Zusammenfassung
Die Fälle sind wichtig. Wir müssen wissen, dass Prozesse stattfinden. Vor diesen Verbrechen sind wir geflohen.
—Hassan, syrischer Flüchtling in Deutschland, Februar 2017
In den vergangenen sechs Jahren hat die Syrien-Krise etwa 475.000 Menschen das Leben gekostet, so schätzte die Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte im Juli 2017. Alle Konfliktparteien haben in einem Klima der Straflosigkeit schwerste Völkerrechtsverbrechen verübt.
Zahlreiche Gruppen dokumentieren Menschenrechtsverletzungen und Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht in Syrien. Ende des Jahres 2016 schuf die Generalversammlung der Vereinten Nationen (UN) einen Mechanismus, um Beweise für schwere Verbrechen zu sammeln und zu analysieren. Diese sollen in zukünftigen Verfahren vor Gerichten und Tribunalen verwendet werden, die ein Mandat zur Aufarbeitung der Verbrechen haben.
Aber die Fülle an verfügbaren Informationen und Materialien hat die internationalen Bemühungen bislang kaum vorangebracht, Gerechtigkeit für vergangene und andauernde Völkerstraftaten im Land herzustellen. Syrien ist kein Mitgliedstaat des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH). Solange die Regierung dessen Gerichtsbarkeit nicht freiwillig akzeptiert, kann die Chefanklägerin daher nur dann Ermittlungen einleiten, wenn der UN-Sicherheitsrat die Situation in Syrien an sie übergibt. Allerdings blockierten Russland und China im Jahr 2014 eine Sicherheitsratsresolution, mit der das Gericht hätte zuständig werden sollen. Zudem unternahmen weder die syrischen Behörden noch andere Konfliktparteien bislang glaubwürdigen Schritte, um Täter in Syrien oder im Ausland zur Verantwortung zu ziehen. Die resultierende Straflosigkeit befeuert weitere Gräueltaten.
Vor diesem Hintergrund haben verschiedene europäische Behörden damit begonnen, schwerste, in Syrien begangene Völkerrechtsverbrechen zu untersuchen und, wenn möglich, strafrechtlich zu verfolgen. Ihre Vorstöße können dazu beitragen, zumindest in einem begrenzten Rahmen Gerechtigkeit herzustellen, während alle anderen Wege versperrt bleiben.
Das sogenannte We"ltr"echtsprinzip ermöglicht es nationalen Staatsanwaltschaften, gegen Personen zu ermitteln, die bestimmter, schwerster Völkerrechtsverbrechen verdächtig sind, darunter Folter, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Verfahren unter dem We"ltr"echtsprinzip sind auch dann möglich, wenn das fragliche Verbrechen im Ausland begangen wurde und weder der Verdächtige noch das Opfer Bürger des Landes sind, in dem die Ermittlungen durchgeführt werden.
We"ltr"echtsverfahren sind ein zunehmend wichtiger Bestandteil der internationalen Bemühungen, Verantwortlichkeit für Gräueltaten und Gerechtigkeit für Opfer herzustellen, die sich nirgendwo sonst hinwenden können. Sie können auch abschreckende Wirkung haben und gewährleisten, dass Staaten keine sicheren Rückzugsorte für Menschenrechtsverbrecher werden.
Dieser Bericht widmet sich den schwedischen und deutschen Bemühungen, gegen Personen zu ermitteln und diese strafrechtlich zu verfolgen, die in Syrien an schweren Völkerstraftaten beteiligt waren.
Der Bericht basiert auf Befragungen der relevanten Behörden und 45 aus Syrien geflüchteter Personen, die in Schweden und Deutschland leben. Er arbeitet die Herausforderungen heraus, mit denen die Behörden bei diesen Verfahren konfrontiert sind. Ein zweiter Schwerpunkt liegt auf den Erfahrungen, die Flüchtlinge und Asylsuchende bei der Interaktion mit den Behörden und im Kampf für Gerechtigkeit machen. Daraus lassen sich wichtige Lehren für die untersuchten Länder ziehen sowie für andere Staaten, die erwägen, schwerste, in Syrien verübte Verbrechen zu untersuchen.
Schweden und Deutschland verfügen über einige Instrumente, um schwerste Völkerrechtsverbrechen erfolgreich zu untersuchen und strafrechtlich zu verfolgen, insbesondere umfassende Rechtsrahmen, gut funktionierende, spezielle Abteilungen zu Kriegsverbrechen und Erfahrung mit der entsprechenden Strafverfolgung. Außerdem profitieren sie von der großen Zahl syrischer Asylsuchender und Flüchtlinge in Europa, durch die zuvor unerreichbare Opfer, Zeugen, materielle Beweise und sogar einige Verdächtige für die Behörden greifbar sind. Als die zwei wichtigsten Zielländer syrischer Asylsuchender in Europa waren Deutschland und Schweden die ersten Länder, in denen Prozesse gegen Einzelpersonen geführt und abgeschlossen wurden, die im Zusammenhang mit schweren Völkerrechtsverstößen in Syrien stehen.
Nichtsdestotrotz sind beide Länder mit Schwierigkeiten konfrontiert. Zunächst stehen Behörden bei der Strafverfolgung nach dem We"ltr"echtsprinzip vor Problemen, die mit dieser Art von Fällen einhergehen, von ihnen aber nicht immer gelöst werden können. Beispielsweise werden normalerweise nur Verfahren gegen Personen eröffnet, die sich im Hoheitsbereich des Staates aufhalten, in dem die Strafverfolgung stattfindet. Aber die Behörden können nicht beeinflussen, ob ein Tatverdächtiger zu einer bestimmten Zeit in ihr Land reist oder nicht.
