In der einzigen Demokratie Zentralasiens werden immer noch Menschenrechte verletzt. Höchste Zeit für Kritik an Präsident Atambajew, fordern M. Rittmann und H. Williamson.
Zentralasien ist eine Region, in der Demonstranten, die ihre Regierung infrage stellen, mit Haftstrafen oder gar Folter rechnen müssen. Proteste sind hier äußerst selten.
Anders in Bischkek, der Hauptstadt Kirgisiens. Als wir hier im Herbst in unseren Konferenzraum tagten, drang plötzlich derart lauter Protestlärm aus der Umgebung des Parlaments, dass wir uns nur noch mit Mühe verständigen konnten. In Städten, in denen Demonstrationen zum Alltag gehören, ist dies nichts Ungewöhnliches. Die Bereitschaft der kirgisischen Regierung, solche Proteste zuzulassen, ist einer der wichtigsten Gründe dafür, dass Bundeskanzlerin Angela Merkel den kirgisischen Präsidenten Almasbek Atambajew diese Woche in Berlin empfängt.
Politiker in Deutschland wie im Ausland sehen Kirgisien als Hoffnungsschimmer in einer ebenso wichtigen wie unruhigen Weltregion. Dennoch soll die Kanzlerin die besorgniserregenden Menschenrechtsentwicklungen in dem Land zum Anlass nehmen, ihrem Amtskollegen nicht bloß für seine scheinbare Sonderrolle in Zentralasien auf die Schulter zu klopfen. Falls Merkel ihrem Gast nicht klarmachen kann, dass Kirgisien internationale Menschenrechtsstandards erfüllen muss, zu denen das Land sich verpflichtet hat, könnte der Besuch für die Region mehr Schaden als Fortschritt bringen.
Ermutigende politische Reformen
Zentralasien ist für den Westen, nicht nur im Zuge des Truppenabzugs aus Afghanistan, wegen seiner Rohstoffe und der geostrategischen Lage von großer Bedeutung. Für Menschenrechtler ist es jedoch ein echtes Sorgenkind: In Usbekistan und Turkmenistan regieren Regime, die zu den autoritärsten und grausamsten der Welt gehören. In Kasachstan, dem einflussreichsten Staat der Region, hat sich die Menschenrechtslage in jüngster Vergangenheit drastisch verschlechtert. Tadschikistan ist weiter von Unterdrückung und Instabilität geprägt.
Vor diesem Hintergrund wirken die politischen Reformen ermutigend, die das mit 5,5 Millionen Einwohnern und 1.000 US-Dollar Pro-Kopf-Einkommen relativ kleine und arme Kirgisien ins Rollen gebracht hat. Das Land ist die einzige parlamentarische Demokratie in der Region. Die Wahlen, bei denen Atambajew im Oktober 2011 an die Macht kam, waren zwar von Unregelmäßigkeiten begleitet. Sie markierten jedoch die erste demokratische Ablösung eines Präsidenten in einem zentralasiatischen Staat seit dem Ende der Sowjetunion. Verleumdung wurde als Straftatbestand abgeschafft, die meisten Oppositionellen und Bürgerrechtler können unbehelligt arbeiten, und ein neuer Mechanismus soll Häftlinge vor Folter schützen.
Wagt man jedoch einen Blick hinter diese Fassade, stößt man auf Menschenrechtsverletzungen, die mit alarmierender Häufigkeit zu beklagen sind, insbesondere im Zusammenhang mit den Unruhen, die im Juni 2010 den Süden des Landes erschütterten. Die Gewaltwelle, bei der Hunderte Menschen starben, Tausende verletzt und unzählige obdachlos wurden, legte tief verwurzelte ethnische Spannungen offen, unter denen vor allem die Angehörigen der usbekischen Minderheit zu leiden hatten.
Auch wenn sich die Lage im Süden weitgehend beruhigt hat, werden Usbeken immer noch Opfer von unrechtmäßigen Inhaftierungen und systematischer Erpressung. Dabei fehlt ihnen die Möglichkeit, sich wirksam rechtlich zur Wehr zu setzen. In Zuge der strafrechtlichen Aufarbeitung der ethnischen Gewalt wurden Hunderte vorwiegend usbekische Angeklagte nach unfairen Gerichtsverfahren schuldig gesprochen, meist auf der Grundlage von Geständnissen, die angeblich durch Folter erpresst worden waren. Der bekannte Menschenrechter Asimjon Askarow wurde nach einem fragwürdigen Prozess im Zusammenhang mit den Unruhen und der Folter von Inhaftierten zu lebenslanger Haft verurteilt.
Es gibt Anzeichen dafür, dass auch die neuerlichen Menschenrechtsverletzungen mit der altbekannten Straflosigkeit stattfinden. So wurden im Oktober zwei usbekische Männer nach fragwürdigen Gerichtsverfahren wegen ihrer Verwicklung in die ethnischen Unruhen von 2010 zu lebenslangen Haftstrafen verurteilt. Bei einem der Fälle kam es wiederholt zu Übergriffen gegen den Angeklagten und seine Verteidiger und es wurden, ungeachtet der neuen Präventionsmechanismen, erneut Foltervorwürfe laut.
Atambajews Einladung nach Deutschland ist richtig
Im vergangenen Monat ließ der kirgisische Geheimdienst GKNB fünf Menschenrechtsaktivisten vorladen, um sie über ein Treffen mit einem Experten der Nichtregierungsorganisation International Crisis Group im Süden des Landes zu befragen. Der Experte selbst wurde am 17. November von den Sicherheitskräften ohne jede Rechtsgrundlage inhaftiert, durchsucht und verhört.
Die Regierung missachtete zudem ihre eigenen Verpflichtungen zum Schutz der Meinungsfreiheit, als sie den Zugang zu dem zentralasiatischen Nachrichtenportal Ferghana.ru einschränkte und einen Dokumentarfilm über homosexuelle Muslime aus dem Programm eines Menschenrechtsfilmfestivals in Bischkek streichen ließ.
Die Entscheidung der Kanzlerin, Atambajew nach Deutschland einzuladen, ist dennoch richtig. Eine solche Geste kann, sofern sie mit einer starken und unmissverständlichen Botschaft verknüpft ist, ein wichtiges Signal setzen.
Bei unseren Konsultationen in Bischkek berichtete uns ein europäischer Diplomat, dass Delegationen aus Europa Kirgisien meist durch die rosarote Brille sehen. "Ich sage ihnen dann immer: 'Zügelt eure Begeisterung, es gibt hier wirklich schwerwiegende Probleme'", so der Diplomat seufzend. Die Bundeskanzlerin darf nicht in dieselbe Falle treten. Sie soll die positiven Entwicklungen in Bischkek ausdrücklich loben, aber ebenso deutlich daran erinnern, dass es Deutschland um internationale Menschenrechtsstandards und Rechtsstaatlichkeit geht – und nicht um fragwürdige Vergleiche mit Kirgisiens Nachbarländern.
Mihra Rittmann ist Zentralasienexpertin bei Human Rights Watch
Hugh Williamson ist Direktor der Europa- und Zentralasienabteilung bei Human Rights Watch