Pilotprojekte für die Bereitstellung kostenloser Mahlzeiten in bestimmten Gebieten mit hoher Benachteiligung zu finanzieren und zu fördern, um vor der Frist für die europäische Kindergarantie 2030 geeignete Prozesse zu entwickeln.

●        Berichten Sie öffentlich und regelmäßig über die Fortschritte bei der Gewährleistung einer ganztägigen Grundschulbildung und Betreuung, wie ab 2026 geplant, und erwägen Sie eine Beschleunigung des Prozesses;

●        Ermöglichen Sie es berufstätigen Eltern und allen Alleinerziehenden, sofort eine achtstündige Betreuung ihrer Kinder durch einheitliche achtstündige Stundenpläne an Grundschulen oder eine verlässliche Hortbetreuung in Anspruch zu nehmen, noch bevor ein Gesetz zur schrittweisen Verlängerung der Schultage in Kraft tritt;

●        Ratifizieren Sie das Zusatzprotokoll zur Europäischen Sozialcharta, das ein System für Kollektivbeschwerden vorsieht (SEV Nr. 158);

●        Akzeptieren Sie alle Artikel der Europäischen Sozialcharta uneingeschränkt und ziehen Sie den Vorbehalt zu Artikel 30 über das „Recht auf Schutz gegen Armut und soziale Ausgrenzung“ zurück;

●        Führen Sie die vollständige Übernahme der Kosten für Brillen, Zahnersatz und Mobilitätshilfen durch die gesetzliche Krankenversicherung für alle älteren Menschen, welche den Grundrentenzuschlag erhalten, wieder ein.

●        Unternehmen Sie konkrete Schritte zur Koordinierung von Bundes-, Landes- und Kommunalbehörden zur Entwicklung eines kostenlosen öffentlichen Nahverkehrs für Menschen, die Bürgergeld oder den Grundrentenzuschlag erhalten, aufbauend auf den Erfahrungen mit den Plänen für 2022-23 zur Einführung eines ermäßigten bzw. kostenlosen öffentlichen Nahverkehrs als Maßnahme zum Ausgleich der Lebenshaltungskosten.

An den UN-Sonderberichterstatter für extreme Armut und Menschenrechte und die unabhängige UN-Expertin für die Rechte älterer Menschen

·       Erwägen Sie eine schriftliche Mitteilung an die Bundesregierung, in der Sie Ihre Besorgnis über die unzureichende Unterstützung im Bereich der sozialen Sicherheit, einschließlich der Auswirkungen des geschlechtsspezifischen Lohn- und Rentengefälles, zum Ausdruck bringen und die Regierung an ihre Verpflichtungen gemäß den internationalen Menschenrechtsnormen erinnern;

·       Fordern Sie die Regierung auf, Fortschritte bei dem ins Stocken geratenen Vorschlag für ein Kindergrundeinkommen zu erzielen und konkrete Maßnahmen zur Verbesserung der kinderbezogenen sozialen Sicherheit und zur Linderung der Kinderarmut zu ergreifen;

·       Erinnern Sie die Bundesregierung an ihre Verpflichtung, den Grundsatz des Rückschrittsverbots im Bereich der sozialen Sicherheit zu beachten.

An den UN-Ausschuss für die Rechte des Kindes

·       Fordern Sie bei nächster Gelegenheit vom deutschen Staat Nachfolgeinformationen zu den konkreten Schritten zur Bekämpfung der Kinderarmut, der unzureichenden Höhe der Sozialleistungen und des größeren Risikos von Armut und sozialer Ausgrenzung von Kindern in Einelternfamilien ein;

·       Informieren Sie sich bei der Bundesregierung über deren Pläne bezüglich eines Vorschlags für eine Kindergrundsicherung.

An den UN-Ausschuss für die Beseitigung der Diskriminierung der Frau

·       Berücksichtigen Sie bei der nächsten Überprüfung der deutschen CEDAW-Bilanz weiterhin die Themen geschlechtsspezifisches Lohngefälle, geschlechtsspezifisches Rentengefälle und die geschlechtsspezifischen Dimensionen von Armut und sozialer Ausgrenzung;

·       Nutzen Sie die nächstmögliche Gelegenheit, um von der Bundesregierung Klarheit über die Maßnahmen zu erhalten, die zur Beseitigung des geschlechtsspezifischen Lohn- und Rentengefälles ergriffen wurden.

An den Europäischen Ausschuss für soziale Rechte:

·       Sprechen Sie die Frage der Angemessenheit der Sozialleistungen in Bezug auf das Bürgergeld, das Kindergeld und die Altersrenten bei nächster Gelegenheit an;

·       Fordern Sie die Bundesregierung auf, keine rückschrittlichen Maßnahmen im Bereich der sozialen Sicherheit zu ergreifen;

·       Fordern Sie die Regierung auf, Fortschritte bei dem ins Stocken geratenen Vorschlag für eine Kindergrundsicherung zu erzielen und konkrete Maßnahmen zur Verbesserung der sozialen Sicherheit von Kindern und zur Bekämpfung der Kinderarmut zu ergreifen;

·       Ermutigen Sie die Bundesregierung, die Vorbehalte zur revidierten Europäischen Sozialcharta (1996) zurückzuziehen und das Zusatzprotokoll (ETS Nr. 158) zu ratifizieren, das Kollektivbeschwerden beim Europäischen Ausschuss für soziale Rechte ermöglicht.
 

Methodik

Diese Untersuchung ist die zweite in einer Reihe von Human Rights Watch-Untersuchungen in Europa zum Recht jeder Person auf einen angemessenen Lebensstandard und auf soziale Sicherheit. Die Untersuchung findet vor dem Hintergrund eines raschen Anstiegs der Lebenshaltungskosten in Europa sowie weltweit zwischen 2021 und 2023 statt.[6] Das übergeordnete Ziel besteht darin, die Angemessenheit der Regelungen zur sozialen Sicherung für Alleinerziehende und ältere Menschen in Deutschland zu bewerten. Insbesondere wird in diesem Bericht eine Reihe von Programmen identifiziert, die selbst bei einer Gesamtbetrachtung nicht ausreichen, um einen angemessenen Lebensstandard zu gewährleisten. Zudem werden Empfehlungen ausgesprochen, die sicherstellen sollen, dass Deutschland seinen Menschenrechtsverpflichtungen in Bezug auf wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte nachkommt. Hierbei werden auch die aus der Covid-19-Pandemie gezogenen Lehren und die anhaltende globale Inflation berücksichtigt. Die Untersuchung ergänzt eine breitere Advocacyarbeit von Human Rights Watch mit Partnerorganisationen, um das Bewusstsein für das Recht auf soziale Sicherheit und dessen Achtung zu stärken.[7]

Das Konzept der Angemessenheit in diesem Bericht folgt den Menschenrechtsverpflichtungen, die in den Menschenrechtsinstrumenten dargelegt sind, wie sie von maßgeblichen Gremien wie dem UN-Ausschuss für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte in seiner Allgemeinen Bemerkung Nr. 19 und der Internationalen Arbeitsorganisation in der Empfehlung Nr. 202 interpretiert werden. Dort wird betont, dass Geld- und Sachleistungen zumindest Schutz vor wirtschaftlicher Unsicherheit und Armut bieten sollten.[8]

Zwischen Mai 2022 und Juni 2023 führte Human Rights Watch ausführliche persönliche und Online-Interviews mit 32 Menschen, die in Deutschland von Armut oder einem Leben mit geringem Einkommen betroffen sind. Davon waren 18 Alleinerziehende und 10 Beziehende von Altersrenten. Darüber hinaus umfasste die Untersuchung kürzere Interviews mit etwa 30 Personen, die bei der Ausgabe von zwei Tafeln und einer unabhängigen Lebensmittelausgabestelle anstanden, sowie drei Gruppendiskussionen mit 5 bis 10 Personen, hauptsächlich mit Alleinerziehenden. Human Rights Watch befragte außerdem etwa 20 Mitarbeitende oder Freiwillige von NGOs, lokalen zivilgesellschaftlichen Gruppen, Netzwerken zur Armutsbekämpfung und Einrichtungen wie den Tafeln. Die Menschen, mit denen Interviews geführt wurden, lebten in Baden-Württemberg, Bayern, Berlin, Hessen, Sachsen, Sachsen-Anhalt, Nordrhein-Westfalen, Mecklenburg-Vorpommern und Schleswig-Holstein.

Die Untersuchung umfasste auch eine Analyse der in den amtlichen Statistiken verfügbaren Daten und eine umfassende Konsultation von Sekundärquellen.

Interviewpartner*innen mit Armutserfahrung oder Erfahrungen mit einem Leben mit geringem Einkommen wurden entweder direkt von lokalen zivilgesellschaftlichen Organisationen, die sich mit sozialen Fragen befassen, oder durch die Beantwortung eines Online-Fragebogens ermittelt, der von Human Rights Watch erarbeitet und über diese Organisationen gestreut wurde. Human Rights Watch stellte hierbei Fragen zu Lebenshaltungskosten, zur Angemessenheit der sozialen Absicherung sowie zur Nahrungsmittel- und Energieunsicherheit. Die Teilnehmenden wurden um ihre Kontaktdaten gebeten, sodass Human Rights Watch mit ihnen für ausführliche Interviews in Kontakt treten konnte. Human Rights Watch führte dann mit einem Teil der Befragten entsprechende Interviews durch.

Die Interviews wurden in erster Linie in deutscher Sprache (verdolmetscht) geführt, mit wenigen Ausnahmen, in denen die Befragten sich auf Englisch verständigen konnten. Die Namen aller Befragten, die über ihre persönlichen Erfahrungen mit dem deutschen Sozialsystem berichteten, wurden zum Schutz ihrer Privatsphäre geändert.

Human Rights Watch zahlte den Befragten keine Aufwandsentschädigung, erstattete aber im angemessenen Rahmen Reise- und Kinderbetreuungskosten, um sicherzustellen, dass den Befragten durch die Teilnahme an den Interviews keine finanziellen Nachteile entstanden.

Die Informationen in diesem Bericht wurden zuletzt am 25. Februar 2025 aktualisiert.

Reaktion der Regierung auf die Erkenntnisse des Berichts

Im Januar 2025 kontaktierte Human Rights Watch mit Blick auf die Bundestagswahl im darauffolgenden Monat hochrangige Beamt*innen im Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS), im Bundesministerium für Familien, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) und im Bundesministerium für Finanzen (BMF) mit einer schriftlichen Zusammenfassung unserer Erkenntnisse und detaillierten Fragen an die jeweiligen Stellen.[9] Bis Redaktionsschluss haben das Bundesministerium für Familien, Senioren, Frauen und Jugend und das Bundesministerium für Arbeit und Soziales eine ausführliche Stellungnahme abgegeben.[10] Die offiziellen Antworten sind hier zusammengefasst, die jeweiligen Schreiben liegen bei den Akten.[11]

Armutsschwelle

Sowohl das BMAS als auch das BMFSFJ widersprachen der von Human Rights Watch vorgenommenen Interpretation der in der deutschen amtlichen Statistik ausgewiesenen Armutsschwellenwerte und erklärten, dass die Armutsgefährdungsquote (AROP) „keine Armut misst“, sondern „eine statistische Maßgröße für die Einkommensverteilung“ sei, „die keine Information über individuelle Bedürftigkeit liefert“. Beide Ressorts erklärten, dass „der Indikator sehr volatil ist, insbesondere für Teilpopulationen, und dass er je nach Datenquelle unterschiedlich ausfallen kann“. Das BMFSFJ stellte außerdem fest, dass „Armut ein komplexes und vielschichtiges Phänomen ist, das sich einer eindeutigen und einfachen Messung entzieht.“

Eurostat definiert die monetäre Armut wie folgt: „Menschen gelten als von monetärer Armut bedroht, wenn ihr verfügbares Äquivalenzeinkommen (nach Sozialtransfers) unterhalb der Armutsgefährdungsschwelle liegt. Diese wird auf 60 Prozent des nationalen verfügbaren Median-Äquivalenzeinkommens nach Sozialtransfers festgelegt.“[12] Zwar berücksichtigt dieses Maß nicht den Grad der Armut, die individuellen Umstände oder andere Faktoren wie Arbeitslast oder Entbehrung, dennoch hält Human Rights Watch bei der Bewertung der erhaltenen Sozialleistungen ein solches Maß für die monetäre Armutsgrenze, das in der gesamten EU verwendet wird, für einen relevanten Referenzpunkt.

Existenzminimum

In der Antwort des BMAS heißt es: „Die Leistungen der sozialen Mindestsicherung decken bei finanzieller Hilfebedürftigkeit den gesamten notwendigen Lebensunterhalt.“ Das BMAS verwies auf Artikel 1 Absatz 1 und 20 des Grundgesetzes und die damit verbundene Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts als „maßgeblich“ für die Entwicklung des Bedarfsdeckungsgrundsatzes und der menschenwürdigen Mindestsicherung mit Zuschlägen je nach Alter-, Lebens- und Haushaltsumständen. Das Ministerium fügte hinzu, dass sich „aus dieser Konzeption ergibt, dass es in Deutschland keine von der Bundesregierung festgesetzte monetäre Armutsgrenze gibt“.

Human Rights Watch verwendete in seinem Bericht Daten des Statistischen Bundesamts Destatis zur monetären Armut, unter Verwendung der Begriffe „monetäre Armut“ und „Armutsgefährdungsschwelle“.[13]

Das BMAS erläuterte, welche Schritte es unternimmt, um die Vereinbarkeit mit europäischem Recht und internationalen Verträgen bei der Gesetzgebung und bei den regelmäßigen Überprüfungen durch UN- und europäische Vertragsüberwachungsausschüsse zu berücksichtigen, und dass die letzte Regelbedarfsermittlung im Jahr 2021 auf der Grundlage der Einkommens- und Verbrauchserhebung 2018 erfolgte.

Das BMFSFJ antwortete, dass die Berechnung des Existenzminimums in die Zuständigkeit des BMAS falle, wies aber darauf hin, dass „die Ermittlungsmethode sowohl von Verbänden als auch von der Wissenschaft kritisiert wurde“, und erklärte, dass „insbesondere Bedarf besteht, die Verteilungsschlüssel, die festlegen, welcher Teil der Haushaltsausgaben für Kinder erfolgt, zu erneuern“. Diese Verteilungsschlüssel wurden vor über 20 Jahren entwickelt.

Alleinerziehende, berufstätige Mütter und die Beteiligung von Frauen am Erwerbsleben

Das BMAS räumte ein, dass die Erwerbsbeteiligung von Frauen zwischen 2014 und 2023 zwar gestiegen sei, aber zwei Drittel aller erwerbstätigen Mütter immer noch in Teilzeit arbeiteten. In seiner Antwort skizzierte das BMAS Maßnahmen, um dies zu ändern, darunter die Senkung der Sozialversicherungsbeiträge für Geringverdienende, ohne die soziale Absicherung, einschließlich der Rentenansprüche, zu verringern, die gezielte Unterstützung gering qualifizierter Frauen „mit Migrationserfahrung“ beim Einstieg in den Arbeitsmarkt und eine geschlechtsspezifische Zielsteuerung für die Jobcenter bei der Ermittlung der Verfügbarkeit und Eignung von Arbeit.

Das BMFSFJ verwies auf den im Januar 2025 veröffentlichten 10. Familienbericht und sprach sich dafür aus, die Unterstützung für Alleinerziehende zu vereinheitlichen und wesentlich zu verbessern, unter anderem durch die Umwandlung des bestehenden steuerlichen Entlastungsbetrags für Alleinerziehende in eine Steuergutschrift. Das Ministerium wies darauf hin, dass die Verpflichtung, regelmäßig erneut Anträge auf ergänzende Leistungen zu stellen unvermeidbar sei. Trotz dieser Anforderungen hat das Ministerium festgestellt, dass die Inanspruchnahme des Kinderzuschlags seit 2022 gestiegen ist. Das Ministerium wies darauf hin, dass seine Untersuchungen zeigten, dass das Armutsrisiko für Mütter nach einer Trennung oder Scheidung zwar ansteige, Risikofaktoren aber auch schon vor dem Scheitern von Beziehungen bestehen könnten, und dass es daran arbeite, „eine partnerschaftliche Aufgabenteilung bei Familie und eine substanzielle Erwerbsarbeit von Anfang an [zu] ermöglichen“.

Kinderarmut

Das BMFSFJ teilte mit, dass der von ihm in der vergangenen Legislaturperiode eingebrachte Gesetzentwurf zur Kindergrundsicherung nach der Auflösung des Bundestages nicht weiterverfolgt werde. Es verwies auf bereits erfolgte Erhöhungen des Kindergeldes im Rahmen des Bürgergeldes und für Asylsuchende. Das Ministerium erklärte außerdem, dass die Schulspeisung aufgrund der föderalen Struktur Deutschlands in die Zuständigkeit der Länder falle, was zu einer „fragmentierten und unterschiedlichen Umsetzung von Schulspeisungsprogrammen mit verschiedenen Barrieren“ führe. Ungeachtet dieser Schwierigkeiten erklärte das Ministerium, dass es den Ländern Mittel bereitstelle für den Ausbau der Ganztagsschulen sowie für eine begrenzten Anzahl von Kindergärten, Schulen und außerschulischen Einrichtungen für Ernährung und Beratung.

Renten und die Situation älterer Frauen

Das BMFSFJ räumte ein, dass trotz der seit 1992 eingeführten Maßnahmen zur besseren Anerkennung der Kindererziehungsleistung die geschlechtsspezifischen Entgelt- und Rentenunterschiede fortbestehen. Es verwies auf die Absicht der Bundesregierung, die EU-Entgelttransparenzrichtlinie (2023/970) in nationales Recht umzusetzen und auf die entsprechenden Regelungen im Bundesgleichstellungsgesetz, nannte aber keinen konkreten Zeitrahmen für die Umsetzung.