Darüber hinaus werden die typischen Herausforderungen dieser Verfahren im Fall von Syrien dadurch verschärft, dass der andauernde Konflikt die Tatorte unzugänglich macht. Daher wenden sich die Behörden beider Länder an andere Stellen, um Informationen einzuholen, etwa an syrische Asylsuchende und Flüchtlinge, an ihre Pendants in anderen europäischen Ländern, an UN-Institutionen und an Nichtregierungsgruppen, die Gräueltaten in Syrien dokumentieren.
Angaben von Praktikern und Flüchtlingen in Schweden und Deutschland zufolge ist es sehr schwierig, relevante Informationen von syrischen Flüchtlingen und Asylsuchenden zu erhalten, weil diese Vergeltungsakte gegen ihre Angehörigen in der Heimat befürchten, Polizisten und Regierungsbeamten wegen negativer Erfahrungen mit syrischen Behörden misstrauen und sich von ihren Aufnahmeländern und der internationalen Gemeinschaft im Stich gelassen fühlen. „Wir sind nicht von dem Regime enttäuscht, wir kennen das Regime, wir haben das Regime überlebt“, so ein syrischer Aktivist. „Wir sind von der Weltgemeinschaft enttäuscht. Sie beruft sich auf die Menschenrechte, wenn es ihr nützt.“
Eine weitere Schwierigkeit ist, dass syrische Asylsuchende und Flüchtlinge in Schweden und Deutschland wenig darüber wissen, wie die Behörden schwerste Völkerrechtsverbrechen untersuchen und strafrechtlich verfolgen, wie sie selbst zu den nationalen Bemühungen um Gerechtigkeit beitragen können und dass Opfer das Recht haben, an Strafverfahren teilzunehmen. Die meisten befragten syrischen Flüchtlinge wussten nichts, nur wenig oder Ungenaues über laufende oder abgeschlossene Verfahren mit Syrien-Bezug. Andere äußerten unrealistische Erwartungen daran, in welchem Umfang nationale Behörden Gerechtigkeit herstellen können, insbesondere angesichts der verschiedenen Grenzen, die ihnen gesetzt sind.
Diese Probleme haben die Behörden beider Länder erkannt und versuchen, Asylsuchende und Flüchtlinge besser einzubeziehen. Allerdings muss in diesem Bereich noch mehr geschehen. Die aktuellen Maßnahmen haben so begrenzte Ressourcen und Mandate, dass ihre Wirksamkeit beeinträchtigt ist. Zudem müssen die Behörden vielfältige Bedürfnisse, Erwartungen und Anforderungen ausbalancieren. Einerseits müssen sie Kontakt zu potenziellen Opfern und Zeugen herstellen, um relevante Informationen zu erhalten. Andererseits müssen sie die Vertraulichkeitsvorschriften bei strafrechtlichen Ermittlungen einhalten und mit dem Risiko umgehen, mit gewaltigen Informationsmengen überfordert zu werden. Zudem müssen sie mit den Erwartungen umgehen, welche Ergebnisse sie den Opfern und der breiten Öffentlichkeit präsentieren werden und wann.
Schwedische und deutsche Beamte berichten, dass die Zusammenarbeit in Fällen mit Syrien-Bezug auf europäischer Ebene dank wirksamer Protokolle gut funktioniert. Zu den Nachbarstaaten von Syrien haben sie allerdings nur begrenzt oder gar keinen Kontakt. Auch haben sie begonnen, sich mit Nichtregierungs- und Regierungsorganisationen auszutauschen, darunter die unabhängige internationale UN-Untersuchungskommission zu Syrien. Allerdings geht die Zusammenarbeit nur langsam voran und wegen ihrer anderen Mandate sind die Informationen, die diese Instanzen sammeln, zwar bei den Ermittlungen hilfreich, aber nicht immer vor nationalen Gerichten als Beweise zulässig.
Grundsätzlich sind alle glaubwürdigen Strafverfahren zu begrüßen, die Verantwortlichkeit für während des Syrien-Konflikts begangene Verbrechen herstellen. Aber in der Realität zeigt sich, dass die ersten, wenigen Fälle, die nationale Behörden innerhalb ihrer jeweiligen Rechtssysteme erfolgreich verhandeln konnten, nicht repräsentativ für das Ausmaß und die Natur der Gräueltaten sind.
Bei den bisherigen Prozessen standen fast ausschließlich rangniedere Mitglieder von ISIS, Jabhat al-Nusra und anderer bewaffneter Gruppen vor Gericht, nur bei einem einzigen Verfahren ein rangniederer Angehöriger der syrischen Regierungskräfte. Darüber hinaus führten praktische und rechtliche Einschränkungen, etwa die Schwierigkeit, Beweise zu finden, die einen Verdächtigen mit einer konkreten Tat in Verbindung bringen, dazu, dass in Deutschland vermehrt Anklagen wegen Terrorismus statt wegen Kriegsverbrechen oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit erhoben werden. Der Straftatbestand „Terrorismus“ lässt sich leichter belegen, weil sich die Behörden darauf konzentrieren können, ob der Angeklagte Verbindungen zu einer als terroristisch eingestuften Organisation unterhält. Aber Verurteilungen allein wegen Mitgliedschaft in einer Terrororganisation reflektieren nicht das Ausmaß der in Syrien verübten Verbrechen.
Die Strafverfolgung von Terrorismus oder von rangniederen Mitgliedern bewaffneter Gruppen sollte nicht Bemühungen ersetzen, schwerste Verbrechen ranghoher Funktionsträger zu untersuchen und vor Gericht zu bringen. Solche Verfahren können die Einhaltung des humanitären Völkerrechts fördern und Gerechtigkeit für schwerste Straftaten herstellen.
Es besteht auch ein Wahrnehmungsproblem. Wird ein Tatverdächtiger, bei dem Hinweise auf schwere Völkerrechtsverstöße vorliegen, nur wegen Terrorismus angeklagt, ohne dass die Behörden erkennbar versuchen, ihn auch wegen Kriegsverbrechen oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu belangen, dann könnte der Eindruck entstehen, dass sie sich ausschließlich darauf konzentrieren, nationale Bedrohungen zu bekämpfen. Hingegen sollte die Strafverfolgung von Terrorismus einher gehen mit der Strafverfolgung von Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Völkermord – und dafür müssen die erforderlichen Ressourcen bereitgestellt werden.
Syrische Flüchtlinge in beiden Ländern zeigten sich frustriert darüber, dass die bis dato verhandelten Fälle nicht das ganze Spektrum der Täter und der in Syrien verübten Gräueltaten repräsentieren. Vor allem, dass bisher nur ein einziger Prozess gegen eine Person mit Verbindungen zur syrischen Regierung angestrengt wurde, führt dazu, dass sie die Unparteilichkeit und Fairness der Verfahren insgesamt in Frage stellen.
Um den Herausforderungen zu begegnen, mit denen die Behörden konfrontiert sind, sollen Schweden und Deutschland gewährleisten, dass ihre Abteilungen, die zu Kriegsverbrechen arbeiten, mit angemessenen, auch personellen Ressourcen ausgestattet sind und das Personal kontinuierlich weitergebildet wird. Außerdem sollen sie neue Wege gehen, um syrische Flüchtlinge und Asylsuchende in ihrem Hoheitsgebiet besser einzubeziehen.
Insgesamt unterstreichen die Einschränkungen der bislang verhandelten Fälle, dass es eines umfassenderen Gerechtigkeitsprozesses bedarf, um der Straflosigkeit in Syrien zu begegnen. In ihn sollten so viele Rechtssysteme wie möglich einbezogen werden, in denen faire und glaubwürdige Verfahren geführt werden können. Zahlreiche Tatverdächtige, darunter ranghohe Beamte oder Befehlshaber der syrischen Regierung, werden höchstwahrscheinlich nicht nach Europa reisen. Um diese Lücke zu schließen, ist auf längere Sicht ein mehrstufiger, bereichsübergreifender Ansatz erforderlich, der zusätzlich zu Verfahren nach dem We"ltr"echtsprinzip auch andere Rechtsinstrumente auf internationaler und nationaler Ebene einbezieht.
Empfehlungen
An Schweden und Deutschland
- Es soll gewährleistet werden, dass Abteilungen, die zu Kriegsverbrechen arbeiten, innerhalb der Strafverfolgungsbehörden und Staatsanwaltschaften über angemessene Mittel und ausreichend Personal verfügen. Insbesondere müssen die Sonderabteilungen der Strafverfolgung ausgestattet sein mit Syrien-Experten, Informationstechnologie-Analytikern, Forensik-Experten und eigenen Übersetzern. In Deutschland sollen die Mittel und das Personal der Zentralstelle für die Bekämpfung von Kriegsverbrechen aufgestockt werden, so dass sie die Informationen über schwerste, in Syrien verübte Verbrechen filtern kann, die sie aus unterschiedlichen Quellen erhält.
- Mitarbeiter der Sonderabteilungen, Richter und Anwälte der Tatverdächtigen und Opfer sollen kontinuierlich und angemessen weitergebildet werden, zu Themen wie die Befragung traumatisierter Zeugen und die Feststellung des Schutzbedarfs von Zeugen.
- Asylsuchende, die möglicherweise Opfer oder Zeugen schwerster Völkerrechtsverbrechen sind, sollen darüber informiert werden, dass sie das Recht haben, diese Verbrechen bei der Polizei anzuzeigen und am Strafverfahren teilzunehmen, und auch darüber, wie sie das tun können. Zu diesem Zweck sollen alle angemessenen Kommunikationswege berücksichtigt werden, einschließlich Videos und soziale Medien.
- Es soll gewährleistet werden, dass Informationen, die Personen in Asylanhörungen preisgeben, nicht an Strafverfolgungsbehörden oder Staatsanwaltschaften weitergegeben werden, bevor die betroffenen Personen nicht ihre informierte Zustimmung dazu gegeben haben. Auch soll gesetzlich garantiert werden, dass Entscheidungen über ihren Flüchtlingsstatus nicht davon abhängig gemacht werden, ob sie mit Strafverfolgungsbehörden oder Staatsanwaltschaften kooperieren.
- Folter soll als alleinstehender Straftatbestand in Einklang mit Artikel 1 der UN-Antifolterkonvention etabliert werden.
- Wenn stichhaltige Beweise vorliegen, die eine verdächtige Person mit Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit oder Völkermord in Verbindung bringen, soll die Anklage nicht auf Verstöße gegen Anti-Terror-Gesetze begrenzt werden.
- Wichtige Entscheidungen, Urteile, Pressemitteilungen und relevante Websites mit Informationen über Fälle im Zusammenhang mit Verbrechen in Syrien sollen in andere Sprachen, insbesondere Arabisch und Englisch, übersetzt werden.