In der Antwort des BMAS wird auf die Berücksichtigung von Kindererziehungszeiten bei der Rentenberechnung verwiesen und festgestellt, dass der Anteil älterer Männer und älterer Frauen (ab 65 Jahren), die eine Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung beziehen, in etwa gleich hoch ist (3,9 bzw. 3,8 Prozent) und gemessen an der Gruppe der Beziehenden von Sozialleistungen im erwerbsfähigen Alter einen eher geringen Teil ausmacht.

Offizielle Daten, die von Human Rights Watch überprüft wurden, zeigen, dass das monatliche Renteneinkommen für 38,2 Prozent der Frauen im Alter ab 65 Jahren einem Einkommen von weniger als 1.000 Euro im Monat entspricht, verglichen mit 14,7 Prozent der Männer im gleichen Alter. Dies deutet darauf hin, dass die geschlechtsspezifischen Einkommensunterschiede viel größer sind, als die Antwort des BMAS vermuten lässt.

Sanktionen und die Bonuszahlung im Rahmen des Bürgergeldes

In der Antwort des BMAS wird detailliert dargelegt, wie Sanktionen gegen Bürgergeldempfänger*innen im Rahmen der seit März 2024 geltenden „Arbeitsverweigerer-Regelung“ verhängt werden, und es wird argumentiert, dass dies nur für diejenigen gilt, die sich „grundlos weigern, eine zumutbare Arbeit anzunehmen“. Das Ministerium führt an, dass „Tätigkeiten, die die Erziehung eines Kindes gefährden, nicht zumutbar sind“ und daher die Weigerung, eine solche Arbeit anzunehmen, nicht sanktioniert werden kann. Es fügte hinzu, dass die Leistungen für Familienangehörige, Heizung und Unterkunft von der Aussetzung nicht betroffen sind und dass es eine Ausnahme von der Sanktion gibt, wenn deren Anwendung eine „außergewöhnliche Härte“ bedeuten würde.

Human Rights Watch bat das Ministerium um Kopien der Richtlinien für Entscheidungsträger*innen der sozialen Sicherheit zur Anwendung der Kriterien „zumutbare Arbeit”, “außergewöhnlichen Härte“ sowie Vorgaben zur Vermeidung der Verschärfung struktureller Diskriminierung aufgrund des Geschlechts. Die Antwort des Ministeriums fasste den Ansatz wie oben beschrieben zusammen, enthielt aber keines der angefragten Dokumente.

Das BMAS stellte fest, dass die Abschaffung des monatlichen Bonus von 75 Euro für Bürgergeldempfänger*innen, die eine berufliche Weiterbildung absolvieren, eine von vielen Maßnahmen zur Konsolidierung des Bundeshaushalts war, die das Ministerium erbringen musste.  

Definition und Messung der Angemessenheit

In diesem Bericht wird der von Eurostat (das Statistische Amt der Europäischen Union) festgelegte Schwellenwert für die Berechnung der Armutsgefährdungsquote (AROP) als Referenzpunkt verwendet, um zu beurteilen, ob Sozialleistungen einen angemessenen Mindestlebensstandard gewährleisten.[14] Eurostat setzt die AROP-Schwelle auf 60 Prozent des nationalen medianen verfügbaren Nettoäquivalenzeinkommens (einschließlich Sozialtransfers) fest. Dieser monetäre Schwellenwert wird von der EU zur Messung der relativen Armut verwendet und ist Teil eines umfassenderen, mehrdimensionalen Armutsmaßes, das als AROPE (At Risk of Poverty or Social Exclusion) bekannt ist. AROPE berücksichtigt die Einkommensarmut neben Faktoren wie materielle Entbehrung und Arbeitsintensität.

In diesem Bericht liegt der Schwerpunkt speziell auf der AROP-Quote oder der monetären Armutsgrenze und nicht auf den umfassenderen mehrdimensionalen Aspekten der Armut. Um die Angemessenheit von Sozialleistungen zu beurteilen, vergleichen wir die AROP-Schwelle mit der entsprechenden Leistung. Bei Haushalten, die mehrere Leistungen erhalten, betrachten wir die Gesamtsumme der Leistungen im Verhältnis zur AROP. Bei der Bewertung des Bürgergeldes, das durch Zahlungen für Wohn- und Heizkosten ergänzt wird, verwenden wir einen vom Paritätischen entwickelten, um Wohnkosten bereinigten AROP-Schwellenwert.[15] Dieser bereinigte Schwellenwert zieht die Wohnkosten, einschließlich der Heizkosten, vom Einkommen eines Haushalts ab und ermöglicht einen genaueren Vergleich zwischen Programmen der sozialen Sicherung, die Wohnkosten abdecken, und Armutsgrenzen.

Unsere Analyse stützt sich auf Interviewdaten und Leistungsschwellen. Da die AROP-Schwelle auf einem Nettoeinkommen basiert, haben wir die Einkommen der Befragten bereinigt, indem wir Steuern vom Arbeits- und Renteneinkommen abgezogen haben (andere Sozialleistungen wie Kindergeld oder Bürgergeld sind in der Regel steuerfrei). Für die Schätzung der Steuerabzüge haben wir den Brutto-Netto-Rechner der deutschen Sparkasse verwendet und die Schätzungen mit dem Rechner des Bundesfinanzministeriums trianguliert.[16]

Die Armutsgefährdungsschwelle in Deutschland variiert je nach Haushaltsgröße und -zusammensetzung. Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes (Destatis) liegt die Armutsgefährdungsschwelle für einen Einpersonenhaushalt im Jahr 2023 bei 1.314 EUR pro Monat und steigt danach je nach Haushaltsgröße und -zusammensetzung an.[17]

Tabelle 1. Armutsgefährdungsgrenzen in Deutschland, nach Haushaltstyp, vor und nach Abzug der Wohnkosten (2023)

Haushaltstyp

Armutsgefährdungs-grenze (€/Monat)

Armutsgefährdungs-grenze nach Wohnkosten(€/Monat)

Einpersonenhaushalt

1.314

1.016

Alleinerziehend mit einem Kind unter 14 Jahren

1.708

1.321 – 1.524

Alleinerziehend mit zwei Kindern unter 14 Jahren

2.102

1.626

Zwei Erwachsene

1.971

1.524

Zwei Erwachsene mit einem Kind unter 14 Jahren

2.365

1.829

Zwei Erwachsene mit zwei Kindern unter 14 Jahren

2.759

2.134

Quelle: Destatis, „EU-SILC Armutsgefährdungsschwelle (60% Median)“, 12241-0002. Die angegebenen Werte beziehen sich auf das Jahr 2023, in dem die meisten Interviews für diese Recherche stattfanden.

Wichtige Programme der sozialen Sicherung

Die soziale Sicherung umfasst eine Reihe von Programmen, die entweder aus direkten Beiträgen, in der Regel von Arbeitnehmer*innen (und als beitragsabhängige Programme bezeichnet), oder aus allgemeinen Steuern (als beitragsunabhängige Programme bezeichnet) finanziert werden und die den Einzelnen vor Einkommensunsicherheit schützen sollen, ausgehend von dem Grundsatz, dass jeder Mensch in jeder Phase seines Lebens seine Rechte wahrnehmen können sollte. In Kapitel IV werden die internationalen Menschenrechtsnormen auf verschiedenen Ebenen - im Rahmen des Internationalen Pakts über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte, anderer UN-Verträge, der Europäischen Sozialcharta, der Übereinkommen und Empfehlungen der Internationalen Arbeitsorganisation - sowie das deutsche Recht in Bezug auf das Recht auf soziale Sicherheit und das Recht auf einen angemessenen Lebensstandard zusammenfassend dargestellt.

In diesem Bericht wird speziell die Unzulänglichkeit der Sozialleistungen für Alleinerziehende und ältere Menschen untersucht, wobei der Schwerpunkt auf Frauen liegt. Er analysiert die wichtigsten 14 beitragsabhängigen und beitragsunabhängigen Programme der sozialen Sicherung.

Tabelle 2. Relevante Programme der sozialen Sicherung

 

Kinder

Erwerbsalter

Ältere Menschen

Beitragsabhängig

 

Arbeitslosengeld I

 

Gesetzliche Rentenversicherung for ältere Menschen, Menschen mit Behinderungen, Hinterbliebene, Waisen

 

Krankengeld

Grundrente

 

Erwerbsminderungsrente

Beitragsunabhängig

Elterngeld

Bürgergeld                                Vorgänger Arbeitslosengeld II        (2005-2022) (ALG II)

Grundsicherung

Kindergeld

Wohngeld

Kinderzuschlag

Minijobs

 

Bildungspaket

Midijobs

 

Quelle: Grafik von Human Rights Watch, basierend auf: https://www.bmas.de/DE/Soziales/soziales.html. 

Diese Programme der sozialen Sicherung werden im Berichtstext ausführlicher beschrieben und für Leser*innen, die mit dem deutschen Sozialsystem nicht vertraut sind, in einem Anhang zum Bericht zusammengefasst.


 

I. Umstrukturierung der sozialen Sicherung, Niedriglohnarbeit und komplexe kinderbezogene Sozialleistungsprogramme

Dieser Bericht dokumentiert zunächst Armut und die finanzielle Belastung in Haushalten mit Kindern, insbesondere in Haushalten von Alleinerziehenden, die zu 82,3 Prozent von Frauen geführt werden, bevor er sich in den Kapiteln III und IV der Notlage älterer Menschen zuwendet, von der ebenfalls Frauen überproportional betroffen sind.[18]

Obwohl Deutschland über das weltweit wohl am längsten etablierte Modell eines modernen Wohlfahrtsstaates verfügt und die größte Volkswirtschaft in der Europäischen Union ist, gelingt es dem deutschen Sozialsystem nicht, einem erheblichen Teil der Bevölkerung einen angemessenen Lebensstandard zu sichern. Obwohl Deutschland im Jahr 2021 etwas mehr als ein Fünftel seines jährlichen Bruttoinlandsprodukts (schätzungsweise 3,6 Billionen Euro) für Programme der sozialen Sicherung ausgab, waren etwa 17,3 Millionen Menschen, also etwas mehr als ein Fünftel der Bevölkerung, von Armut und sozialer Ausgrenzung betroffen.[19] Bis zum Jahr 2024 stieg diese Zahl auf 17,6 Millionen Menschen, der Anteil an der Gesamtbevölkerung änderte sich hierbei nicht.[20]

Die Ursachen für die anhaltende und wachsende Armut in bestimmten Teilen der Bevölkerung sind komplex. Die soziale Sicherung ist kein Heilmittel für alle Ursachen der Armut, die öffentliche Dienstleistungen, Arbeitsrechte, gerechte Löhne, Bildung und andere wichtige Politikbereiche betreffen. Aber es gibt offensichtliche Mängel im Sozialsystem, die behoben werden können, um die Lebensbedingungen der Betroffenen und die Möglichkeit der Wahrnehmung ihrer Rechte zu verbessern.

Für Haushalte mit Erwachsenen, die noch keinen Anspruch auf eine Altersrente haben, insbesondere für von Frauen geführte Einelternfamilien, gibt es viele Faktoren, die zur finanziellen Belastung beitragen, darunter: Reformen der Arbeitslosenunterstützung seit 2005, unzureichende Unterstützung durch die soziale Sicherung sowohl für Erwerbstätige als auch für Arbeitslose, einschließlich des begrenzten Zugangs zu zusätzlichen Kinderbeihilfen für Geringverdienende, die einer Bedürftigkeitsprüfung unterliegen, das Wachstum der Niedriglohnwirtschaft in den letzten Jahrzehnten, Lücken im Gesundheitssystem und eine unzureichende Verfügbarkeit kostenloser frühkindlicher Bildung.

Darüber hinaus werden durch unbezahlte Care-Arbeit geschlechtsspezifische und wirtschaftliche Ungleichheiten aufrechterhalten, die ihrerseits die Armutsfalle weiter verschärfen. Obwohl sie die Grundlage für eine florierende Gesellschaft bildet, ist unbezahlte und unterbezahlte Care- Arbeit im Grunde unsichtbar. Sie wird oft nicht als Arbeit anerkannt, und die damit verbundenen Ausgaben werden eher als Kosten statt als Investitionen betrachtet.[21]

Diese Kombination aus einem riesigen prekären Niedriglohnsektor, unzureichenden öffentlichen Dienstleistungen und einem unzureichenden Niveau der Sozialleistungen bedeutet, dass die wirtschaftlichen und sozialen Rechte der Menschen nicht erfüllt werden und dass diejenigen, die Zugang zu Sozialleistungen suchen, mitunter mit aufwändigen und schwer zu bewältigenden Dokumentenanforderungen konfrontiert sind.[22] Bis zum Jahr 2025 haben die Behörden keine Maßnahmen ergriffen, welche die Situation grundlegend ändern könnten. Die von der scheidenden Regierung vor den Wahlen im Februar 2025 beschlossenen oder vorgeschlagenen Maßnahmen, wie z.B. eine sinnvolle Ablösung des deutschen Arbeitslosengeldsystems durch ein grundlegend anderes Bürgergeldprogramm oder die Einführung einer neuen universellen Kindergrundsicherung, waren bis zur Wahl gescheitert oder ins Stocken geraten. Das Ergebnis ist, dass zu viele Haushalte weiterhin von Armut und sozialer Ausgrenzung betroffen sind.

Von den „Hartz-Reformen“ zum Bürgergeld

Die sog. „Hartz-Reformen“ waren ein wichtiger Bestandteil des umfassenden Wirtschaftsreformpakets „Agenda 2010“ von SPD-Kanzler Gerhard Schröder, das während seiner Amtszeit (1998-2005) umgesetzt wurde und auch unter der Regierung von CDU-Bundeskanzlerin Angela Merkel (2005-2021) in Kraft blieb.[23] Schröders drastische Grundüberholung des Arbeitsmarkts beinhaltete Kürzungen der Sozialausgaben, die Schaffung von befristeten Midijobs und steuerfreien Minijobs sowie eine umfassende Umstrukturierung der Arbeitslosenunterstützung nach dem Motto „Arbeit zuerst“ und einem Fokus auf „Aktivierung“.[24]

Das Arbeitslosengeld II – „Hartz IV“

Mit dem Arbeitslosengeld I (ALG I) erhalten Anspruchsberechtigte einen Teil ihres letzten Einkommens vor der Arbeitslosigkeit, und zwar für einen Zeitraum, der vom Alter des/der Empfänger*in und von der Dauer der vorherigen Beschäftigung abhängt. Wer zum Beispiel 24 Monate beschäftigt war, kann zum Zeitpunkt der Erstellung dieses Berichts bis zu 12 Monate lang ALG I erhalten.[25]

Die wichtigste Reform des Sozialsystems im Jahr 2005 war die Einführung des neuen Arbeitslosengelds II (ALG II, ugs. „Hartz IV“). Nach Ablauf der Bezugsdauer von ALG I konnten die Betroffenen ALG II bzw. „Hartz IV“ beantragen, eine niedrigere, aber dauerhafte Leistung mit festen Sätzen und strengen Auflagen. Dieses ALG II wurde Ende 2022 durch das Bürgergeld ersetzt (siehe weiter unten in diesem Kapitel).

Die Hartz-IV-Reformen verkürzten den Zeitraum, in dem eine Person ohne Erwerbsarbeit eine beitragsabhängige Arbeitslosenunterstützung beanspruchen konnte, konsolidierten und reduzierten die Niveaus der zuvor existierenden Arten von Arbeitslosen- und Sozialunterstützung und führten eine strengere Prüfung für die Anspruchsberechtigung sowie strenge Bedingungen ein, die es den Behörden erlaubten, Sozialleistungen für Antragstellende zu verweigern, die ihren Verpflichtungen zur Arbeitssuche nicht nachkamen.[26]

Die Regierung bietet zudem zwei Arten von Sozialleistungen für Menschen, die langfristig krank oder behindert sind: das Krankengeld (aus der gesetzlichen Krankenversicherung) und die Erwerbsminderungsrente.[27]

Die Diakonie Deutschland, der Wohlfahrtsverband der evangelischen Kirchen in Deutschland, sowie das Deutsche Institut für Menschenrechte und die Nationale Armutskonferenz, ein Zusammenschluss der deutschen Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege zur Armutsbekämpfung, haben unter aktiver Beteiligung von Menschen, die von Armut betroffen sind, alle betont, dass sichergestellt werden muss, dass Sozialleistungen ausreichen, um die Rechte von Betroffenen zu wahren, und dass Auflagen oder Sanktionen die Antragstellenden niemals unter das Existenzminimum fallen lassen dürfen (siehe Kapitel V dieses Berichts für eine ausführlichere Erörterung des Konzepts des Existenzminimums im deutschen Recht).[28]

Einige Expert*innen bezeichnen die Hartz-Reformen und insbesondere die Entwicklung von Hartz IV als eine „Working-Poor-Falle“, da dadurch niedrigere Löhne für prekäre Arbeit subventioniert wurden.[29] Die relativ rasche Erholung Deutschlands von der Finanzkrise 2007-2008, die von ihren Befürworter*innen oft den Arbeitsmarktreformen zugeschrieben wird, hatte einen hohen sozialen Preis: niedrige Löhne für viele und eine zunehmende wirtschaftliche Ungleichheit.[30]

Eine wachsende Niedriglohnwirtschaft

Rund 5 Millionen Menschen in Deutschland, also fast ein Zehntel der Erwerbstätigen, waren 2019 in prekären Arbeitsverhältnissen (oft in Form von Mini- und Midijobs) beschäftigt.[31] Minijobs sind geringfügige, zeitlich befristete Beschäftigungsformen, bei denen das Arbeitsentgelt von den Sozialversicherungsbeiträgen (und in einigen Fällen auch von den Steuern) befreit ist, sofern es entweder unter einer Einkommensgrenze (zum Zeitpunkt der Erstellung dieses Berichts 538 € pro Monat) oder innerhalb strenger zeitlicher Grenzen (70 Tage pro Kalenderjahr) liegt. Midijobs sind geringfügige Beschäftigungsformen, bei denen das Einkommen zwischen 538 € und 2.000 € liegen kann und Sozialversicherungsbeiträge zu einem reduzierten Satz auf einer gleitenden Skala zu zahlen sind.[32]

Im Jahr 2011 wurden fast zwei Drittel dieser geringfügig entlohnten Minijobs von Frauen ausgeübt, entweder als Hauptbeschäftigung oder als Zweitbeschäftigung zur Ergänzung einer schlecht bezahlten Hauptbeschäftigung.[33] Offizielle Daten, die von einer Arbeitsmarktexpertin analysiert wurden, zeigen, dass diese Verteilung von Minijobs bedeutete, dass die Arbeitsplätze von Frauen gering qualifiziert und niedrig entlohnt waren.[34] Tatsächlich zeigten die Daten für das Jahr 2022, dass trotz der hohen Beschäftigungsquote von Frauen in Deutschland (78 Prozent) fast die Hälfte der Erwerbstätigen (48,1 Prozent) in Teilzeit arbeiteten und 65 Prozent der 3,8 Millionen Menschen in geringfügigen Mini- und Midijobs Frauen waren.[35] Die Zunahme der Teilzeitbeschäftigung im Niedriglohnsektor hatte gravierende negative Auswirkungen auf Alleinerziehende, Menschen mit niedrigen Bildungsabschlüssen, Menschen mit Behinderungen und/oder Langzeiterkrankungen sowie auf Frauen, die in Teilzeit arbeiteten.[36] Eine Expertin hat diese Entwicklungen zusammengenommen als die „dunkle Seite“ der „glitzernden Fassade“ der Arbeits- und Sozialreformen der Regierung Schröder bezeichnet.[37]

Das Bürgergeld: „Hartz IV“ abgelöst oder neu verpackt?