- Es soll geprüft werden, ob Informationen in anderen Sprachen wie Arabisch und Englisch zur Verfügung gestellt werden können, insbesondere auf Websites der Strafverfolgungsbehörden und Staatsanwaltschaften, über Apps und anderen Mitteln, die die breite Öffentlichkeit darüber informieren, wie Opfer und Zeugen schwerster Völkerrechtsverbrechen die Abteilungen, die zu Kriegsverbrechen arbeiten, kontaktieren können.
- Es soll geprüft werden, ob und wie relevante Pressekonferenzen und Veranstaltungen, in denen die Sonderabteilungen ihre Arbeit diskutieren, syrischen Gemeinschaften zugänglich gemacht werden können.
- Es soll gewährleistet werden, dass Sonderabteilungen und Einwanderungsbehörden syrische Flüchtlinge, Asylsuchende und die breite Öffentlichkeit aktiv und in unterschiedlichen Sprachen, darunter Englisch und Arabisch, über ihr Mandat informieren. Es soll geprüft werden, ob soziale Netzwerke genutzt werden können, um besser mit syrischen Flüchtlingen und Asylsuchenden in Kontakt zu treten und die Arbeit der Sonderabteilungen bekannt zu machen.
- Es soll gewährleistet werden, dass die Behörden die Instrumente angemessen bewerben und in Umlauf bringen, die bereits existieren und mit denen sie die relevanten Personengruppen erreichen wollen, einschließlich Apps, Websites und Broschüren.
- Es soll gewährleistet werden, dass Mitarbeiter der Einwanderungsbehörden und Dolmetscher, die Asylsuchende während der Anhörung unterstützen, ordentlich ausgebildet sind.
- Es soll gewährleistet werden, dass die Behörden das Einwanderungs- und Asylrecht nicht nutzen, um Personen abzuschieben, die schwerer Völkerrechtsverbrechen verdächtig sind, statt sie in Fällen, in denen stichhaltige Beweise vorliegen, strafrechtlich zu verfolgen.
- Die politische und finanzielle Unterstützung des internationalen, unabhängigen Mechanismus der UN zur Untersuchung schwerster Verbrechen in Syrien soll fortgesetzt werden.
An andere Länder, die Ermittlungen in schweren, in Syrien verübten Verbrechen in Betracht ziehen
- Wenn diese noch nicht existieren, sollen in den Strafverfolgungsbehörden und Staatsanwaltschaften Sonderabteilungen zu Kriegsverbrechen eingerichtet und gewährleistet werden, dass sie angemessen ausgestattet sind.
- Wenn diese noch nicht existiert, soll ein angemessener Rechtsrahmen zur Verfolgung von Völkerrechtsverbrechen geschaffen werden.
- Es soll gewährleistet werden, dass die Sonderabteilungen produktiv zusammenarbeiten, auch indem bei regelmäßigen Treffen spezifische Fälle diskutiert werden.
- Es soll ein klarer und transparenter Rahmen für die Zusammenarbeit zwischen Einwanderungsbehörden und Sonderabteilungen geschaffen werden, der den Austausch von Informationen unter Wahrung der Rechte der Asylsuchenden, auch des Rechts auf Vertraulichkeit, ermöglicht.
- Mitarbeiter der Sonderabteilungen, Richter und Anwälte von Verdächtigen und Zeugen sollen kontinuierlich und angemessen weitergebildet werden, zu Themen wie der Befragung traumatisierter Zeugen und Zeugenschutz.
- Wenn stichhaltige Beweise vorliegen, die eine verdächtige Person mit Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit oder Völkermord in Verbindung bringen, soll die Anklage nicht auf Verstöße gegen Anti-Terror-Gesetze begrenzt werden.
- Es soll davon abgesehen werden, Personen abzuschieben, die keinen Anspruch auf Flüchtlingsschutz haben, wenn nicht vorab geprüft wird, ob ihre Abschiebung sie in Gefahr bringt, Opfer von Folter, unfairen Gerichtsverfahren oder anderer unangemessener oder unmenschlicher Behandlung zu werden.
An die Europäische Union
- Das EU Genocide Network und Eurojust sollen mit den notwendigen Ressourcen ausgestattet werden, um ihr Mandat auszuüben und die Mitgliedstaaten zu unterstützen, auch indem sie weiterhin ad-hoc-Treffen organisieren, Länder ohne Sonderabteilungen, die zu Kriegsverbrechen arbeiten, unterstützen und regelmäßige Briefings des Europäischen Parlaments ermöglichen.
- Es soll gewährleistet werden, dass Behörden Informationen, die über das neue EASO Exclusion Network ausgetauscht werden, nutzen, um Personen strafrechtlich zu verfolgen oder zum Zweck der strafrechtlichen Verfolgung an ein anderes Land auszuliefern, wenn ein ernster Verdacht auf Völkerrechtsverstöße vorliegt, statt sie abzuschieben. Es soll gewährleistet werden, dass keine Person unabhängig von ihrem 1F-Status in ein Land abgeschoben oder an ein Land ausgeliefert wird, in dem die reale Gefahr besteht, dass sie dort Opfer von Folter, unfairen Gerichtsverfahren oder anderer unangemessener oder unmenschlicher Behandlung wird.
- Innerhalb von Europol soll eine zentrale Datenbank zu Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Völkermord aufgebaut werden, wobei gewährleistet sein muss, dass Europol über angemessene analytische Unterstützung verfügt.
An die UN-Untersuchungskommission zu Syrien
- Die Zusammenarbeit mit nationalen Behörden, die schwerste, in Syrien verübte Verbrechen untersuchen und strafrechtlich verfolgen, soll fortgesetzt werden, auch durch das Aufrechterhalten bestehender Kommunikationskanäle.
- Es soll mit dem internationalen, unabhängigen Mechanismus der UN zur Untersuchung schwerster Verbrechen in Syrien zusammengearbeitet werden, um die Komplementarität der beiden Instanzen zu gewährleisten und Dopplungen in ihrer Arbeit zu vermeiden.
An den UN-Hochkommissar für Menschenrechte und die Mitgliedstaaten der UN
- Es soll gewährleistet werden, dass die Untersuchungskommission zu Syrien durch den UN-Beratungsausschuss für Verwaltungs- und Haushaltsfragen (ACABQ) mit angemessenen Mitteln und Personal ausgestattet wird, auch mit Personal für die Zusammenarbeit der Kommission mit nationalen Behörden, die schwerste, in Syrien verübte Verbrechen untersuchen und strafrechtlich verfolgen, sowie mit geeigneter Software und anderen Mitteln, die diese Zusammenarbeit erleichtern.
An den internationalen, unabhängigen Mechanismus der UN zu Syrien
- Es soll mit nationalen Behörden zusammengearbeitet werden, die schwerste, in Syrien verübte Verbrechen untersuchen und strafrechtlich verfolgen, auch indem ein kontinuierlicher Dialog mit dem nationalen Behörden etabliert wird.
- Es soll die Arbeit mit der UN-Untersuchungskommission zu Syrien koordiniert und mit ihr kooperiert werden, um die Komplementarität der beiden Instanzen zu gewährleisten und Dopplungen in ihrer Arbeit zu vermeiden.
Methodologie
Dieser Bericht basiert auf Recherchen im Zeitraum Oktober 2016 bis Juli 2017, davon im Januar 2017 in Schweden und im Februar 2017 in Deutschland.
Er konzentriert sich auf Schweden und Deutschland, weil in diesen Ländern seit 2011 die meisten Asylanträgen von Syrern gestellt wurden und sie als erste Gerichtsverfahren im Zusammenhang mit schwersten, in Syrien verübten Verbrechen abgeschlossen haben. Außerdem verfügen beide Länder über funktionierende Abteilungen innerhalb ihrer Strafverfolgungsbehörden und Staatsanwaltschaften, die zu Kriegsverbrechen arbeiten.
Insgesamt liegt der Schwerpunkt auf Fällen die von schwedischen und deutschen Behörden nach dem We"ltr"echtsprinzip verfolgt wurden. Zudem werden zwei deutsche Verfahren berücksichtigt, die auf dem „Täterprinzip“ beruhen, einer anderen Form nationaler Gerichtsbarkeit, die dann greift, wenn der mutmaßliche Täter Staatsbürger des Landes ist, in dem die Strafverfolgung stattfindet.
Während eine Reihe unterschiedlicher Akteure an diese Verfahren beteiligt sind – darunter Anwälte der Täter und der Opfer – behandelt dieser Bericht vorrangig die Arbeit der Strafverfolgungsbehörden und Staatsanwaltschaften.
Die Termini „schwere/schwerste Völkerrechtsverbrechen“, „schwere/schwerste Völkerstraftaten“ und „schwere/schwerste Völkerrechtsverstöße“ werden synonym gebraucht und beziehen sich auf Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Völkermord.
Human Rights Watch befragte 50 Personen in Schweden, Deutschland, der Schweiz, den Niederlanden und der Türkei, darunter Staatsanwälte, polizeiliche Ermittler, Analytiker, Mitarbeiter von Einwanderungsbehörden, Anwälte von Opfern und Verdächtigen, Regierungsangehörige, Wissenschaftler, Nichtregierungsorganisationen (NGOs), internationale und europäische Organisationen und Journalisten. Darüber hinaus wurde eine Anhörung im Prozess gegen Haisam Omar Sakhanh im Stockholmer Bezirksgericht in Schweden am 18. Januar 2017 beobachtet.
Die meisten Interviews mit Beamten und Experten wurden persönlich geführt, einige per Telefon oder Email. Fast alle wurden auf Englisch geführt, drei auf Deutsch mit Unterstützung eines Dolmetschers. Die meisten Befragten wollten offen sprechen, aber nicht namentlich zitiert oder anderweitig identifiziert werden. Daher werden im Bericht Informationen zurückgehalten, die Rückschluss auf ihre Person erlauben. Der Begriff „Praktiker“ wird verwendet, um zu gewährleisten, dass die Quellen nicht unabsichtlich enthüllt werden; er bezieht sich auf Staatsanwälte, polizeiliche Ermittler, Analytikern, Mitarbeiter von Einwanderungsbehörden und Anwälte, die an Verfahren zu schweren Völkerrechtsverbrechen beteiligt sind.
Darüber hinaus wurden 45 syrische Flüchtlinge im Alter von 17 bis 58 Jahren befragt, zehn Frauen und 35 Männer aus unterschiedlichen Teilen Syriens. Zehn der Befragten waren Menschenrechtsaktivisten. In Schweden wurden 19 Flüchtlinge befragt (neun in Värmdö, neun in Varberg, und eine Person telefonisch), in Deutschland 26 (zwölf in Berlin, neun in Hannover und fünf in Köln). In Schweden wurden zwei Flüchtlinge einzeln befragt (einer davon telefonisch), 17 Personen wurden in kleinen Gruppen aus vier bis fünf Personen interviewt. In Deutschland wurden acht Flüchtlinge einzeln befragt und 18 in kleinen Gruppen aus zwei bis fünf Personen. 22 der syrischen Flüchtlinge gaben an, dass sie von der syrischen Regierung inhaftiert worden waren; 16 berichteten, dass sie von Regierungskräften gefoltert wurden. Die meisten dieser Interviews wurden mit Unterstützung eines Dolmetschers auf Arabisch geführt, neun auf Englisch. Die Namen aller befragten syrischen Flüchtlinge werden zu ihrem Schutz nicht genannt. Stattdessen werden Pseudonyme verwendet.