Ende 2021 wurde im Programm der damaligen Regierungskoalition vorgeschlagen, das Arbeitslosengeld II bzw. „Hartz IV“ durch das Bürgergeld zu ersetzen.[38] Die Umsetzung, die Anfang 2023 begann, ist weit hinter den ursprünglichen Ambitionen zurückgeblieben.[39]

Obwohl ein einjähriges Moratorium für die Einbehaltung von Sozialleistungen für Personen versprochen wurde, welche die Anforderungen für die Arbeitssuche nicht erfüllten, setzte die damalige Regierung nur einen sechsmonatigen Zeitraum um, in dem die Sanktionen deutlich reduziert, aber nicht vollständig ausgesetzt wurden.[40] Zu den Pflichten bei der Arbeitssuche im Rahmen des Bürgergeldes gehören eine „Mitwirkungspflicht“ und eine „Meldepflicht“.[41] Im März 2024 beendete die Regierung eine vielversprechende Politik, die nur neun Monate zuvor eingeführt worden war und die Empfänger*innen des Bürgergelds, die eine berufliche Weiterbildung absolvierten, einen monatlichen Bonus von 75 € gewährte.[42]

Im Januar 2024, ungefähr zur gleichen Zeit, als er das Ende des Bürgergeldes ankündigte, nahm Arbeitsminister Hubertus Heil die „Faulheit“ unter den Leistungsempfänger*innen ins Visier und kündigte Pläne zur Wiedereinführung für „Totalsanktionen“ an, die es den Behörden erlaubten, bis zu zwei Monatsbeträge des Bürgergeldes (mit Ausnahme der Komponenten für Wohnen und Heizung) von Empfänger*innen einzubehalten, die wiederholt Arbeitsangebote ablehnen.[43]

Wie Save the Children Deutschland feststellte, treffen solche Totalsanktionen nicht nur die Sanktionierten selbst, sondern ebenso andere Mitglieder des Haushalts, auch Kinder; so bedeutet beispielsweise die Einbehaltung von zwei Monaten des Regelsatzes eines Elternteils 1.000 € weniger für das Haushaltsbudget und für alltägliche Ausgaben und Aktivitäten, die für das Wohlergehen eines oder mehrerer Kinder notwendig sind.[44] Im März 2024 wurde ein Gesetz verabschiedet, das die Möglichkeit von Totalsanktionen auch beim Bürgergeld vorsieht. Das Gesetz räumt Entscheidungsträger*innen das Ermessen ein, in Fällen „außergewöhnlicher Härte“ eine Totalsanktion nicht anzuwenden.[45]

Das Bürgergeld ist das mit Abstand größte der Sozialleistungsprogramme in Deutschland zur sozialen Mindestsicherung. Ende 2023 bezogen 7,5 Millionen Menschen eine Form der sozialen Mindestsicherung, 5,5 Millionen davon erhielten Bürgergeld.[46]

Die Angemessenheit der Regelsätze

Die Höhe des Bürgergeldes ist im Sozialgesetzbuch II (SGB II) festgelegt und richtet sich nach der Haushaltsgröße, der Haushaltszusammensetzung und einem eventuellen Erwerbseinkommen. Im Jahr 2023 waren von den 5,5 Millionen Bürgergeldempfänger*innen 1,5 Millionen Kinder unter 15 Jahren. Von den verbleibenden 4 Millionen waren etwa 20 Prozent erwerbstätig, 40 Prozent arbeitslos, aber für eine Beschäftigung verfügbar, und die restlichen 40 Prozent standen dem Arbeitsmarkt aufgrund von Betreuungs- oder Pflegeaufgaben oder der Teilnahme an einer Ausbildung, z.B. an einer Hochschule, nicht zur Verfügung.[47]

Der Regelsatz für Nichterwerbstätige lag zum Zeitpunkt der meisten unserer Interviews im Jahr 2023 bei 502 € pro Monat für einen alleinstehenden Erwachsenen und bei 1.198 € für einen alleinerziehenden Elternteil mit zwei Kindern, davon eines unter 6 Jahren und das andere zwischen 7 und 14 Jahren (als anschauliches Arbeitsbeispiel für einen Alleinerziehenden-Haushalt).[48]  Der Regelsatz für Nichterwerbstätige soll die Kosten für den Lebensunterhalt abdecken, einschließlich „Ernährung, Kleidung, Körperpflege, Hausrat und Haushaltsenergie“, und die „Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben“ ermöglichen.[49] In der Realität reicht der Regelsatz jedoch nicht aus, um diese Ausgaben zu decken, was dazu führt, dass einige Haushalte Schwierigkeiten haben, lebensnotwendige Dinge wie Nahrungsmittel und Strom oder andere Energieformen zu bezahlen, und dass in einigen Fällen die Empfänger*innen weit unter der offiziellen monetären Armutsgrenze bleiben, selbst wenn man andere Sozialleistungen oder Subventionen für Wohn- und Energiekosten berücksichtigt.

Die folgende Tabelle fasst die Höhe des Bürgergeldes für Personen ohne Erwerbseinkommen für verschiedene Haushaltstypen im Jahr 2023 in Bezug auf die Armutsgefährdungsschwelle zusammen. Dieser Vergleich verdeutlicht die Lücke zwischen der gewährten Leistung und der monetären Armutsgrenze.

Tabelle 3. Armutsgefährdungslücke für Haushalte, die ausschließlich Bürgergeld beziehen, im Vergleich zur monetären Armutsgefährdungsschwelle, nach Berücksichtigung der Wohnkosten (2023)

Haushaltstyp

Bürgergeld (EUR/Monat)

Armutsgefährdungs-grenze nach Wohnkosten (EUR/Monat)

Armutsgefährdungs-grenze nach Wohnkosten (EUR/Monat)

Alleinlebend

502

1016

51%

Alleinerziehend mit einem Kind von 0-5 Jahren

820

1321

38%

Alleinerziehend mit einem Kind von 6-13 Jahren

850

1524

44%

Alleinerziehend mit zwei Kindern unter 14 Jahren (6-13 Jahre)

1198

1626

26%

Zwei Erwachsene

902

1524

41%

Zwei Erwachsene mit einem Kind unter 14 Jahren

1250

1829

32%

Zwei Erwachsene mit zwei Kindern unter 14 Jahren

1598

2134

25%

Quelle: Grafik von Human Rights Watch, basierend auf Daten von https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/regelsaetze-erhoehung-2222924 (Bürgergeld); https://www.der-paritaetische.de/fileadmin/user_upload/Schwerpunkte/Wohnen/doc/Kurzexpertise_Wohnarmut_24_12_13.pdf (wohnkostenbereinigte Armutsquote).

Bezieher*innen von Bürgergeld haben Anspruch darauf, dass ihre Wohn- und Heizkosten bis zu den von den Kommunen festgelegten Höchstgrenzen vom Staat übernommen werden. Zur Ermittlung der Armutslücke - der Differenz zwischen den gewährten Leistungen und der Armutsgrenze - verwenden wir eine vom Paritätischen entwickelte, um Wohnkosten bereinigte Armutsgrenze.[50] Diese Schwelle basiert auf der Armutsgefährdungsschwelle (AROP), jedoch mit einem entscheidenden Unterschied: Sie zieht alle wohnraumbezogenen Kosten, einschließlich Heizkosten, vom Einkommen eines Haushalts ab. Da das verfügbare Einkommen nach Abzug der Wohnkosten berücksichtigt wird, ergibt sich ein genaueres Maß für das tatsächlich verfügbare Einkommen und ein deutlicherer Vergleich zwischen den Leistungsniveaus und der Armutsgrenze.

Trotz der Bestimmungen zur Deckung der Wohnkosten zahlen viele Bezieher*innen von Bürgergeld einen Teil ihrer Wohnkosten, da diese oft die von den Behörden festgelegten Obergrenzen überschreiten. Nach Angaben des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales wurden im Jahr 2023 für fast 320.000 Haushalte von Menschen, die Bürgergeld bezogen, die Wohnkosten nicht vollständig übernommen. Im Bundesdurchschnitt zahlten die Betroffenen 103 € pro Monat aus eigener Tasche.[51]

Das Bürgergeld liegt zwischen 26 und 51 Prozent unter der monetären Armutsgrenze für einen alleinstehenden Erwachsenenhaushalt.

Zwar gibt es für Bürgergeldempfänger*innen zusätzliche soziale Sicherungsprogramme, wie z.B. reduzierte Pendlerkosten, Zuschüsse für besondere Ernährungsbedürfnisse (z.B. für Diabetiker*innen) oder Zuschüsse für das Schulmittagessen - diese Maßnahmen sichern jedoch nicht unbedingt einen Lebensstandard oberhalb der Armutsgrenze, insbesondere angesichts steigender Lebenshaltungskosten.

 

Expert*innengruppen, die von Organisationen der Zivilgesellschaft unterstützt werden, die sich mit Arbeitslosenunterstützung und Kinderarmut befassen, schlagen weiterhin vor, das bestehende Niveau der finanziellen Unterstützung für arbeitslose Arbeitnehmer*innen und Familien deutlich zu erhöhen, um einen angemessenen Lebensstandard zu gewährleisten. Bislang blieb das Bürgergeld jedoch weit hinter diesen Zielen zurück.[52]

 

Expert*innen weisen unter Berufung auf Untersuchungen des Wissenschaftlichen Beirats beim Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft auch darauf hin, dass die derzeitige Höhe des Bürgergelds eine angemessene Ernährung als Schlüsselelement des Rechts auf einen angemessenen Lebensstandard nicht gewährleisten kann, und haben sich für eine solidere statistische Neuberechnung der Regelleistungssätze ausgesprochen, die eine gesunde Ernährung ermöglicht.[53]

 

Die Angemessenheit einer langfristigen Leistung wie des Bürgergeldes oder zuvor des ALG II hängt auch davon ab, dass die Kaufkraft der Leistung nicht erodiert.[54] Dazu sind gesetzliche und praktische Bestimmungen erforderlich, die eine regelmäßige Anpassung der Leistungen an die Entwicklung der Lebenshaltungskosten gewährleisten. Der Kaufkrafterosion entgegenzuwirken war in den letzten Jahren angesichts der starken Preisinflation im Jahr 2022 und bis ins Jahr 2023 hinein, die mit den Auswirkungen des russischen Einmarsches in der Ukraine im Februar 2022 zusammenhing, besonders wichtig. Bis 2023 war der Verbraucherpreisindex im Vergleich zu 2021 um durchschnittlich 7,9 Prozent gestiegen (im Oktober 2022 betrug der Anstieg gegenüber dem Vorjahresmonat 10,4 Prozent).[55] Besonders betroffen waren die Preise für Nahrungsmittel und Energie, was sich vor allem auf einkommensschwache Haushalte auswirkte, für die diese Posten einen größeren Anteil der monatlichen Ausgaben ausmachen. Ende 2022, als sich der Inflationstrend bereits verlangsamt hatte, lagen die Energiepreise für Haushalte um 34,7 Prozent höher als im gleichen Zeitraum des Vorjahres. Die Lebensmittelpreise waren um 20,7 Prozent gestiegen.[56]

Anfang 2022 erhöhte die Regierung die Regelsätze um weniger als 0,76 Prozent, während die allgemeine Preisinflation im August 2021 3,9 Prozent erreicht hatte.[57] Der damaligen Regierung ist zugutezuhalten, dass sie angesichts der starken Inflation und der Lebensrealität einkommensschwacher Haushalte im Jahr 2023, als sie das ALG II durch das Bürgergeld ersetzte, die Regelsätze um etwa 11 Prozent erhöhte.[58] Und auch für 2024 kündigte die Bundesregierung eine 12-prozentige Erhöhung des Bürgergeldes an, ebenso wie für viele andere Sozialleistungen.[59] Nach der Erhöhung im Jahr 2024 kündigte die Regierung jedoch ein Einfrieren des Leistungsniveaus im Jahr 2025 an und begründete dies mit ihrer Formel für die Berechnung der Regelsätze, wobei sie so weit ging zu sagen, dass nur ein gesetzlicher Schutz vor nominalen Kürzungen eine Reduzierung der Leistungen verhindere.[60]

Tabelle 4. Regelsätze für das Bürgergeld, 2023-2025

Haushaltstyp

Bürgergeld 2023

Bürgergeld 2024

Anstieg 2023-2024

Bürgergeld 2025

Anstieg 2024-2025

Alleinlebend

€ 502

€ 563

€ 61

€ 563

€ 0

Paare, pro Erwachsenen

€ 451

€ 506

€ 55

€ 506

€ 0

Pro Kind von 6-13 Jahren

€ 348

€ 390

€ 42

€ 390

€ 0

Pro Kind von 0-5 Jahren

€ 318

€ 357

€ 39

€ 357

€ 0

Quelle: Die Bundesregierung, „Regelsätze 2024 deutlich gestiegen“, 1. Januar 2024, https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/regelsaetze-erhoehung-2222924 (Zugriff am 30. Dezember 2024).

Organisationen der Zivilgesellschaft haben sowohl einzeln als auch gemeinsam den Beschluss zum Einfrieren der Leistungen verurteilt und auf das ihrer Meinung nach fehlerhafte statistische Berechnungsmodell für die Leistungssätze hingewiesen.[61] Die Entscheidung, die Leistungshöhe im Jahr 2025 einzufrieren, macht die Fortschritte zunichte, die durch die Erhöhungen in den Jahren 2023 und 2024 erzielt wurden, um den Schaden zu beheben, der dadurch entstanden ist, dass die Höhe der Sozialleistungen im vorangegangenen Zeitraum nicht mit der Inflation Schritt gehalten hat.

Soziale Sicherheit für Haushalte mit Kindern

Offiziellen Statistiken zufolge hat sich der Anteil der Kinder in Deutschland, die in Haushalten leben, die von Armut und sozialer Ausgrenzung bedroht sind, von etwa 12 Prozent aller Kinder im Jahr 2019 auf 24 Prozent im Jahr 2022 verdoppelt.[62] Die im Jahr 2022 veröffentlichten offiziellen Daten (basierend auf den Zahlen von 2021) zeigen, dass fast ein Drittel der deutschen Haushalte von Alleinerziehenden (33,2 Prozent) ein äquivalisiertes Haushaltsnettoeinkommen von weniger als 16.300 Euro (einschließlich Einkommen aus Sozialleistungen) hatte, und fast ein weiteres Drittel (31,4 Prozent) hatte ein Einkommen zwischen 16.300 und 22.000 Euro. Auch bei kinderreichen Familien, definiert als Haushalte mit zwei Erwachsenen und mehr als drei Kindern, hatte fast ein Drittel (30,2 Prozent) ein Haushaltseinkommen von unter 16.300 Euro, und ein weiteres Viertel (27,1 Prozent) hatte ein Einkommen zwischen 16.300 und 22.000 Euro.[63] Laut den jüngsten verfügbaren offiziellen Daten aus dem Jahr 2023 lag die Einkommensschwelle, unterhalb derer eine Familie mit zwei Erwachsenen und zwei Kindern (beide unter 14 Jahren) als armutsgefährdet oder von sozialer Ausgrenzung bedroht gelten würde, bei 33.108 Euro.[64] Für Haushalte von Alleinerziehenden und solchen mit zwei Erwachsenen und drei Kindern lagen die entsprechenden Einkommensschwellen für das Risiko von Armut oder sozialer Ausgrenzung bei 29.952 € bzw. 37.836 €.[65]

Ein komplexes System von kinderbezogenen Programmen der sozialen Sicherung

Der deutsche Staat bietet ein komplexes Spektrum von kinderbezogenen Programmen der sozialen Sicherung, von denen einige allgemeine Leistungen sind, die allen zur Verfügung stehen. Andere wiederum sind einkommensabhängig und erfordern die regelmäßige Vorlage von Einkommens- und in einigen Fällen auch Vermögensnachweisen, um den fortgesetzten Anspruch zu gewährleisten.