Alle Interviewpartner wurden über den Zweck ihrer Befragung informiert sowie darüber, wie ihre Daten gesammelt und genutzt werden, und erklärten sich freiwillig bereit, Auskunft zu geben.
I. Hintergrund
Angehörige der unterschiedlichen bewaffneten Gruppen und Parteien des Syrien-Konflikts haben schwere Verstöße gegen internationale Menschenrechtsstandards und das humanitäre Völkerrecht begangen.
Seit dem Jahr 2011 wurden mehr als 106.000 Personen inhaftiert oder sind verschwunden, überwiegend sind dafür Regierungskräfte verantwortlich. Allein zwischen Januar und Juni 2016 betraf dies 4.557 Menschen, so das Syrische Netzwerk für Menschenrechte.[1] Folter und Misshandlung grassieren in den Regierungsgefängnissen, in denen Tausende gestorben sind. Die syrisch-russische Koalition führte Luftangriffe aus, bei denen zivile Gebiete entweder das Ziel waren oder willkürlich bombardiert wurden. Die Regierungskräfte setzten Streumunition, Brandbomben und chemische Waffen großangelegt und systematisch ein, teilweise gegen Zivilisten. Die syrische Regierung und mit ihr verbündete Kräfte haben im großen Umfang weitere Verstöße begangen, darunter rechtswidrige Blockaden humanitärer Hilfe, rechtswidrige Belagerungen, außergerichtliche Hinrichtungen und erzwungenes „Verschwindenlassen“.[2]
Der Islamische Staat (oder ISIS) und der ehemalige Al-Qaida-Ableger in Syrien, die al-Nusra-Front (Jabhat al-Nusra, später bekannt als Dschabhat Fatah asch-Scham, dann als Hayat Tahrir asch-Scham) sind ebenfalls verantwortlich für systematische und großangelegte Völkerrechtsverstöße, darunter Artilleriebeschuss von Zivilisten, Entführungen und Hinrichtungen. ISIS und Jabhat al-Nusra belegten Frauen und Mädchen mit strengen und diskriminierenden Regeln und rekrutierten regelmäßig Kindersoldaten. ISIS versklavte und missbrauchte jesidische Frauen und Mädchen sexuell, benutzte Zivilisten als menschliche Schutzschilder und legte Antipersonenminen, die von den Opfern ausgelöst werden, in und im Umfeld von verlorenen Gebieten, wodurch Zivilisten auf der Flucht oder beim Versuch, nach Hause zurückzukehren, verstümmelt und getötet werden. Darüber hinaus hat ISIS Zivilisten nachweislich mindestens dreimal mit chemischen Waffen angegriffen.[3]
Nichtstaatliche, bewaffnete Oppositionsgruppen haben ebenfalls willkürlich Zivilisten angegriffen, entführt und gefoltert, widerrechtlich humanitäre Hilfe blockiert und rechtswidrig Orte belagert.[4]
Die Vereinigten Staaten von Amerika unterstützen bewaffnete Gruppen, darunter die Demokratischen Kräfte Syriens (DKS), die aus den Kurdischen Volksverteidigungseinheiten (YPG) und anderen Gruppen bestehen. Die DKS, die YPG und die kurdische Polizei, die Asayîş, haben Menschenrechte verletzt, unter anderem durch die Rekrutierung von Kindersoldaten, willkürliche Inhaftierungen und die Misshandlung Gefangener, mutmaßlich auch durch erzwungenes „Verschwindenlassen“ und Morde an Personen, die die Partei der Demokratischen Union (PYD) ablehnen. Weiter gefährdeten sie Zivilisten, indem sie Streitkräfte in bewohnten, zivilen Gebieten stationierten.[5]
Sowohl die von den USA geführte Koalition als auch türkische Streitkräfte sind verantwortlich für mutmaßlich rechtswidrige Luftangriffe, bei denen Zivilisten starben.[6]
Viele Menschenrechtsverletzungen, die seit dem Beginn der Syrien-Krise von Angehörigen aller Konfliktparteien begangen wurden, können als Kriegsverbrechen gewertet werden, einige auch als Verbrechen gegen die Menschlichkeit.
Im August 2013 schmuggelte ein Militärüberläufer mit dem Decknamen „Caesar“ 53.275 Fotos aus Syrien heraus, von denen viele die Leichen von Gefangenen zeigen, die in Hafteinrichtungen gestorben sind.[7] Das Entsetzen, das diese Bilder bei einigen Mitgliedern des UN-Sicherheitsrates auslösten, regte Frankreich dazu an, eine Resolution einzubringen, die den Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) damit beauftragen sollte, die schweren Völkerrechtsverbrechen zu untersuchen, die seit dem Jahr 2011 begangen wurden. Allerdings legten Russland und China am 22. Mai 2014 Vetos gegen die Resolution ein, so dass das Gericht nicht in Syrien aktiv werden konnte.[8]
Da Syrien das Rom-Statut, den Gründungsvertrag des IStGH, nicht ratifiziert hat, unterliegen dort verübte Verbrechen nur dann der Gerichtsbarkeit des IStGH, wenn der Sicherheitsrat die Situation an die Ankläger verweist oder wenn Syrien deren Zuständigkeit freiwillig akzeptiert.[9] Keine dieser Optionen ist derzeit realistisch.
Das Scheitern der IStGH-Resolution bedeutet, dass die meisten Wege zu strafrechtlicher Verantwortlichkeit blockiert sind, sei es ein internationales Tribunal oder nationale Prozesse in Syrien. Dass es derzeit unmöglich ist, die Täter zur Rechenschaft zu ziehen, trägt zweifellos dazu bei, dass alle Konfliktparteien weiterhin schwere Menschenrechtsverletzungen begehen. Zugleich unterstützten zahlreiche Regierungen und NGOs die IStGH-Resolution ausdrücklich. Offensichtlich besteht ein breites internationales Interesse daran, Gerechtigkeit für die schweren Völkerrechtsverstöße in Syrien herzustellen.
Gräueltaten dokumentieren
Da der Sicherheitsrat in Bezug auf Syrien blockiert ist, nahm die UN-Generalversammlung im Jahr 2016 eine Resolution an, die einen bislang einzigartigen Mechanismus etabliert, der die Untersuchung schwerer Völkerrechtsverbrechen in Syrien seit dem Jahr 2011 voranbringen soll.[10]
Zusätzlich haben eine Reihe von Instanzen in den letzten sechs Jahren aktiv Verstöße gegen Menschenrechtsstandards und das humanitäre Völkerrecht in Syrien dokumentiert. Im Jahr 2015 richtete der Sicherheitsrat einen gemeinsamen Untersuchungsmechanismus (Joint Investigative Mechanism, JIM) der Organisation für das Verbot chemischer Waffen und der UN ein, um den Einsatz chemischer Waffen in Syrien zu untersuchen und festzustellen, wer für entsprechende Angriffe verantwortlich ist.[11] Seitdem hat der JIM fünf Berichte veröffentlicht, die zu dem Ergebnis kommen, dass die syrische Regierung und ISIS chemische Waffen eingesetzt haben.[12] Die unabhängige, internationale Untersuchungskommission zu Syrien, die der UN-Menschenrechtsrat im August 2011 etablierte, hat bislang 22 detaillierte Berichte über schwere Verbrechen aller Konfliktparteien veröffentlicht (14 mandatierte und acht thematische Berichte).[13] Organisationen wie Human Rights Watch, Amnesty International, das Syria Justice and Accountability Centre, die Commission for International Justice and Accountability und unterschiedliche syrische Gruppen beteiligen sich ebenfalls an der Dokumentation schwerer Verbrechen in Syrien.[14]
Dass die Verbrechen dokumentiert und Beweise gesichert werden, ist wichtig und dürfte für zukünftige nationale und internationale Strafverfahren zentral sein. Allerdings bedarf es weiterhin eines Rechtsforums, um umfassende Gerechtigkeit für die schweren Völkerrechtsverbrechen in Syrien herzustellen.
Strafverfahren in Drittstaaten
Normalerweise können die Behörden eines Landes nur in Verbrechen ermitteln, wenn zwischen ihrem Land und der Tat eine Verbindung besteht. Diese Verbindung ist im Regelfall eine territoriale, das heißt, dass das Verbrechen oder bedeutende Teile von ihm im Hoheitsgebiet des Staates verübt wurden, in dem die Strafverfolgung stattfindet (Territorialitätsprinzip). Viele Staaten können außerdem Strafverfahren auf Grund einer personellen Verbindung einleiten, wenn der Tatverdächtige (Täterprinzip) oder das Opfer (Opferprinzip) ein Bürger des Landes ist. Allerdings können einige Staaten auch dann aktiv werden, wenn es keine territoriale oder personelle Verbindung gibt. Die Gerichtsbarkeit beruht dann auf dem We"ltr"echtsprinzip, unter dem nationale Gerichte für bestimmte Völkerrechtsverbrechen zuständig werden können, darunter Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Folter, Völkermord, Piraterie, Angriffe auf UN-Personal und erzwungenes „Verschwindenlassen“.
Mehrere Länder wenden das We"ltr"echtsprinzip in ihren nationalen Rechtssystemen an. Ihre Strafverfolgungsbehörden können gegen Personen ermitteln, die sich in ihrem Hoheitsgebiet aufhalten und bestimmter, schwerster Völkerrechtsverstöße verdächtig sind, selbst dann, wenn diese im Ausland verübt wurden und weder der Verdächtige noch das Opfer Bürger des Landes ist. Die meisten nationalen Rechtsordnungen geben vor, dass der Tatverdächtige sich im Land aufhalten oder eine Aufenthaltsgenehmigung haben muss, bevor die nationalen Behörden für eine Völkerstraftat zuständig werden können.[15]
Deutschland, Schweden und Norwegen sind die einzigen europäischen Länder mit uneingeschränkter Gerichtsbarkeit bezüglich Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Völkermord. Das heißt, es muss keinerlei Verbindung zwischen diesen Ländern und dem Verbrechen bestehen, damit die Behörden zuständig werden können. Die Behörden können auch dann Ermittlungen einleiten, wenn der Verdächtige sich nicht in ihrem Hoheitsgebiet aufhält oder keine Aufenthaltsgenehmigung hat. Nichtsdestotrotz haben die Staatsanwaltschaften einen breiten Ermessensspielraum bei der Entscheidung, ob sie Ermittlungen einleiten, wenn der Verdächtige nicht im Land ist. Das trägt unter anderem der Schwierigkeit Rechnung, Gerechtigkeit in Abwesenheit des Angeklagten herzustellen.[16]
In einer Reihe europäischer Länder laufen derzeit Ermittlungen im Zusammenhang mit schwersten Menschenrechtsverletzungen in Syrien, etwa Folter oder andere Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Deutschland und Schweden sind die ersten Staaten, in denen Einzelpersonen für solche Verbrechen verurteilt wurden.