Das Kindergeld ist eine allgemeine Leistung (250 € pro Kind und Monat ab Januar 2023), die für alle Kinder bis zum Alter von 18 Jahren gewährt wird. Für Kinder, die ihre Ausbildung über das 18. Lebensjahr hinaus fortsetzen, z.B. in Form einer Ausbildung oder eines Hochschulstudiums, kann das Kindergeld bis zum 25. Lebensjahr weitergezahlt werden.[66] Eltern, die über ein geringes Einkommen verfügen, können je nach ihren Lebensumständen den Kinderzuschlag und das Bildungspaket beantragen, mit dem Kosten für den Schulbedarf gedeckt werden können.[67]

Die Höhe des Elterngelds hängt vom Einkommen im Jahr vor der Geburt des Kindes ab. Es steht allen Eltern zu, die ihr Kind oder ihre Kinder während der ersten 14 Lebensmonate in Voll- oder Teilzeit betreuen.[68] Eltern mit einem höheren Einkommen erhalten 65 Prozent, während Eltern mit einem niedrigeren Einkommen (unter 1.000 Euro pro Monat) bis zu 100 Prozent ihres früheren Einkommens erhalten können. Die Spanne des Elterngeldes reicht von 300 € bis 1.800 € pro Monat.[69]

Drei weitere Formen der Unterstützung sind für Alleinerziehende von besonderer Bedeutung. Einige Alleinerziehende können je nach Bedürftigkeit und Lebenssituation Anspruch auf Sozialhilfe haben, die je nach Anzahl und Alter der Kinder unterschiedlich hoch ausfällt.[70] In Fällen, in denen ein Elternteil, der für die Zahlung des staatlich geregelten Mindestunterhalts verantwortlich ist, nicht an den anderen Elternteil zahlt oder nicht zahlen kann, kann der Elternteil, bei dem das Kind lebt, einen Unterhaltsvorschuss erhalten.[71] Für Alleinerziehende gibt es zudem eine Form der steuerlichen Entlastung.[72]

Auf Landes- oder kommunaler Ebene kann es zusätzliche Formen der Unterstützung geben, z.B. kleine Zuschüsse für den Kauf eines Laptops, der für die Schule benötigt wird, oder kostenlose bzw. ermäßigte Beförderung für Kinder (entweder einkommensunabhängig und ausschließlich altersabhängig oder einkommensabhängig).

Einige Personen, die eine oder mehrere Leistungen der oben beschriebenen Formen der sozialen Sicherung erhalten, können unabhängig davon, ob sie Kinder haben, auch Anspruch auf ein einkommensabhängiges Wohngeld und einen Heizkostenzuschuss haben.[73]

Im Jahr 2022 forderte der UN-Ausschuss für die Rechte des Kindes die deutsche Bundesregierung auf, im Rahmen einer nationalen Strategie für Kinderarmut „die Grundursachen von Kinderarmut zu bekämpfen und sicherzustellen, dass alle Kinder über einen angemessenen Lebensstandard verfügen“, und führte weiter aus, dass eine solche Strategie „eine Reform der Sozialleistungen auf Grundlage eines angemessenen Existenzminimums und ein stärkeres Berechnungsverfahren, das weitere zur Anspruchsberechtigung beitragende Faktoren berücksichtigt“ umfassen sollte.[74]  Der Ausschuss wies insbesondere auf die Situation von Alleinerziehenden und anderen Kindern in benachteiligten Familien hin.[75]

Zusätzlich zu den Bedenken hinsichtlich der Angemessenheit der wichtigsten Leistungen kann die schiere Vielfalt und Komplexität der Leistungen selbst Probleme für die Menschen bedeuten, die versuchen, sie in Anspruch zu nehmen. Das kann zu einer hohen Quote der Nichtinanspruchnahme beitragen. Die Antragsverfahren für diese Leistungen sind mitunter mit aufwändigen Dokumentationspflichten verbunden; einige Bundesländer haben für einige oder alle von ihnen verwalteten Leistungen Online-Antragsverfahren, andere nicht. Einige Arten von Leistungsanträgen können nur in einer bestimmten Reihenfolge ausgefüllt werden, z.B. wenn eine andere Art von Leistung beantragt und bewilligt wurde, oder wenn andere Arten von Leistungen beantragt und abgelehnt wurden oder für einen früheren Zeitraum abgelehnt wurden. Für den Kinderzuschlag - eine einkommensabhängige Leistung - muss alle sechs Monate ein neuer Antrag gestellt werden, wobei in vielen Fällen bei jedem Antrag die gleichen Unterlagen vorgelegt werden müssen. Solche Hürden tragen erheblich zur Nichtinanspruchnahme von Leistungen bei, die beim Kinderzuschlag besonders ausgeprägt ist. Eine Studie des Deutschen Jugendinstituts ergab, dass bis zu 70 Prozent der anspruchsberechtigten Haushalte diese Leistung nicht in Anspruch nehmen.[76]

Stillstand bei den Vorschlägen für eine Kindergrundsicherung

Die Ampelkoalition begann bei ihrem Amtsantritt im Dezember 2021 vielversprechend mit Schritten zur Einführung einer neuen, einheitlichen Geldleistung für Haushalte mit Kindern und bezeichnete deren Umsetzung als „ein großes Vorhaben der Bundesregierung und aller sie tragenden Parteien“.[77] Die Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend hat im September 2023 einen Gesetzentwurf zur Einführung einer flächendeckenden Kindergrundsicherung vorgelegt und dabei insbesondere auf die Bedeutung eines koordinierten staatlichen Handelns zur Bekämpfung von Kinderarmut und den Abbau bürokratischer Hürden und der Komplexität der Antragsverfahren hingewiesen.[78] Das Bundeskabinett gab noch im selben Monat grünes Licht für den Vorschlag und versprach, bis Januar 2025 ein Gesetz zur Umsetzung zu verabschieden.[79]

Der Vorschlag wurde jedoch von Anfang an gebremst, vor allem aufgrund von Streitigkeiten innerhalb der damaligen Regierungskoalition, über den Anwendungsbereich und den Zweck. Das im Gesetzentwurf vorgeschlagene Kindergrundeinkommen änderte die Berechnung der Regelsätze nicht wesentlich und schloss Familien mit Kindern, die asylbezogene Leistungen beziehen, aus.[80] In einem Bericht der Diakonie Deutschland und des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW Econ) vom August 2023 wird argumentiert, dass das geplante Budget von 12 auf 20 Milliarden Euro aufgestockt werden müsste, um die angestrebte Wirkung gegen Kinderarmut zu erzielen.[81] Der Bericht legte auch Modellrechnungen vor, die zeigen, dass eine Erhöhung der kinderbezogenen Transferleistungen um 50 und 100 Euro pro Monat zu einer Verringerung der Kinderarmut führen könnte, wobei die Auswirkungen für Alleinerziehende erheblich wären.[82] Das Bündnis Kindergrundsicherung, ein Zusammenschluss von mehr als 30 zivilgesellschaftlichen Organisationen und sozialpolitischen Expert*innen, hat ebenfalls höhere Kindergeldleistungen gefordert, um Armut und auch die zunehmende Ungleichheit zu bekämpfen.[83] Eine Vielzahl von zivilgesellschaftlichen Akteuren und kirchlichen Organisationen forderte die Regierung zu einer sachgerechten Neuberechnung des vielseits kritisierten Existenzminimums auf.[84] Zwanzig von ihnen forderten von der Regierung zudem, Kinder aus asylsuchenden Familien in die Leistung einzubeziehen und sicherzustellen, dass das Recht der Kinder auf Freiheit von Armut nicht den Zielen der Migrationspolitik untergeordnet wird.[85]

Die Fortschritte bei dem Vorschlag wurden durch den allgemeinen Haushaltsdruck und die anhaltenden Meinungsverschiedenheiten innerhalb der Regierungskoalition über die Idee einer Kindergrundsicherung weiter behindert, bis die Koalition schließlich zusammenbrach.[86] Zum Zeitpunkt der Erstellung dieses Berichts war die Gesetzgebung ins Stocken geraten, und ob überhaupt eine Version des Vorschlags weitergeführt wird, hängt von der Agenda der künftigen Bundesregierung ab.

Eine neue, korrekt berechnete und gut finanzierte, universelle Kindergrundsicherung als Sozialleistung würde Haushalten mit Kindern helfen, die unter finanziellem Druck stehen, zumal nicht alle diese Haushalte in der Lage sind, die verfügbaren zusätzlichen einkommensabhängigen Programme für Kinder in vollem Umfang in Anspruch zu nehmen. Es würde dazu beitragen, die derzeitigen Schwierigkeiten bei der Beantragung solcher Leistungen, abgelehnte Anträge und Fälle von Nichtinanspruchnahme zu reduzieren. Eine starke, inklusive Kindergrundsicherung würde auch Deutschlands Engagement für die internationalen Menschenrechte demonstrieren, als direkte und positive Antwort auf die Abschließenden Bemerkungen des UN-Ausschusses für die Rechte des Kindes aus dem Jahr 2022 zum allgemeinen Kindergeld.[87]

Andere strukturelle Faktoren: Organisation des Schultages und schulbezogene Kosten

Für alleinerziehende Mütter mit geringem Einkommen kann es zermürbend sein, einen Spagat zwischen Niedriglohn, oft Teilzeitarbeit, Kinderbetreuungspflichten und dem mühsamen Prozess der Beantragung der verschiedenen kinderbezogenen Sozialleistungen zu schaffen. Alleinerziehende, die arbeitslos oder aufgrund einer Langzeiterkrankung arbeitsunfähig sind und Sozialhilfe beziehen, haben ebenfalls Schwierigkeiten. Die Höhe der Unterstützung ist oft unzureichend, vor allem angesichts der unverhältnismäßig starken Auswirkungen des Anstiegs der Energie- und Lebensmittelpreise in den Jahren 2022 und 2023 auf Haushalte mit geringem Einkommen.

Darüber hinaus haben strukturelle Faktoren wie die Organisation des Schultages, die mit der Bildung verbundenen Kosten und das weit verbreitete Fehlen kostenloser oder preisgünstiger Schulmahlzeiten geschlechtsspezifische Auswirkungen auf alleinerziehende Mütter, die es ihnen unmöglich machen, sich für bestimmte Stellen zu bewerben, und die ihr ohnehin begrenztes Einkommen belasten.[88]

 

Die Grund- und Sekundarschulbildung ist in Deutschland für alle Kinder in allen Bundesländern bis zum Alter von 16 Jahren kostenlos.[89] Allerdings müssen die Familien die mit dem Schulbesuch verbundenen Kosten (Mittagessen, Beförderung, Schulausflüge und Schulmaterial) selbst tragen, wobei unter bestimmten Bedingungen Zuschüsse für Familien mit geringem Einkommen oder für Familien mit Kindern mit Behinderung gewährt werden.

In vielen Bundesländern ist der Schultag auf den Vormittag beschränkt, was Eltern (aufgrund der noch vorherrschenden gesellschaftlichen Normen vorwiegend Frauen) daran hindern kann, voll am Arbeitsmarkt teilzunehmen, einen Vollzeitlohn zu verdienen und somit voll in die Rentenversicherung einzuzahlen.
 

In Anerkennung dieser Herausforderungen verabschiedete die damalige Regierung im Oktober 2021 ein Bundesgesetz, mit dem das Grundschulangebot zwischen 2026 und 2030 schrittweise auf fünf Acht-Stunden-Tage pro Woche und Kind erhöht wird und das Bundesmittel vorsieht, um die Länder bei der Umsetzung zu unterstützen und eine größere Einheitlichkeit und den Austausch bezüglich geeigneter Prozesse zu gewährleisten.[90]
 

II. „Ein Loch, aus dem ich nicht herauskomme“: Alleinerziehende, denen das Nötigste fehlt

Haushalte mit Alleinerziehenden sind in Deutschland überproportional stark von Armut betroffen. Der Paritätische Armutsbericht 2024 stellt fest, dass von den 1,7 Millionen Alleinerziehenden schätzungsweise fast 40 Prozent in Einkommensarmut leben, verglichen mit 8 Prozent der Zweielternfamilien mit einem Kind und 30 Prozent der Zweielternfamilien mit drei oder mehr Kindern unter 18 Jahren. Alleinerziehende Mütter, die acht von zehn Alleinerziehenden ausmachen, sind besonders gefährdet. Verschärft wird diese Situation durch die Tatsache, dass fast die Hälfte aller Kinder in Familien, die Bürgergeld beziehen, bei nur einem Elternteil leben.[91]

Theresa A., 45, arbeitet in Teilzeit in einem Kindergarten und lebt mit ihren beiden Kindern im Alter von 10 und 12 Jahren zur Miete in einer 2-Zimmer-Wohnung am Stadtrand von Stuttgart. Sie ist seit acht Jahren alleinerziehend. Eines ihrer Kinder hat eine Entwicklungsbeeinträchtigung, was erhöhte Unterhaltskosten für den Haushalt mit sich bringt. In einem Interview mit Human Rights Watch erläuterte sie ihre monatlichen Einnahmen und Ausgaben bis auf den Cent genau.

Theresa A. bezieht ein monatliches Nettoeinkommen zwischen 2.200 und 2.500 € aus ihrer Teilzeitbeschäftigung, Kindergeld, Kinderzuschlag und dem vom Vater der Kinder gezahlten Unterhalt. Über ihren Antrag auf Wohngeld war zum Zeitpunkt der Befragung seit sechs Monaten nicht entschieden worden. Theresa A. ist der Ansicht, dass ihr älteres Kind seit seinem 12. Geburtstag auch Anspruch auf mehr Unterhalt vom Kindesvater hat, aber sie müsste einen Antrag beim Jugendamt stellen, wozu sie zwischen Teilzeitarbeit und Betreuungspflichten keine Zeit findet. Der Antrag von Theresa A. bei den örtlichen Behörden auf Bargeldhilfe (über den Kinderzuschlag) zur Deckung der Kosten für Schule, Transport und außerschulische Aktivitäten war zum Zeitpunkt des Gesprächs kürzlich abgelehnt worden. Die Miete für ihre Wohnung (einschließlich Gas und Müllabfuhr) belief sich zum Zeitpunkt der Befragung auf 950 € pro Monat, so dass sie nach Abzug der Wohnkosten über ein Einkommen von 1.250 bis 1.550 € pro Monat verfügte, was somit bisweilen deutlich unter der Armutsgrenze von 1.626 € nach Abzug der Wohnkosten lag.

Theresa A. erklärte, dass ihr nach der Zahlung anderer Nebenkosten, der außerschulischen Aktivitäten ihrer Kinder und des Transports noch etwa 400-600 € pro Monat für Lebensmittel, Hygieneartikel, Kleidung und andere wichtige Ausgaben für ihre Familie bleiben. Am Ende des Monats geht ihr jedoch oft das Geld aus, so dass sie nicht in der Lage ist, Lebensmittel zu bezahlen, und auch medizinische Kosten wie etwa für Brillen und kieferorthopädische Behandlungen für ihre Kinder, die derzeit nicht von der gesetzlichen Krankenversicherung übernommen werden, können hinzukommen. Aufgrund ihrer Arbeit und der Kinderbetreuung kann sie auch nicht die Stunden erübrigen, die oft nötig sind, um bei der nächstgelegenen Tafel für Lebensmittel anzustehen. Sie erläuterte, welche Auswirkungen es für sie hat, wenn sie nicht in der Lage ist, für Nahrungsmittel und andere lebenswichtige Dinge für ihre Kinder zu bezahlen. Sie sagte:

Ich schaue am Monatsende nicht mehr auf mein Konto... das ist ein Schutzmechanismus. Es fühlt sich beschissen an. Ich fühle mich, als säße ich in einem Loch, aus dem ich nicht herauskomme. Ich kann mir nicht helfen. Ich kann nicht mehr Stunden arbeiten, weil die Kinder Betreuung oder Therapie brauchen. Was soll ich machen?[92]

Die Situation von Theresa A. ist typisch für viele alleinerziehende Mütter, die von Human Rights Watch befragt wurden. Alleinerziehende Mütter mit Voll- oder Teilzeitbeschäftigung beschrieben einen endlosen Kampf, um ihre Familien mit ihren niedrigen Monatslöhnen und Sozialleistungen zu unterstützen, und dass sie gezwungen sind, grundlegende Dinge zu rationieren oder darauf zu verzichten, um ihre Kinder zu versorgen. Wie Theresa A. arbeiten die meisten Alleinerziehenden - 71 Prozent der alleinerziehenden Mütter und 87 Prozent der alleinerziehenden Väter.[93] Für Alleinerziehende und insbesondere für Mütter, die nur ein geringes Einkommen haben, kann der Spagat zermürbend sein zwischen Niedriglohn- und oft Teilzeitarbeit, Kinderbetreuungspflichten, der Sicherstellung der korrekten Höhe der Unterhaltszahlungen für die Kinder und dem mühsamen Prozess der Beantragung der verschiedenen kinderbezogenen Sozialleistungen.[94]

Zum Zeitpunkt unseres Gesprächs hatte Maggie D., eine 36-jährige alleinerziehende Mutter eines kleinen Kindes, fünf Monate lang 30 Stunden pro Woche im Bereich Wartung und Instandhaltung gearbeitet. Ihr monatliches Einkommen betrug 1.930 €, zusammengesetzt aus 1.368 € Lohn, 250 € Kindergeld sowie 312 € Unterhalt von ihrem ehemaligen Partner. Ihr Antrag auf Wohngeld war bereits seit mehreren Monaten anhängig, ihr Antrag auf Kinderzuschlag war abgelehnt worden. Die Gemeinde bezuschusste die Kosten für den Ganztagskindergarten ihres Kindes, nicht jedoch die Kosten für das Mittagessen im Kindergarten.

Nach Abzug von Steuern und Sozialversicherungsbeiträgen verblieb ihr ein Nettolohneinkommen von etwa 1.700 € pro Monat. Die Miete für die Zwei-Zimmer-Wohnung, in der sie mit ihrem Kind lebt, betrug 600 €, so dass ihr nach Abzug der Wohnkosten 1.100 € verblieben, was deutlich unter der um Wohnkosten bereinigten monetären Armutsgrenze für eine*n Alleinerziehende*n mit einem Kind (1.321 €) liegt.

Maggie D. ging während des Gesprächs ihre sorgfältig geordneten Konten und ihr monatliches Budget durch und erklärte, dass es keinen Spielraum für Fehler gibt, besonders wenn das Monatsende näher rückt. Sie erzählte uns:

Am Ende des Monats frage ich mich, warum ich arbeiten gehe, warum die Dinge so ungerecht sind. Ich bin berufstätig, stehe jeden Morgen auf, ich bin nicht dumm, und doch habe ich Schwierigkeiten, die Dinge im Laden zu bezahlen. Es ist das überwältigende Gefühl der Ungerechtigkeit, mit dem ich mich nicht abfinden kann ... Was passiert, wenn sich die Situation noch verschlechtert? Ich mache mir Sorgen über die Zukunft: Kann mein Kind dann nur noch Haferflocken mit Wasser zum Frühstück bekommen?[95]

Maggie D. schläft auf dem Boden im Hauptraum (Wohnzimmer/Küche/Esszimmer) ihrer 2-Zimmer-Wohnung und heizt diesen Raum nur, wenn ihr Kind vom Kindergarten nach Hause kommt. Im zweiten Zimmer, in dem ihr Kind schläft, dreht sie die Heizung auf, damit es dort angenehm ist. Sie hofft, dass sich ihre finanzielle Lage und ihre Lebenssituation mit ihrer neuen Arbeit bessern werden.

Die Befragten, die Bürgergeld (und zuvor ALG II) erhielten, berichteten, dass dies, selbst wenn es durch andere behinderten- und kinderbezogene Leistungen ergänzt wurde, nicht ausreichte, um das Lebensnotwendige zu bezahlen. Kaja M., 46, ist eine Aktivistin im Kampf gegen Armut und Schriftstellerin. Sie lebt mit ihrer 10-jährigen Tochter in einer Mietwohnung in einer Stadt in Schleswig-Holstein. Sie erhält eine Erwerbsminderungsrente, die durch das Bürgergeld (ALG II vor Januar 2023) und das Kindergeld aufgestockt wird. Außerdem erhält sie von der Gemeinde Unterstützung bei den Wohnkosten, der Gasrechnung und einigen Kosten (aber nicht für das Mittagessen) im Zusammenhang mit dem Schulbesuch ihrer Tochter. Ihr monatliches Gesamteinkommen aus Sozialleistungen betrug 934 €. Selbst wenn man berücksichtigt, dass die Gemeinde die vollen Mietkosten für die Wohnung von Kaja M. und ihrer Tochter übernimmt, liegt sie mit diesem Einkommen deutlich unter der um Wohnkosten bereinigten Armutsgrenze von 1.524 €. Kaja M. erklärte, dass sie regelmäßig bestimmte Lebensmittel - Gemüse, Milchprodukte und Eier - einspart und alle ein bis zwei Wochen Lebensmittel bei der örtlichen Tafel abholt.[96]

Lisbeth C., 43, ist eine alleinerziehende Mutter von drei Kindern, die in zwei Jobs arbeitet - am Empfang in einem Büro und im Homeoffice als Callcenter-Mitarbeiterin - im ländlichen Sachsen. Eines ihrer Kinder leidet an einer Krankheit, die bisweilen zu Schulversäumnissen führt und in der Vergangenheit einen Krankenhausaufenthalt erforderlich gemacht hat. Zusätzlich zu dem Lohn aus ihren beiden Jobs erhält Lisbeth C. Kindergeld und die Unterhaltszahlungen des Vaters, hat aber dennoch Schwierigkeiten, über die Runden zu kommen.

Vergangenen Monat musste ich in der letzten Woche des Monats mit 10 Euro auskommen. Das ist eine schlimme Situation. Ich habe meinen älteren Kindern schon gesagt, dass sie Pfandflaschen einsammeln sollen, die sie auf der Straße sehen. Wir sammeln auch Altpapier in der Nachbarschaft und verdienen dabei etwa 7 Cent pro Kilo. Manchmal hilft mir das, die letzten drei oder vier Tage des Monats zu überstehen, und ich kann Brot kaufen. Es bricht einem das Herz. Ich kann es mir nicht leisten, meine Kinder gesund zu ernähren. Es ist ein bitteres Gefühl, wenn man am Ende des Monats nur noch Brot und Butter hat. ... Es zerreißt einen... Es ist erdrückend.[97]

Lisbeth C. erklärte, dass sie angesichts der steigenden Lebensmittelpreise weniger Lebensmittel kauft, mehr Weißbrot und Kartoffeln isst, selten Salat oder Fleisch. Sie ist zudem auf eine Bäckerei angewiesen, die vor 6 Uhr morgens Brot zu reduzierten Preisen verkauft. Lisbeth C. sagte, sie lasse regelmäßig Mahlzeiten ausfallen und begnüge sich manchmal mit der Kruste des Brots ihres jüngsten Kindes und mit Möhrenschalen. Während des Gesprächs sagte Lisbeth C., ihr monatliches Einkommen sei zu hoch, als dass ihre Kinder kostenlose Schulmahlzeiten erhalten könnten oder ihr jüngstes Kind einen kostenlosen Kindergartenplatz bekäme (obwohl sie als Alleinerziehende einen ermäßigten Tarif von 120 € pro Monat zahlte). Ihre Ausgaben beliefen sich auf 350 € pro Monat für die Mahlzeiten in der Schule der beiden älteren Kinder und im Kindergarten des jüngsten Kindes. Auf die Frage, was eine kostenlose Schulspeisung für ihre Familie bedeuten würde, antwortete sie:

Wenn ich nichts für das Schulessen zahlen müsste, wenn ich nur diese Kosten einsparen könnte und wieder 350 € mehr im Monat für Lebensmittel hätte, dann könnten wir gesünder essen. Wir könnten Salat kaufen, sogar Äpfel oder Käse. Ich könnte meinen Kindern einen Kuchen backen.[98]

Armut und eine schlechte psychische Verfassung stehen in einem direkten Zusammenhang zueinander: Armut und systemische oder strukturelle Marginalisierung verschlechtern häufig die psychische Gesundheit, und psychische Probleme wiederum verschlechtern die wirtschaftliche Leistung des/der Einzelne*n.[99] Die meisten der befragten Alleinerziehenden gaben an, es sei zermürbend, über einen langen Zeitraum mit einem niedrigen Einkommen über die Runden kommen zu müssen. Dies galt besonders für jene, deren physische und psychische Gesundheit beeinträchtigt war.[100]

Lisbeth C. beschrieb die Auswirkungen auf ihre psychische Gesundheit so:

Eigentlich opferst du alles: deine Gesundheit, deinen Schlaf, deine Energie und deine gesamte Freizeit. Am Ende fühlst du dich wie eine Maschine. Du funktionierst Tag für Tag, egal ob du 40 Grad Fieber hast, ob du müde bist oder mit einer Migräne kämpfst. Du musst immer funktionieren, es geht gar nicht anders. [...] Du kommst nie zur Ruhe. Selbst wenn man mal zwei Stunden Zeit hat, denkt man ständig darüber nach, was noch zu tun ist, welche Formulare man noch ausfüllen muss, oder wie man das hinkriegt. Man hat das Gefühl, zu verschwinden, als würde man einfach nicht mehr existieren.[101]

Tamara I., 43, war bis 2022 als Jugendbetreuerin in einer Stadt in Sachsen tätig, als sie aufgrund von chronischen körperlichen Schmerzen und Depressionen arbeitsunfähig wurde. Tamara I. hat einen Sohn im Teenageralter und ist alleinerziehend. Sie hatte sich bereits während der Schwangerschaft vom Vater des Kindes getrennt. Sie erhält Krankengeld von der gesetzlichen Krankenversicherung, Kindergeld vom Staat und Unterhalt vom Vater des Kindes. Zum Zeitpunkt unseres Gesprächs war Tamara I. mit ihrem Sohn jedoch kürzlich in eine kleine Wohnung umgezogen, weil sie sich die Miet- und Energiekosten zuvor nicht mehr leisten konnte. Tamara I. beschrieb das Gefühl der Hoffnungslosigkeit, das sie als Alleinerziehende mit niedrigem Lohn und unzureichendem Einkommen hat und das ihre Depression verstärkt. Dies wiederum wirkt sich negativ auf ihre körperlichen Schmerzen aus. Tamara I. sagte:

Wir müssen ständig sparen, um über den Monat zu kommen. ... Es ist anstrengend, immer auf jeden Cent achten zu müssen und überall nach den billigsten Angeboten zu suchen. Das ist kräftezehrend und frustrierend. Ich bekomme schon zu Beginn des Monats nicht genügend Geld.... Als mein Sohn jünger war, hatte ich noch gehofft, dass alles besser wird. Jetzt, wo seine Kindheit fast vorbei ist, wird einem klar, dass es wahrscheinlich nicht mehr besser wird, das macht mich wütend. Und man sieht auch für sich selbst keinen Hoffnungsschimmer. Das hat meine Krankheit noch schlimmer gemacht.[102]

Tamara I. heizt nur ihr Wohnzimmer und das Zimmer ihres Sohnes, wenn er zu Hause ist, und sagt, sie könne es sich nicht leisten, ihr eigenes Schlafzimmer zu heizen. Sie stellte fest, dass sie kürzlich aus bürokratischen Gründen eine Energiebeihilfe von 300 € verpasst hatte, weil diese in den Zeitraum zwischen ihrer Angestelltentätigkeit und ihres Krankengeldbezugs fiel.


 

III. Unzureichende Renten, Altersarmut und das geschlechtsspezifische Rentengefälle

Offizielle Daten zeigen, dass der Prozentsatz der Menschen ab 65 Jahren, die von Armut oder sozialer Ausgrenzung bedroht sind (AROPE), von 11 Prozent im Jahr 2005 auf 15,7 Prozent im Jahr 2019 gestiegen ist - der stärkste Anstieg von allen Altersgruppen.[103] Bis 2023 erreicht er 20,6 Prozent, wobei jeder fünfte Mensch im Alter ab 65 Jahren unter die AROPE-Schwelle fällt, die mehrere Faktoren berücksichtigt.[104]

Die Daten zeigen auch ein deutliches Geschlechtergefälle. Mehr als 38 Prozent aller Frauen, die im Jahr 2021 eine Altersrente bezogen, erhielten weniger als 1.000 Euro pro Monat (d.h. weniger als 12.000 Euro pro Jahr). Bei den Männern erhielten 14,7 Prozent eine Altersrente mit solch einem niedrigen Betrag.[105] Selbst wenn man Frauen mit etwas höheren Renteneinkommen berücksichtigt, mussten mehr als zwei Drittel (68 Prozent) aller Frauen ab 65 Jahren mit einem Einkommen von weniger als 1.500 Euro pro Monat auskommen.[106] Im Jahr 2023 waren 22,8 Prozent der Frauen im Alter ab 65 Jahren von Armut oder sozialer Ausgrenzung bedroht (unter Verwendung des AROPE-Indikators, der mehrere Faktoren berücksichtigt), verglichen mit 17,9 Prozent der Männer in der gleichen Altersgruppe. Insgesamt 20,6 Prozent der Frauen ab 65 hatten ein Einkommen unterhalb der monetären Armutsgrenze, verglichen mit 15,7 Prozent der Männer im entsprechenden Alter.[107]

Die Ungleichheit zwischen den Geschlechtern ist größtenteils auf die Gestaltung des Rentensystems zurückzuführen, die zu niedrigen Renten für Menschen mit niedrigeren Löhnen führt, sowie auf historisch unterbewertete Zeiten, die durch Betreuungs- und Pflegearbeit unterbrochen wurden und die häufiger Frauen betreffen.[108] Eine Studie des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend aus dem Jahr 2021 hat ergeben, dass das Armutsrisiko für Frauen ab 80 Jahren im Vergleich zu Männern im gleichen Alter noch höher ist.[109]

Öffentliche Rentenbestimmungen für ältere Menschen

Wie in vielen anderen Ländern gibt es auch in Deutschland ein komplexes Rentensystem mit öffentlichen und privaten Teilen, das aus beitragsabhängigen Programmen und beitragsunabhängigen Zusatzprogrammen besteht. Das wichtigste Programm hierbei ist die gesetzliche Rente, in welche die meisten Arbeitnehmer*innen und Arbeitgeber*innen einzahlen müssen. Darüber hinaus gibt es freiwillige betriebliche und private Rentenversicherungen, welche die gesetzliche Rente ergänzen. Für diejenigen, deren Renteneinkommen nicht ausreicht, bietet die Grundrente eine Aufstockung. Schließlich gibt es noch die Grundsicherung, ein beitragsunabhängiges Programm, das eine Bedürftigkeitsprüfung voraussetzt und Personen, welche die Beitragsvoraussetzungen für die gesetzliche Rente nicht erfüllen, ein Einkommen bietet. Betriebliche und private Renten sowie Pensionen für Beamt*innen werden in diesem Bericht nicht behandelt.

Gesetzliche Rentenversicherung

Die gesetzliche Rentenversicherung (GRV) verpflichtet Arbeitgeber*innen und Beschäftigte (in den meisten Branchen), einen festen Betrag ihres Bruttoeinkommens zur Rente der Arbeitnehmer*innen beizusteuern (18,6 Prozent im Jahr 2022, wobei die Hälfte vom Arbeitgeber getragen wird).[110] Selbstständige, die nicht beitragspflichtig sind, können freiwillig in die Rentenkasse einzahlen. Im Jahr 2023 waren 87,1 Prozent der Erwerbstätigen und der als arbeitslos gemeldeten Personen, die Arbeitslosengeld bezogen, in der GRV versichert.[111] Von den verbleibenden 12,9 Prozent der Personen, die im Jahr 2023 nicht in der gesetzlichen Rentenversicherung versichert waren, waren 33 Prozent Selbstständige. Bei fast einem Viertel (23,5 Prozent) ging das Statistische Bundesamt davon aus, dass es sich „überwiegend um geringfügig Beschäftigte“ handelte. Darunter versteht man Beschäftigungen von kurzer Dauer und Arbeitsverhältnisse, bei denen der Verdienst eine gesetzlich festgelegte Höchstgrenze nicht überschreitet, wie zum Beispiel Minijobs.[112]

Ein hoher Deckungsgrad bedeutet jedoch nicht, dass die Rentenbezüge angemessen sind. Der allgemeine Beitragssatz für Personen in stabilen, nicht prekären Beschäftigungsverhältnissen beträgt 18,6 % des Einkommens, wobei die Hälfte von der/dem Arbeitnehmer*in und die andere Hälfte von der/dem Arbeitgeber*in getragen wird. Niedrige Beiträge oder häufige Unterbrechungen der Beitragszahlungen können jedoch zu einer relativ niedrigen gesetzlichen Rente im Ruhestand führen. So können beispielsweise Personen, die hauptsächlich in Minijobs gearbeitet haben - die häufig mit minimalen oder gar keinen Rentenbeiträgen verbunden sind - nur geringe oder gar keine Ansprüche auf eine gesetzliche Rente haben, was ihr Armutsrisiko im Alter drastisch erhöht.[113]

Wer als Erwachsener nach Deutschland kommt und weniger als die angenommene durchschnittliche Anzahl von Arbeitsjahren (derzeit 39,6 Jahre) in die Rentenkasse einzahlt, erhält auch geringere Renten.[114] Das Statistische Bundesamt hat festgestellt, dass „geringe Beiträge oder viele Unterbrechungen der Beitragszahlung später zu relativ niedrigen gesetzlichen Renten führen können.“[115]

Ebenso erzielen Teilzeitbeschäftigte oder Eltern, die zu Hause bleiben (Frauen mit Erziehungs- und Betreuungsaufgaben sind in beiden Gruppen überrepräsentiert), oft nicht genügend Beiträge, um später eine angemessene Rente zu erhalten. Um dies auszugleichen, ermöglicht das gesetzliche Rentensystem Eltern, während der Elternzeit in den ersten drei Jahren nach der Geburt eines Kindes und während insgesamt bis zu 10 weiteren Jahren der Kindererziehung, einschließlich Zeiten mit geringerem Einkommen, Rentenpunkte zu sammeln.[116]

Grundrente

Personen, die 65 Jahre und älter sind und bestimmte Anspruchsvoraussetzungen erfüllen, können auch einen Grundrentenzuschlag erhalten. Dieser kann seit 2021 an Menschen gezahlt werden, die zwar eine gesetzliche Rente erhalten, die jedoch etwa in Niedriglohnbranchen gearbeitet haben oder aufgrund von Erziehungs- und Betreuungszeiten aus dem Erwerbsleben ausgeschieden sind, was zu einer niedrigeren gesetzlichen Rente führt.[117] Die Anspruchsberechtigung und die Höhe der Leistung werden automatisch von der GRV festgelegt, so dass die Betroffenen keinen Antrag stellen müssen, um diese Leistung zu erhalten.

Nach Angaben des Ministeriums für Arbeit und Soziales erhalten etwa 1,1 Millionen Menschen einen Grundrentenzuschlag.[118] Derzeit beträgt die Zulage im Durchschnitt 86 € pro Monat; in Anerkennung der strukturellen Benachteiligung von Frauen ist sie für Frauen (91 €) etwas höher als für Männer (75 €).[119]

Für diese Zulage gibt es Anspruchsvoraussetzungen hinsichtlich der Beitragszeit und der Einkommensgrenzen. Sie setzt mindestens 33 oder 35 Beitragsjahre voraus (der Anspruch beginnt bei 33 Jahren, der volle Betrag kann nach 35 Jahren bezogen werden), wobei Erziehungs-, Pflege- und Krankheitszeiten berücksichtigt werden. Eine Frau, die zum Beispiel 29 Jahre lang gearbeitet und zwei Kinder großgezogen hat und die während der Erziehungsjahre nicht gearbeitet hat, hätte trotzdem Anspruch auf die Grundrente. Der Grund dafür ist, dass drei Jahre der Kindererziehung pro Kind auf die erforderliche Rentenzeit angerechnet werden. Damit würde sie die erforderlichen 35 Jahre erreichen und die Voraussetzungen für die volle Grundrente erfüllen, die sie zum geringfügig erhöhten Satz für Frauen (91 € statt 75 € pro Monat) erhalten würde.[120]

Damit die Beitragsjahre als förderfähig gelten, muss das Einkommen der Person in jedem Beitragszeitraum über 30 Prozent und unter 80 Prozent des Medianeinkommens liegen, wobei Personen mit niedrigem bis mittlerem Einkommen erfasst werden.[121] Da 30 % die Mindestschwelle ist, wird ein Einkommen, das darunter liegt, für das betreffende Jahr nicht berücksichtigt. So würde beispielsweise eine Person mit einem Minijob nicht berücksichtigt. Jemand, der mehr als 80 Prozent des Durchschnittsverdienstes verdient hat, wäre ebenfalls nicht anspruchsberechtigt. Im Jahr 2023 lag das mittlere Bruttojahreseinkommen in Deutschland beispielsweise bei 59.094 Euro.[122] Um Anspruch auf den Grundrentenzuschlag zu haben, müsste ein*e Erwerbstätige*r mindestens 17.728 Euro im Jahr (1.477 Euro im Monat), aber weniger als 47.275 Euro im Jahr (3.939 Euro im Monat) verdienen.

Auch wenn die Sorge bezüglich des Zugangs zu Sozialleistungen oft von der Frage getrennt wird, ob die Leistungshöhe ausreichend ist, um einen angemessenen Lebensstandard zu gewährleisten, kann beides manchmal miteinander verbunden sein. Die hohe Schwelle bezüglich der Beitragsjahre und des Anteils des gezahlten Einkommens, die für den Zugang zur Grundrente erforderlich sind, kann paradoxerweise einige der am stärksten von Armut bedrohten Personen ausschließen. Menschen, die nicht die vollen 33 bis 35 Jahre eingezahlt haben oder während einiger dieser Jahre nur einen reduzierten Beitragssatz geleistet haben, und zwar aus verschiedenen Gründen, wie z.B. Unterbrechung der beruflichen Laufbahn, Kindererziehung, andere Pflegeaufgaben oder späterer Eintritt in das deutsche Erwerbsleben infolge von Migration, oder die zwar die erforderliche Zeit eingezahlt haben, dies aber auf einem sehr niedrigen Niveau aufgrund von Niedriglöhnen oder Teilzeitarbeit taten, sind viel eher ausgeschlossen.[123] Die meisten dieser Faktoren wirken sich unverhältnismäßig stark auf Frauen aus. Zu den Zeiten, die nicht auf die Anspruchsberechtigung angerechnet werden, gehören Zeiten der Arbeitslosigkeit und Minijobs ohne Rentenbeiträge.

Grundsicherung im Alter

Menschen ab 65 Jahren können auch finanzielle Unterstützung durch die Grundsicherung im Alter erhalten, ein beitragsunabhängiges Sozialprogramm, das eine Bedürftigkeitsprüfung voraussetzt. Es soll zur Deckung alltäglicher Ausgaben wie Wohn-, Heizkosten und Kosten für die Gesundheitsversorgung beitragen.[124] Diese Leistung steht denjenigen zur Verfügung, die keinen Anspruch auf die gesetzliche Rente haben. Im Jahr 2022 erhielten etwa 659.000 Menschen im Alter ab 65 Jahren die Grundsicherung im Alter.[125] Im Jahr 2023, zum Zeitpunkt der Befragung durch Human Rights Watch, wurde Personen, deren Gesamteinkommen unter 924 Euro pro Monat lag, geraten zu prüfen, ob sie Anspruch auf Grundsicherung im Alter haben (im Januar 2024 wurde die Schwelle auf 1.062 Euro angehoben).[126]

Die Leistung wird als Pauschalbetrag zur Deckung der Kosten des täglichen Lebens berechnet, der an die Lebensumstände des/der Einzelnen angepasst wird, wie in der nachstehenden Tabelle dargestellt. Darüber hinaus werden die tatsächlichen Wohnkosten, Nebenkosten und Heizkosten berücksichtigt. Nachdem die Ausgaben geschätzt wurden, wird das Einkommen abgezogen, um den endgültigen Leistungsbetrag zu ermitteln. Personen, deren Vermögen einen bestimmten Schwellenwert übersteigt oder deren Familienmitglieder mehr als 100.000 Euro pro Jahr verdienen, haben keinen Anspruch.[127]

Tabelle 5. Pauschalsatz für die Grundsicherung nach Lebenssituation

1

Alleinlebende Erwachsene

563 €

2

Erwachsene, die mit Partner*in zusammenleben

506 €

3

Erwachsene, die in einem Wohnheim leben

451 €

Quelle: Deutsche Rentenversicherung, „Die Grundsicherung: Hilfe für Rentner“, zuletzt aktualisiert im Januar 2025, S. 15-16, https://www.deutsche-rentenversicherung.de/SharedDocs/Downloads/DE/Broschueren/national/grundsicherung_hilfe_fuer_rentner.pdf?__blob=publicationFile&v=4.

Als veranschaulichendes Beispiel soll hier eine Frau dienen, die 67 Jahre alt ist, allein lebt und monatlich 300 € Miete, 30 € für Heizung und 50 € für andere Nebenkosten zahlt. Sie erhält eine Witwenrente von 325 € und hat keinen Anspruch auf die gesetzliche Rente, da sie weniger als 33 Jahre Beiträge gezahlt hat. Ihre Tochter verdient 30.000 € pro Jahr und liegt damit unter der Ausschlussgrenze 100.000 €.

Grundsicherung Berechnung                                                 Euro (€)

Kategorie 1 (Alleinlebende)                                                                563

Miete                                                                                                         300

Heizung                                                                                                      30

Nebenkosten                                                                                           50

Ausgaben insgesamt                                                                          943

Abzug der Hinterbliebenenrente                                                       325

Erhaltene Leistungen insgesamt                                                  618

Zum Vergleich: Gemäß der offiziellen monetären Armutsgrenze lebt eine Person mit einem Einkommen von weniger als 1.314 € pro Monat, das all diese Ausgaben decken soll, in Armut.

Die Grundsicherung für ältere Menschen hat, wie einige der kinderbezogenen Sozialleistungen, eine sehr hohe Quote der Nichtinanspruchnahme. Die letzten verfügbaren offiziellen Daten des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) deuten darauf hin, dass bis zu 60 Prozent der Berechtigten diese Form der Unterstützung nicht in Anspruch nehmen.[128]

In der Praxis schützt die soziale Absicherung durch die Grundrente und die Grundsicherung im Alter den/die Einzelne*n nicht vor monetärer Armut, was zum Teil an der geringen Inanspruchnahme liegt.

Die geschlechtsspezifische Diskrepanz bei der Arbeit und im Ruhestand

Das geschlechtsspezifische Lohngefälle in Deutschland ist eklatant. Es zieht sich durch fast alle Wirtschaftsbereiche und ist in den alten Bundesländern besonders ausgeprägt.[129] Offizielle Daten der Bundesregierung aus dem Jahr 2022 zeigen, dass sich das geschlechtsspezifische Lohngefälle seit 2015 zwar leicht verringert hat, aber nach wie vor besteht - im Durchschnitt verdienen Frauen 18 Prozent weniger als Männer (19 Prozent in den alten Bundesländern und 7 Prozent in den neuen Bundesländern).[130]

Aus den offiziellen Daten geht hervor, dass Frauen im Durchschnitt fünf Jahre länger leben als Männer und dass sie aufgrund von Arbeitsmodellen, Auszeiten, einer höheren Wahrscheinlichkeit einer Beschäftigung im Niedriglohnsektor und ungleicher Entlohnung bei einer Beschäftigung im selben Sektor wahrscheinlich auch weniger Alterseinkommen und Nettovermögen ansammeln als Männer.[131] Die Daten zeigen auch, dass Frauen mit Kindern weitaus häufiger als Männer einer Teilzeitbeschäftigung nachgehen, was zum Teil auf seit langem bestehende geschlechtsspezifische Stereotypen zurückzuführen ist, insbesondere in Bezug auf die Rolle der Frau bei der Kindererziehung und der Pflege von Angehörigen.[132] Nur 36,4 Prozent aller erwerbstätigen Mütter waren im Jahr 2021 vollzeitbeschäftigt, während 92,7 Prozent aller erwerbstätigen Väter vollzeitbeschäftigt waren. Etwa zwei Drittel aller erwerbstätigen Mütter arbeiten in Teilzeit.[133] Die Daten enthielten keine aufgeschlüsselten Zahlen für Alleinerziehende.

Aufgrund dieser kumulativen Faktoren ist das geschlechtsspezifische Rentengefälle noch größer als das geschlechtsspezifische Lohngefälle. Die offiziellen Daten aus dem Jahr 2023 belegen dies deutlich. Diese zeigen ein geschlechtsspezifisches Rentengefälle zwischen älteren Männern und Frauen von 39,4 Prozent ohne Hinterbliebenenleistungen und ein Gefälle von 27,1 Prozent zwischen älteren Männern und Frauen, die Hinterbliebenenleistungen beziehen.[134]   Deutschlands Rentengefälle sticht auch im Vergleich mit anderen OECD-Ländern heraus.  Eine OECD-Analyse aus dem Jahr 2021, die Daten aus allen OECD-Mitgliedsstaaten umfasst, ergab, dass das geschlechtsspezifische Rentengefälle in Deutschland über alle Gruppen hinweg 31,7 Prozent beträgt und damit über dem OECD-Durchschnitt von 25,6 Prozent liegt.[135]

Frida N., 72, aus Nordrhein-Westfalen, arbeitete rund 35 Jahre lang als Steuerfachangestellte, bis sie 2011 in den Ruhestand ging. Sie erklärt:

Neulich unterhielt ich mich mit einem Freund, der [scherzhaft] zu mir sagte: „[Frida], du hast in deinem Leben einige Fehler gemacht. Ich sagte ihm, er solle sich zum Teufel scheren. Später wurde mir klar, wie ich hätte reagieren sollen. Ich hätte sagen sollen, dass mein größter ‚Fehler‘ darin bestand, als Frau geboren worden zu sein. Der ‚zweite Fehler‘, den ich gemacht habe, war, zu heiraten und ein Kind zu bekommen. Dann, mich um meine Mutter zu kümmern. Dann krank zu werden. Das sind die ‚Fehler‘, die ich in meinem Leben gemacht habe. Diese Sichtweise... dass Frauen alles falsch machen und deshalb so wenig Geld bekommen, das macht mich so wütend.... Sorgearbeit wird bei der sozialen Absicherung im Alter nicht richtig berücksichtigt, sei es die Erziehung der Kinder, die Pflege der Eltern, des kranken Mannes, der eigenen Person, egal. Man hat nur das, was man verdient und eingezahlt hat [, wenn man in Rente geht], und das ist bitter wenig. [136]

Hilde C., 74, hatte eine abwechslungsreiche berufliche Laufbahn als Ingenieurin, Umweltschützerin und Abgeordnete einer politischen Partei im Landtag. Die alleinerziehende Mutter, die die meiste Zeit ihres Berufslebens gearbeitet hat, hatte in ihren Fünfzigern Schwierigkeiten, einen Arbeitsplatz zu finden und bezog Arbeitslosengeld. Als sie 2009 dann 60 Jahre alt wurde, kam Hilde C. zu dem Schluss, dass sie „strukturell aus dem Arbeitsmarkt gedrängt wurde“, und beschloss, dass es besser sei, eine niedrigere Rente zu akzeptieren und in den vorzeitigen Ruhestand zu gehen, anstatt mit dem Arbeitslosengeld auszukommen. Hilde C. sagte, dass sie dank gelegentlicher Geschenke und der Unterstützung einer örtlichen Wohltätigkeitsorganisation, die älteren Menschen Zuschüsse für vorhersehbare, aber große Ausgaben wie Zahnbehandlungen oder Hörgeräte gewährt, über die Runden kommt. Sie sagte, dass sie über die geschlechtsspezifische Dimension des Rentengefälles nachdenkt:

Um das Rentensystem gerechter zu machen, muss es wirklich eine Form von angemessenem Geschlechterausgleich geben. Als ich als Ingenieurin arbeitete, verdiente ich weniger als meine männlichen Kollegen, die nicht die Hochschulabschlüsse hatten, die ich hatte, und zahlte daher weniger in die Rente ein. Als ich ein Kind bekam, ging ich in Elternzeit. Ich arbeitete als alleinerziehende Mutter; das Unternehmen, in dem ich damals arbeitete, war nur auf Profit ausgerichtet, ich passte ihnen nicht, und sie entließen mich. Später, als ich selbst krank war und meine Mutter pflegen musste... fand ich keine Arbeit. Frauen werden aus dem Arbeitsmarkt gedrängt, und wir bekommen weniger Rente.[137]

In seinen jüngsten abschließenden Bemerkungen zu Deutschland aus dem Jahr 2023 forderte der UN-Ausschuss für die Beseitigung der Diskriminierung der Frau die Bundesregierung auf, die Maßnahmen zur Beseitigung des geschlechtsspezifischen Lohngefälles zu verstärken, die Unterschiede bei der Entlohnung von Frauen während der Betreuungs- und Erziehungszeiten zu beseitigen, um das geschlechtsspezifische Rentengefälle abzubauen, und die gesetzliche Rente zu stärken, um Frauen im Ruhestand einen angemessenen Lebensstandard zu gewährleisten.[138]


 

IV. „Das nimmt einem das Selbstwertgefühl“: Die Auswirkungen von niedrigen Renten auf ältere Frauen

Sieglinde A., 71, holte gerade ein wöchentliches Lebensmittelpaket bei der Tafel in ihrer nordrhein-westfälischen Heimatstadt ab, als sie mit Human Rights Watch sprach. Sie erklärte, dass ihre Rente gering war, weil sie ihre Arbeit als Zahnarzthelferin nach der Heirat mit ihrem inzwischen verstorbenen Mann aufgegeben hatte. Obwohl sie sich um die Finanzen seines Unternehmens kümmerte, erhielt Sieglinde A. in all den Jahren kein offizielles Gehalt und zahlte nicht in die gesetzliche Rentenversicherung ein; in den Augen des Staates war sie faktisch eine Hausfrau, die keinen Lohn verdiente, obwohl sie direkt zum Geschäft ihres Mannes beitrug.

Sieglinde A. hatte zwar keinen direkten Anspruch auf die gesetzliche Rente, aber sie hatte Anspruch auf Grundsicherung, die Sozialleistung für Personen ab 65 Jahren, deren Einkommen und Vermögen unter einer bestimmten Grenze liegt. Darüber hinaus hatte sie Anspruch auf eine Hinterbliebenenrente, die auf den Beiträgen ihres verstorbenen Mannes zur gesetzlichen Rentenversicherung basierte.

Als wir uns mit Sieglinde A. trafen, beliefen sich die monatlichen Sozialleistungen aus der Grundsicherung und der Witwenrente auf 1.100 € brutto, und nach Zahlung von Miete und Energiekosten blieben ihr etwa 300 € pro Monat für Lebensmittel und alle anderen Ausgaben übrig. Sie gab an, auf die regelmäßige Unterstützung durch ihre Tochter und die Tafeln angewiesen zu sein, um über die Runden zu kommen. Sie sagte:

Ich bin Rentnerin, und die Unterstützung durch den Staat reicht einfach nicht aus. Das Leben ist teuer. Zu Hause lege ich mich unter eine Decke und trinke Tee, Kaffee oder Suppe, um mich warm zu halten. Viel mehr kann ich nicht tun.[139]

Die Rente von Sieglinde A. liegt deutlich unter der Armutsgrenze, wie sie vom Statistischen Bundesamt definiert wird, das die Armutsgefährdungsschwelle für Ein-Personen-Haushalte auf 1.314 Euro festlegt. Mit einem Nettoeinkommen, das etwa 28 Prozent unter dieser Schwelle liegt, verdeutlicht Sieglindes Situation die Unzulänglichkeit des deutschen Rentensystems und seine Auswirkungen auf die Rechte älterer Menschen.

Die Geschichte von Sieglinde A. ist bei weitem kein Einzelfall. Human Rights Watch hat in vier deutschen Städten (Duisburg, Bielefeld, Schwerin und München) 16 Personen, darunter 12 Frauen, befragt, die entweder eine Altersrente beziehen oder kurz vor dem Erreichen des Rentenalters stehen und ebenfalls berichteten, dass sie regelmäßig auf die Tafeln oder andere Hilfsorganisationen für Lebensmittel angewiesen sind.

Alleinlebende ältere Frauen, die viele Jahre lang entweder als Hausfrau Kinder großgezogen oder in Teilzeit gearbeitet haben, um parallel den Betreuungspflichten nachkommen zu können, insbesondere in Niedriglohnsektoren oder für informelle Arbeit (wie an Imbissbuden, in der Haushaltsreinigung oder zur Unterstützung des Geschäfts des Ehepartners), haben es schwer, allein von ihrer Altersrente zu leben. Human Rights Watch befragte jedoch auch ältere Frauen, die mit einem Partner zusammenleben, und ältere Frauen mit langer Berufserfahrung, deren Altersrente deutlich unter der Armutsgefährdungsschwelle lag. Viele der Befragten gaben an, dass sie große Schwierigkeiten haben, die Rente so weit zu erhöhen, dass sie die Grundbedürfnisse abdecken können, darunter Lebensmittel, deren Zugang durch die Menschenrechte garantiert ist, aber auch Transportmittel, medizinische Hilfsmittel und notwendige Reparaturen im Haushalt.

Irmgard A., 88, hat als Hausfrau gearbeitet und die Verantwortung für die Erziehung ihrer Kinder übernommen. Nach dem Tod ihres Mannes lebt sie nun allein in einer Mietwohnung in einer großen Stadt in Bayern. Ihr einziges Einkommen besteht aus ihrer Rente und einer Hinterbliebenenrente, insgesamt etwas mehr als 1.000 € brutto pro Monat. Nach Abzug der Steuern bleiben ihr etwa 950 Euro im Monat, das sind 27,7 Prozent unter der Armutsgrenze von 1.314 Euro für einen alleinstehenden Erwachsenen.

Irmgard A. erklärte, dass sie von ihrer geringen Rente nur mit Mühe Miete und Nebenkosten bezahlen kann und dann kaum noch genug für Lebensmittel und Kleidung übrighat:

Wenn ich nur von dem leben müsste, was ich bekomme, das würde ich gar nicht schaffen. Aber Gott sei Dank kann ich jeden Montag zur Tafel gehen, um Lebensmittel und einige andere Dinge zu bekommen.... Ich gehe seit vier Jahren zur Tafel, das ist eine lange Zeit.... Ich bekomme Obst, Gemüse, Kartoffeln, Brot, Joghurt, Käse, manchmal Eier und sogar ab und zu Geflügel oder anderes Fleisch. All das kann ich mir ohne die Tafel nicht leisten, sonst würde ich es nur sehr selten kaufen. Ich kann mit Sicherheit sagen, dass ich die Hälfte des Monats kein Geld in der Tasche hätte, wenn es die Tafeln nicht gäbe.[140]

Frida N., 72, bezieht ebenfalls eine Rente unterhalb der Armutsgrenze. Sie ging 2011 in den Vorruhestand, nachdem sie rund 35 Jahre lang als Steuerfachangestellte gearbeitet hatte, wodurch sie Anspruch auf die gesetzliche Rente hatte. Da Frida N. viele Jahre lang in Teilzeit gearbeitet und ihren Sohn als alleinerziehende Mutter großgezogen hat, waren ihre monatlichen Beiträge bescheiden. Da ihre gesetzliche Rente gering ist, erhält sie eine Aufstockung durch den Grundrentenzuschlag, sodass sie insgesamt 1.025 € brutto im Monat hat, um alle ihre Ausgaben zu decken. Nach Abzug der Steuern beläuft sich ihr Einkommen auf etwa 972 € und liegt damit etwa 26 % unter der Armutsgefährdungsschwelle von 1.314 € für einen Einpersonenhaushalt.

Frida N. beschrieb ihre Empörung als Rentnerin darüber, dass sie Rentenleistungen erhält, die unterhalb der Armutsgrenze liegen, obwohl sie mehr als drei Jahrzehnte lang gearbeitet und in die Rentenversicherung eingezahlt hat. Sie wurde Zeugin des drastischen Preisanstiegs für Lebensmittel während der Inflationskrise 2022 und 2023. Sie sagte:

Ich sehe, wie die Preise steigen. Ich gehe in den gleichen Supermarkt und kaufe jedes Mal die gleichen Dinge. Vor der Krise habe ich für meinen üblichen Einkauf mit Milch, Eiern, Brot, Gemüse und Obst etwa 35 Euro bezahlt. Jetzt kostet er 50 Euro. Das ist ein Preisanstieg von über 40 Prozent. Und in der gleichen Zeit haben sie unsere Rente nur um 3 bis 5 Prozent erhöht. Das ist lächerlich, absolut lachhaft. Das nimmt einem die Würde und das Selbstwertgefühl. Ich erinnere mich daran, wie ich im Supermarkt vor Fertignudelgerichten mit Gemüse stand, die etwa 2 Euro kosteten, und wie ich aus einer Packung drei Mahlzeiten machte. Jedes Mal, wenn ich so eine Packung in meinen Einkaufswagen legte, wurde mir schlecht.[141]

Jedes Jahr passt die Bundesregierung die Rentensätze an, wobei in der Vergangenheit aufgrund der niedrigeren Löhne und Renten im Osten unterschiedliche Erhöhungen für Ost- und Westdeutschland vorgenommen wurden. Zwischen 2021 und 2023 hielten diese Anpassungen jedoch wiederholt nicht mit der steigenden Inflation Schritt, so dass viele Rentner*innen Schwierigkeiten hatten, ihre täglichen Ausgaben zu bestreiten. Im Jahr 2024 wurde zum ersten Mal eine gemeinsame prozentuale Erhöhung über dem Verbraucherpreisindex für ganz Deutschland eingeführt.

Tabelle 6. Jährliche Rentenanpassungen, 2020-2024

Rentenanpassung 
(Zum 1. Juli)

Westdeutschland (in %)

Ostdeutschland (%)

Inflation (%) (Verbraucherpreis-index)

2020

3.45

4.20

0.5

2021

-

0.72

3.1

2022

5.35

6.12

6.9

2023

4.39

5.86

5.9

2024

4.57

2.2

Quelle: Rentendaten aus Deutsche Rentenversicherung, „Rentenanpassung 2024: Renten steigen wieder deutlich“, 19. März 2024 https://www.deutsche-rentenversicherung.de/DRV/DE/Ueber-uns-und-Presse/Presse/Meldungen/2024/240319-rentenanpassung-2024.html#_q6hmwt5dg (Zugriff am 20. Februar 2025) und Inflationsdaten aus Destatis, „Verbraucherpreisindex in Deutschland, nach Jahren“ https://www-genesis.destatis.de/genesis/online?sequenz=tabelleErgebnis&selectionname=61111-0001&startjahr=1991#abreadcrumb (Zugriff am 20. Februar 2025).

Das Netzwerk der Tafeln hat dokumentiert, dass die Nachfrage im Allgemeinen und insbesondere bei älteren Menschen, die eine Rente oder Grundsicherung im Alter beziehen, von Jahr zu Jahr steigt.[142] Das Netzwerk schätzt, dass jede vierte Person, die Lebensmittelhilfe von den Tafeln erhält, eine ältere Person ist.[143]

Die Bundesregierung hat kürzlich in einem Ad-hoc-Bericht im Rahmen der Europäischen Sozialcharta festgestellt:

Gemeinnützige Organisationen und ihre Dienste wie die Tafeln und Suppenküchen ... sind in Deutschland nicht Teil des staatlichen Sozialsystems, sondern in freier Trägerschaft. Ihre Leistungen können und sollen staatliche Leistungen nicht ersetzen. Der Sozialstaat ist in Deutschland nicht auf die Leistungen der freien Träger angewiesen, sondern stellt mit sicher, dass seine Mindestsicherung den Grundbedarf deckt und ein menschenwürdiges Leben auch ohne diese ergänzenden Leistungen gewährleistet.[144]

Der Alltag der Tafeln zeigt, dass dies nichts als leere Worte sind. Die Organisationen, die Lebensmittel verteilen, sowohl die den Tafeln angeschlossenen als auch die unabhängigen Anbieter, haben längst anerkannt, dass Personen, die die Grundrente oder die Grundsicherung erhalten (und in vielen Fällen auch diejenigen, die Bürgergeld beziehen), unmittelbar als berechtigt für Lebensmittelhilfe angesehen werden sollten.[145]

Thomas Doussier von der Bielefelder Tafel zeigte Human Rights Watch ein Plakat in seinem Büro mit den Anspruchsvoraussetzungen der Organisation, die lediglich den Bezug von Sozialleistungen wie Kinderzuschlag, Wohngeld, Erwerbsminderungsrente oder Grundsicherung im Alter berücksichtigen.

Es ist eine Schande, dass in einem reichen Land wie Deutschland Kinder in Armut aufwachsen und Rentner hier auf Lebensmittel warten ... Ich würde die Politiker bitten, hierher oder zu einer anderen Tafel zu kommen und eine Woche lang bei uns zu arbeiten, um zu sehen, wer die Tafel nutzt und sie braucht, und nicht nur zu kommen, um Fotos zu machen und so zu tun, als würden sie etwas Gutes tun.[146]

Die befragten älteren Menschen wiesen auch auf den Stress hin, der durch Kosten für vorhersehbare gesundheitsbezogene Ausgaben verursacht wird, darunter Brillen, Zahnersatz und in einigen Fällen Mobilitätshilfen (wenn diese Kosten nicht von der gesetzlichen Krankenversicherung übernommen werden). Drei Wohltätigkeitsorganisationen, die ältere Menschen mit geringem Einkommen unterstützen, verwiesen in den Interviews auf ihre Programme für Notfall-Bargeldhilfen, um älteren Menschen bei unerwarteten Kosten, einschließlich gesundheitsbezogener Ausgaben, zu helfen.[147] Diese karitativen Unterstützungsmöglichkeiten sind jedoch von der Großzügigkeit der Spender*innen abhängig, ungleichmäßig über die Bundesrepublik verteilt, stehen nicht allen bedürftigen älteren Menschen zur Verfügung und sollten kein Standardersatz für eine angemessene soziale Absicherung oder ein angemessen finanziertes Gesundheitssystem sein, das älteren Menschen ihr Recht auf Gesundheit sichert.

Im Rahmen der politischen Agenda der Schröder-Regierung wurde 2003 ein Gesetz zur „Modernisierung“ des öffentlichen Krankenversicherungssystems verabschiedet, mit dem die bisherige Politik der vollständigen Kostenübernahme für alle Arten von verschreibungspflichtigen Brillen für Erwachsene (mit Ausnahme von „schweren Sehbehinderungen“), Zahnersatz und Mobilitätshilfen beendet wurde.[148] Mit dem Gesetz wurde ein Patientenzuschuss für einige Verschreibungen eingeführt, der auf 2 Prozent des Jahreseinkommens der Person begrenzt ist. Viele Geringverdienende können es sich nicht leisten, für verschreibungspflichtige Brillen, nötige Mobilitätshilfen und Zahnersatz entweder eine private Versicherung abzuschließen oder dies aus eigener Tasche zu zahlen.

Tülay E., 75, und ihr Mann Helmut E., 78, leben in einer Genossenschaftswohnung in einer großen Stadt in Bayern. Sie sind beide im Ruhestand: Tülay E. musste nach einem Arbeitsunfall im Alter von 48 Jahren ihre Tätigkeit als Handarbeiterin aufgeben und erhielt bis zum Erreichen des Rentenalters eine Erwerbsminderungsrente. Helmut E. schied mit 60 Jahren aus seinem Beruf als Reprograf aus. Sie schätzten, dass ihr gesamtes monatliches Renteneinkommen zum Zeitpunkt der Befragung bei etwa 1.600 € (brutto) lag; die Rente von Tülay betrug weniger als die Hälfte der Rente von Helmut. Für einen Zwei-Erwachsenen-Haushalt liegt die Netto-Armutsgefährdungsschwelle bei 1.971 €, womit die beiden etwa 29 % unter dieser Schwelle liegen.

Ihre monatliche Miete belief sich auf 866 €, ihre letzte monatliche Stromrechnung auf 108 €. Beide legten eine lange Liste von Kontoauszügen vor, in der verschiedene monatliche Abzüge für Versicherungsleistungen (Rechtsschutz, Todesfall, Zahnersatz, Beitrag zur Krankenversicherung eines Enkelkindes) und andere Kosten aufgeführt waren. Sie schilderten, dass ihr Konto ständig überzogen war und sie Schulden hatten. Tülay E. sagte:

Das ist eine psychische Belastung. Mein Gebiss muss ersetzt werden, und die Gesamtrechnung beläuft sich auf 5.048 €. Wir wissen immer noch nicht, wie viel wir zahlen müssen. Die Zahnarztpraxis wird die Rechnung an die [private] Krankenkasse schicken, die dann ausrechnen wird, was sie übernimmt und was wir selbst zahlen müssen. Wir gehen davon aus, dass es etwa 1.300 € sein werden, warten aber noch auf den Bescheid.[149]

Tülay E. erläuterte, dass vorhersehbare medizinische Kosten, wie z.B. für Brillen, bis vor etwa 20 Jahren von der gesetzlichen Krankenversicherung übernommen wurden, und schlug vor, dass die Übernahme solcher Kosten für ältere Menschen, die mit einem geringen, festen Einkommen auskommen müssen, die finanzielle Unsicherheit und die Sorgen verringern und ihnen das Leben erleichtern würde.

Andere ältere Menschen und Mitarbeitende von Wohlfahrtsverbänden, mit denen wir gesprochen haben, wiesen darauf hin, dass ältere Menschen mit geringem Renteneinkommen nicht automatisch kostenlos den öffentlichen Nahverkehr benutzen können, und betonten die Auswirkungen, die hohe Transportkosten auf das soziale Engagement und die Teilhabe älterer Menschen haben.[150] Eine koordinierte Anstrengung von Bund, Ländern und Gemeinden, um sicherzustellen, dass alle Bezieher*innen einer Grundrente automatisch Anspruch auf einen kostenlosen öffentlichen Nahverkehr haben - aufbauend auf den bereits umgesetzten Maßnahmen, um in Zeiten des Inflationsdrucks in den Jahren 2022 und 2023 einen verbilligten öffentlichen Nahverkehr anzubieten - würde den Lebensstandard älterer Menschen, die eine geringe Rente beziehen, deutlich verbessern und Hindernisse für die soziale Teilhabe abbauen.
 

V. Deutschlands Menschenrechtsverpflichtungen

Die Menschenrechte auf soziale Sicherheit und auf einen angemessenen Lebensstandard, die beide in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte enthalten sind, sind in internationalen Menschenrechtsabkommen verankert, die auch Deutschland ratifiziert hat.[151] Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts hat auch das Konzept des Existenzminimums entwickelt, das einen ergänzenden nationalen verfassungsrechtlichen Schutz im Zusammenhang mit der sozialen Sicherheit bietet.[152]

Internationale Menschenrechte und Menschenrechtsstandards

Der Internationale Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (ICESCR), den Deutschland 1973 ratifiziert hat, erkennt sowohl das Recht auf soziale Sicherheit als auch auf einen angemessenen Lebensstandard an, wobei beide Rechte miteinander verknüpft sind.[153]

Die Übereinkommen und Empfehlungen der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) sowie die europäischen Menschenrechtsinstrumente und politischen Empfehlungen bieten weitere Anhaltspunkte für das Recht auf soziale Sicherheit.

Der UN-Ausschuss für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (CESCR) - das Gremium unabhängiger Expert*innen, das zur Überwachung der Umsetzung des ICESCR eingerichtet wurde - hat autoritative völkerrechtliche Interpretationen zum Recht auf soziale Sicherheit entwickelt.[154]

Die Rechte des ICESCR gelten auch in einer Krise - beispielsweise während einer weltweiten Pandemie oder eines weltweiten Inflationsdrucks - in vollem Umfang, und der Pakt sieht nicht vor, dass Staaten von den darin geschützten Rechten abweichen können.[155]  Die Staaten sind verpflichtet, jederzeit ihre maximal verfügbaren Ressourcen zu nutzen, um die geschützten sozioökonomischen Rechte zu gewährleisten, wobei natürlich anerkannt wird, dass Krisensituationen Auswirkungen auf die verfügbaren Ressourcen haben können. Die Priorität liegt hierbei ausdrücklich darauf, diese Ressourcen zu nutzen, um die größtmögliche Wahrnehmung der Kernverpflichtungen zu gewährleisten und hierbei das Diskriminierungsverbot zu achten.[156] Der CESCR betont zudem, dass „selbst in Zeiten schwerwiegender Ressourcenknappheit die schwächsten Mitglieder der Gesellschaft durch die Verabschiedung von relativ kostengünstigen, gezielten Programmen geschützt werden können und müssen“.[157]

Im April 2023 ist Deutschland dem Fakultativprotokoll zum Internationalen Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (OP-ICESCR) beigetreten, mit dem ein Mechanismus geschaffen wurde, der es Einzelpersonen ermöglicht, vor dem Ausschuss Verstöße gegen wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte aus dem Sozialpakt im Rahmen des Individualbeschwerdeverfahrens anzuzeigen,.[158] Diese Entwicklung ist das Ergebnis einer langjährigen Kampagne nationaler Menschenrechtsorganisationen für die Ratifizierung des Fakultativprotokolls durch Deutschland.[159] Infolgedessen können Einzelpersonen nun Beschwerden gegen Deutschland beim CESCR einreichen. Da diese Entwicklung erst kürzlich stattfand, waren zum Zeitpunkt der Erstellung dieses Berichts noch keine Beschwerden eingereicht worden.[160]

Einschlägige UN-Konventionen

Laut ICESCR sollte ein System der sozialen Sicherheit mindestens neun Bereiche abdecken: Gesundheitsfürsorge, Krankheit, Alter, Arbeitslosigkeit, Arbeitsunfälle, Familien- und Kinderunterstützung, Mutterschaft, Behinderung sowie Hinterbliebene und Waisen.[161] Darüber hinaus sollten sie Geld- oder Sachleistungen in angemessener Höhe und Dauer bereitstellen, damit jeder Mensch seine Rechte wahrnehmen kann.[162] Der CESCR gibt die folgenden Hinweise zur Angemessenheit:

Geld- wie Sachleistungen müssen in ihrer Höhe und Dauer angemessen sein, damit jeder Mensch sein Recht auf Schutz und Unterstützung der Familie, einen angemessenen Lebensstandard und angemessenen Zugang zur Gesundheitsversorgung verwirklichen kann, wie in den Artikeln 10, 11 und 12 des Paktes vorgesehen.[163]

Der CESCR hat erklärt, dass die Staaten verpflichtet sind, ein Mindestmaß an sozialem Schutz für diejenigen zu gewährleisten, die ihn benötigen, und dann schrittweise eine allgemeine Deckung der Bedarfe und ein angemessenes Leistungsniveau zu erreichen.[164] Die unmittelbare Verpflichtung, ein Mindestmaß an grundlegenden Leistungen zu gewähren, bedeutet, Einzelpersonen und Familien zu unterstützen, um ihnen zumindest eine grundlegende Gesundheitsversorgung und einen angemessenen Lebensstandard zu ermöglichen, einschließlich angemessener Unterkunft und Wohnung, Wasser- und Sanitärversorgung, Nahrungsmittel und der grundlegendsten Formen der Bildung.[165]

Der CESCR hat klargestellt, dass die Staaten auch sicherstellen müssen, dass Frauen mindestens die gleiche soziale Absicherung genießen wie Männer, und dass sie Barrieren beseitigen müssen, die Frauen am Zugang zu gleichen Leistungen hindern.[166] Zudem sollten sie Maßnahmen ergreifen, „um sicherzustellen, dass die Systeme der sozialen Sicherheit die in der informellen Wirtschaft tätigen Personen einschließen“.[167] Der CESCR hat auch betont, dass „Geflüchtete, Staatenlose und Asylsuchende sowie andere benachteiligte und ausgegrenzte Personen und Gruppen beim Zugang zu nicht beitragspflichtigen Systemen der sozialen Sicherheit […] gleich behandelt werden sollten.“[168]

Laut CESCR sollten die Staaten das Recht auf soziale Sicherheit „in den innerstaatlichen politischen und rechtlichen Systemen hinreichend anerkennen, vorzugsweise durch eine gesetzgeberische Umsetzung“ und eine nationale Strategie zur vollständigen Verwirklichung des Rechts entwickeln.[169]

Das UN-Übereinkommen über die Rechte des Kindes (CRC), das UN-Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau (CEDAW) und das UN-Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (CRPD) garantieren das Recht auf soziale Sicherheit für Kinder, Frauen, einschließlich älterer Frauen, und Menschen mit Behinderungen, einschließlich älterer Menschen mit Behinderungen.[170]

Der UN-Ausschuss für die Beseitigung der Diskriminierung der Frau hat den Staaten wichtige zusätzliche Leitlinien zur Bekämpfung der strukturellen geschlechtsspezifischen Diskriminierung in den Systemen der sozialen Sicherheit gegeben, einschließlich der geschlechtsspezifischen Diskriminierung in der Arbeitswelt, des geschlechtsspezifischen Rentengefälles und der unverhältnismäßig hohen Betreuungs- und Pflegeverantwortung, die Frauen in verschiedenen Lebensabschnitten tragen.[171] Der Ausschuss betont insbesondere, wie wichtig es ist, dass die Staaten sicherstellen, dass alle Frauen, die erwerbstätig waren, einschließlich derjenigen, die sich für einen vorzeitigen Ruhestand entschieden haben, diskriminierungsfrei in den Genuss von Renten kommen, und dass ältere Frauen den gleichen Zugang zu einer angemessenen beitragsfreien Rente haben sollten wie Männer.[172]

Einschlägige ILO-Instrumente

Das ILO-Übereinkommen von 1952 über Mindestnormen der sozialen Sicherheit (Übereinkommen 102) legt eine rechtliche bzw. kodifizierte Grundlage für die soziale Sicherheit und einen garantierten Mindeststandard für die verschiedenen Arten der sozialen Sicherheit für die Einwohner*innen eines Mitgliedstaats fest.[173] Das Übereinkommen enthält keine Vorschriften darüber, wie ein Mitgliedstaat seine Verpflichtungen im Bereich der sozialen Sicherheit erfüllen sollte, sondern lässt jedem Staat einen gewissen Spielraum und ermöglicht es Staaten mit unterschiedlichem sozioökonomischem Niveau, ihre Programme entsprechend zu gestalten.[174]

Die Empfehlung Nr. 202 der ILO aus dem Jahr 2012 zur Untergrenze des Sozialschutzes erkennt die soziale Sicherheit ausdrücklich als ein Menschenrecht an und empfiehlt, dass die ILO-Mitgliedstaaten eine Untergrenze des Sozialschutzes einführen, die allen Menschen in einem Mitgliedstaat unabhängig von ihrer Staatsangehörigkeit oder ihrem Einwanderungsstatus den Zugang zu einer grundlegenden Gesundheitsversorgung und Einkommensunterstützung garantiert.[175] Laut Empfehlung müssen die Mitgliedstaaten die Grundsätze der Menschenwürde und der Nichtdiskriminierung uneingeschränkt achten. Von besonderer Bedeutung für den vorliegenden Bericht ist die Empfehlung einer Grundsicherung für Kinder, während des Arbeitslebens und für ältere Menschen, jeweils auf einem national festgelegten Mindestniveau.[176] 

In der ILO-Empfehlung Nr. 202 werden die Staaten zudem aufgefordert, diesen grundlegenden Schutz kontinuierlich zu stärken, um die bestehenden ILO-Normen zu erfüllen, und die Angemessenheit der Leistungen regelmäßig im Rahmen eines transparenten rechtlichen Verfahrens zu bewerten (weitere Einzelheiten zur Angemessenheit siehe weiter unten in diesem Kapitel).

Einschlägige europäische Menschenrechtsabkommen, Instrumente und politische Rahmenwerke

Die Verträge des Europarats und der Europäischen Union - einschließlich der ursprünglichen Europäischen Sozialcharta, der revidierten Europäischen Sozialcharta, der Europäischen Ordnung der sozialen Sicherheit und der EU-Charta der Grundrechte - enthalten spezifische Verpflichtungen zur Gewährleistung des „Rechts auf soziale Sicherheit“ oder des „Rechts auf Schutz vor Armut und sozialer Ausgrenzung“.[177]

Diese Grundsätze fanden auch in einer neuen EU-weiten Verpflichtung zur Stärkung der Europäischen Säule sozialer Rechte auf dem Sozialgipfel in Porto im Mai 2021 Ausdruck. Obwohl die Erklärung von Porto, die aus dem Gipfel hervorging, an sich kein rechtsverbindliches Dokument ist und die EU derzeit nur begrenzte Befugnisse in Bezug auf die nationale Sozialpolitik hat, bezeichnete die Europäische Kommission die Erklärung als ein neues „soziales Regelwerk“.[178] Die Erklärung von Porto enthält ein klares Bekenntnis zur Entwicklung einer Strategie zur Bekämpfung von Kinderarmut und insbesondere zur Umsetzung einer europäischen Kindergarantie, die spezifische Maßnahmen und Strategien zur Armutsbekämpfung vorsieht. Im Jahr 2021 nahmen die Europäische Kommission und der Rat formell eine Empfehlung an, die von den Mitgliedstaaten verlangt, nationale Aktionspläne zu entwickeln, in denen sie darlegen, wie sie die Europäische Kindergarantie bis 2030 erreichen wollen.[179]

Deutschland hat alle drei Schlüsseldokumente zur Europäischen Ordnung der Sozialen Sicherheit des Europarats akzeptiert.[180] Die Europäische Ordnung, die weitgehend dem ILO-Übereinkommen 102 nachempfunden ist, wenn auch mit höheren Standards, legt Anforderungen an verschiedene Leistungen der sozialen Sicherung fest (Krankheit, Arbeitslosigkeit, Rente, Invalidität, Familie, Mutterschaft, Hinterbliebenenstatus), wobei die Staaten je nach ihrer nationalen Politik großzügiger sein können. Zudem ist für alle Mitgliedstaaten ein jährliches Kontrollverfahren vorgesehen.[181]

Der Europäische Ausschuss für soziale Rechte, der für die Bewertung der Einhaltung der Europäischen Sozialcharta zuständig ist, äußerte Bedenken hinsichtlich des Fehlens eines klaren, gesetzlich festgelegten Mindestleistungsniveaus in Deutschland und stellte fest, dass die deutschen Berechnungen weitgehend auf einem „typischen“ Beitragszahler basieren, der als männlicher Arbeitnehmer mit einem Einkommen von 125 % des Medianeinkommens definiert ist.[182] Der Ausschuss stellte ferner fest, dass die Bundesregierung keine angemessenen Informationen über die altersabhängigen Renten, insbesondere über die Angemessenheit der beitragsunabhängigen Renten, zur Verfügung gestellt hatte, und konnte daher nicht feststellen, dass Deutschland Artikel 12.1 der Europäischen Sozialcharta von 1961 entspricht.[183]

Als Deutschland schließlich 2021 die revidierte Europäische Sozialcharta (1996) ratifizierte, tat es dies mit dem Vorbehalt, dass es an mehrere Artikel des Dokuments nicht gebunden sei, darunter Artikel 30, der die Staaten dazu verpflichtet:

...im Rahmen eines umfassenden und koordinierten Ansatzes Maßnahmen zu ergreifen, um für Personen, die in sozialer Ausgrenzung oder Armut leben oder Gefahr laufen, in eine solche Lage zu geraten, sowie für deren Familien den tatsächlichen Zugang insbesondere zur Beschäftigung, zu Wohnraum, zur Ausbildung, zum Unterricht, zur Kultur und zur Fürsorge zu fördern.[184]

Infolgedessen ist es nicht möglich, Artikel 30 der revidierten Europäischen Sozialcharta (1996) im Hinblick auf deutsches Recht oder deutsche Politik durchzusetzen.[185]

Deutschland hat sich zudem geweigert, Kollektivbeschwerden über die Nichteinhaltung der Rechte aus der Charta beim Europäischen Ausschuss für soziale Rechte zuzulassen. Durch diese unvollständige Annahme der revidierten Charta wird einer Person oder Gruppe, die der Ansicht ist, dass der deutsche Staat gegen die in der revidierten Charta garantierten Rechte verstößt, ein entscheidender Weg zur Durchsetzung ihrer Rechte versperrt.[186]

Angemessene Unterstützung durch die soziale Sicherung: Internationale Leitlinien und das deutsche Existenzminimum-Prinzip

Auf internationaler Ebene legt der CESCR eindeutig fest, dass die Leistungen der sozialen Sicherung ausreichen müssen, um einen angemessenen Lebensstandard und den Zugang zu gesundheitlicher Versorgung zu ermöglichen:

Die Geld- und Sachleistungen müssen in Höhe und Dauer angemessen sein, damit jeder sein Recht auf Schutz und Unterstützung der Familie, einen angemessenen Lebensstandard und einen angemessenen Zugang zur Gesundheitsversorgung wahrnehmen kann.[187]

Auch in den ILO-Übereinkommen und -Instrumenten zur sozialen Sicherheit sind Grundsätze für die Angemessenheit von Leistungen der sozialen Sicherheit festgelegt, und es wird darauf hingewiesen, dass eine regelmäßige Überwachung der Angemessenheitskriterien erforderlich ist, um sicherzustellen, dass die Leistungsempfänger*innen für die Waren und Dienstleistungen aufkommen können, die sie für die uneingeschränkte Wahrnehmung ihrer Rechte benötigen.[188]

In der ILO-Empfehlung Nr. 202 heißt es, dass die Leistungen der sozialen Sicherheit zumindest den tatsächlichen Zugang zu grundlegender Gesundheitsversorgung und grundlegender Einkommenssicherung, wie sie auf nationaler Ebene festgelegt sind, gewährleisten sollten.[189] Darüber hinaus wird in den internationalen Normen anerkannt, dass bei der Festlegung des Leistungsniveaus die Bedürfnisse der Bevölkerung sowie die Fähigkeit zur Finanzierung und Erbringung dieser Leistungen und Dienste berücksichtigt werden sollten. Die Basisniveaus sollten den Zugang zu wesentlichen Gütern und Dienstleistungen sicherstellen, die zur Erfüllung wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Rechte erforderlich sind, und sollten auf nationaler (und in Deutschland auch auf Landes-) Ebene unter Beteiligung der Leistungsempfänger*innen festgelegt werden. Zusammengenommen sollten Geld- und Sachleistungen zumindest Schutz vor wirtschaftlicher Unsicherheit und Armut bieten und ein Leben in Gesundheit und Würde gewährleisten.[190]

Eine regelmäßige Überwachung der Angemessenheitskriterien ist notwendig, um sicherzustellen, dass die Begünstigten sich die für die volle Wahrnehmung ihrer Rechte erforderlichen Waren und Dienstleistungen leisten können.

Die Angemessenheit langfristiger Leistungen (z.B. Renten) hängt auch davon ab, ob diese vor der Erosion ihrer Kaufkraft geschützt werden.[191] Dazu sind gesetzliche und praktische Bestimmungen erforderlich, die eine regelmäßige Anpassung der Leistungen an die Entwicklung der Lebenshaltungskosten gewährleisten.

Diese internationalen Grundsätze finden ihre nationale Ergänzung im Prinzip des Existenzminimums. Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner Rechtsprechung das Prinzip als absolutes Recht entwickelt, das auf der Auslegung des Begriffs der Menschenwürde im Grundgesetz in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip beruht, das ebenfalls im Grundgesetz verankert ist.[192]

Ein Grundsatzurteil des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 2010 legt das Recht auf ein Existenzminimum fest und verpflichtet den deutschen Staat, diejenigen zu unterstützen, die nicht über die Mittel zur Deckung ihres Mindestbedarfs verfügen. Der Gesetzgeber ist dafür verantwortlich, den konkreten Betrag zur Deckung des Mindestbedarfs einer Person zu bestimmen, was er durch eine transparente und realistische Bewertung der notwendigen Ausgaben im Allgemeinen und einen individuellen Ansatz zur Berechnung des Bedarfs jeder Person tun muss.[193]

Gemäß dem Recht auf ein Existenzminimum sollte jeder in Deutschland ansässige Mensch[194], seine grundlegenden materiellen Bedürfnisse befriedigen können, darunter Wohnraum, Nahrung, Kleidung, Hygiene und Gesundheit. Das Recht verlangt zudem, dass der Staat die Möglichkeit der Aufrechterhaltung zwischenmenschlicher Beziehungen und ein Mindestmaß an Teilhabe am sozialen, kulturellen und politischen Leben garantiert. Diese beiden Teile - die materiellen Bedürfnisse und die Gewährleistung eines ausreichenden Niveaus zur Sicherstellung der Teilhabe - sind miteinander verknüpft und sind nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts „einheitlich zu verstehen“. Dies bedeutet, dass das Recht auf ein Existenzminimum mehr als nur eine grundlegende Verpflichtung ist und mehr erfordert als die Quantifizierung eines monetären Mindestleistungsbetrags.[195]


 

Danksagungen

Die Recherchen und Interviews für diesen Bericht wurden durchgeführt von Kartik Raj, Senior Researcher, und Klara Funke, ehemalige Mitarbeiterin und Research Assistant, beide in der Abteilung Europa und Zentralasien von Human Rights Watch. Hauptautor des Berichts ist Kartik Raj. Klara Funkes Beitrag bestand darin, eine Umfrage zur Identifizierung von Interviewpartner*innen zu entwerfen, Kontakte zu deutschen Organisationen herzustellen und viele der Interviews zu planen. Lena Simet, Senior Researcher in der Abteilung Wirtschaftliche Gerechtigkeit und Rechte, lieferte wichtige methodische Hinweise, entwickelte die schematische Kategorisierung der deutschen Programme zur sozialen Sicherung und verfasste einige Teile des Berichts.

Der Bericht wurde von Judith Sunderland, stellvertretende Direktorin, und Benjamin Ward, stellvertretender Direktor, beide in der Abteilung Europa und Zentralasien, geprüft und überarbeitet. Zu den Fachgutachter*innen gehörten Lena Simet, Matt McConnell, Researcher, und Sylvain Aubry, stellvertretender Direktor, alle in der Abteilung Wirtschaftliche Gerechtigkeit und Rechte; Bridget Sleap, Senior Researcher für die Rechte älterer Menschen, Carlos Ríos-Espinosa, stellvertretender Direktor, und Jonas Bull, Assistant Researcher, alle in der Abteilung Rechte von Menschen mit Behinderungen; Juliane Kippenberg, stellvertretende Direktorin der Abteilung Kinderrechte; Macarena Sáez, Direktorin der Abteilung Frauenrechte; und Friederike Mager, Koordinatorin für EU-Advocacyarbeit in der Abteilung für Advocacy. Aisling Reidy, leitende Rechtsberaterin, und Joseph Saunders, stellvertretender Direktor der Programmabteilung, prüften den Bericht rechtlich und inhaltlich.

Wolfgang Büttner, ehemaliger stellvertretender Direktor der Abteilung Advocacy und Kommunikation, und Hillary Margolis, ehem. Senior Researcher für Frauenrechte waren an der Untersuchung beteiligt und gaben regelmäßig Input.

Lisa-Marie Maier, deutsche Medienkoordinatorin in der Abteilung Kommunikation, beriet in Sachen Kommunikation. Elida Vikić, leitende Koordinatorin in der Abteilung Europa und Zentralasien, unterstützte beim Projektmanagement und der Produktion. Caroline Montag und Xenia Kastner, ehemalige Praktikantinnen, und Marlene Auer, ehemalige Mitarbeiterin, alle in der Abteilung Europa und Zentralasien, leisteten in verschiedenen Phasen des Projekts zusätzlich Unterstützung bei der Recherche, der Nachrichten- und Medienbeobachtung, der Verdolmetschung und der Übersetzung. Travis Carr, Mitarbeiter in der Abteilung Digitales, ist verantwortlich für das Design und die visuelle Gestaltung. Sandra Kirsch übersetzte den Bericht ins Deutsche. Marlene Auer leistete zusätzliche redaktionelle Unterstützung bezüglich der verwendeten Quellen, Caroline Montag prüfte die deutsche Übersetzung.

Der Hauptautor bedankt sich bei den folgenden vier externen Expert*innen für ihre Mitarbeit. Dr. Andreas Aust, Sozialpolitikexperte vom Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverband - Gesamtverband e.V., und Eric Großhaus, Advocacy Manager für Kinderarmut und Soziale Ungleichheit bei Save the Children Deutschland e.V., haben einen Berichtsentwurf extern geprüft. Sarah Lincoln, Rechtsanwältin und Leiterin der Abteilung Gleiche Rechte und Soziale Teilhabe bei der Gesellschaft für Freiheitsrechte e.V., berief eine Gruppe von zivilgesellschaftlichen Expert*innen ein, die sich mit sozialen Rechten und Armut in Deutschland befassen, um einen frühen Entwurf zu diskutieren und gemeinsam Beiträge zu liefern. Der verstorbene Prof. Dr. Michael Krennerich, der das Forschungszentrums Center for Human Rights an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg leitete, gab wichtige Hinweise zu den internationalen Verpflichtungen Deutschlands im Bereich der wirtschaftlichen und sozialen Rechte.

Human Rights Watch dankt den Teilnehmenden der Deutschen Postcode Lotterie für ihre großzügige Unterstützung dieses Projekts.

Human Rights Watch bedankt sich vor allem bei allen Menschen, die mit uns über ihr Leben mit einem geringen Einkommen in Deutschland gesprochen haben, sowie bei den vielen lokalen Organisationen, die den Kontakt zu ihnen ermöglicht haben.