Syrer in Schweden und Deutschland
Dem UN-Hochkommissar für Flüchtlinge zufolge haben europaweit die meisten Personen aus Syrien in Deutschland und Schweden Asylanträge gestellt – 64 Prozent der 970.316 Anträge zwischen April 2011 und Juli 2017 (507.795 in Deutschland, 112.899 in Schweden).[17]
Syrische Staatsbürger in Deutschland und Schweden betonten übereinstimmend, dass ihnen wichtig sei, dass die Verantwortlichen für Gräueltaten in Syrien zur Rechenschaft gezogen werden. Die Befragten nannten eine Reihe von Gründen, darunter, die Würde der Opfer wiederherzustellen, indem ihr Leid anerkannt wird. Ahmad, ein Journalist, der nach eigenen Angaben wegen seiner Arbeit von der syrischen Regierung inhaftiert und gefoltert wurde, sagte:
Wenn wir schweigen, ist das, als wären wir an dem Verbrechen beteiligt. Für mich und andere hat Gerechtigkeit die höchste Priorität. Ich wurde für etwas, das legal ist, gefoltert und ins Gefängnis gesteckt. Meine Rechte wurden verletzt.[18]
Samira, die viele Angehörige im Krieg verloren hat, berichtete, dass sie Zeugin unterschiedlicher Gräueltaten wurde, und formulierte ihren Wunsch nach Gerechtigkeit:
Das Regime hat meinen Bruder mit 14 Kugeln getötet. Ich habe schreckliche Dinge gesehen, meine ganze Familie ist gestorben. Ich habe gesehen, wie fünf Kinder hingerichtet wurden, ich habe gesehen, wie ihnen die Köpfe abgeschnitten wurde. Ich konnte eine Woche lang nicht schlafen. […] Es ist sehr wichtig, dass Gerechtigkeit hergestellt wird, damit ich mich wieder wie ein Mensch fühlen kann.[19]
Für andere Befragte können Strafverfahren nicht nur die Opfer entschädigen und die Täter bestrafen, sondern auch von zukünftigen Verbrechen abschrecken. Abdullah, der als Kind von der Regierung inhaftiert und gefoltert wurde und dessen Angehörige von Regierungskräften getötet wurden, sagte:
Ich wurde im Gefängnis zum Mann. […] Ich leide sehr. Mein Vater wurde bei einem Massaker getötet, und ich will die Leute, die das getan haben, nicht in Schweden sehen. Prozesse sind wichtig, um Verbrechen in Syrien zu verhindern.[20]
Ayman, der genau wie seine Familie in zwei unterschiedlichen Regierungseinrichtungen inhaftiert und gefoltert wurde, erklärte:
Es geht darum, was uns passiert es, um die Menschen, die im Gefängnis gestorben sind. Es geht um politische Entscheidungen und darum, dass etwas geschieht, weil es bisher viele Berichte gab, aber nichts passiert ist.[21]
In Schweden befragte Syrer sagten weiter, dass Strafverfahren dazu beitragen könnten, Respekt für und Vertrauen in den Rechtsstaat aufzubauen. Außerdem zeigten sie den Tätern, dass sie sich nicht dem Recht entziehen können. Muhammad, ein Aktivist, der einige in Deutschland lebende Opfer dabei unterstützt, gegen die Täter vorzugehen, sagte:
Diese Menschen [die Mitglieder der syrischen Regierung] denken, dass es zu einer politischen Lösung kommen wird und dass sie nach Europa werden fliehen können. Ich will, dass sie sich genauso verfolgt fühlen wie die Menschen, die sie ihr Leben lang verfolgt haben. Wir müssen den Opfern zeigen, dass es Hoffnung gibt, und den Tätern, dass sie nicht entkommen können.[22]
Aisha, die von der Regierung inhaftiert wurde und mit angesehen hat, wie Regierungskräfte ihre Angehörigen folterten, sagte: „Lasst sie nicht ihr Leben leben: Wenn einer wegrennen will, warten Gerichte auf ihn.“[23]
Einige Befragten verwiesen auch auf ihren Status als Flüchtlinge und denken, dass Strafprozesse in ihren Aufnahmeländern dazu beitragen können, fremdenfeindliche Ressentiments in Europa zu bekämpfen. Denn diese Verfahren würden beweisen, dass Flüchtlinge tatsächlich vor Verbrechen fliehen, und dabei helfen, Verbrecher vor Gericht zu bringen.
Othman, ein Student, der von der syrischen Regierung inhaftiert und gefoltert worden war und Zeuge eines Massakers ist, äußerte sich besorgt darüber, wie die schwedische Bevölkerung syrische Flüchtlinge wahrnimmt. Strafverfahren könnten der Bevölkerung ein Gefühl von Sicherheit vermitteln.
…in Schweden gibt es viele Verallgemeinerungen über Flüchtlinge. Ich bin ständig damit konfrontiert. Es ist wichtig, dass sich die Schweden sicher fühlen. Durch diese Prozesse lernen sie, dass die gefährlichen Leute bestraft werden. […] Das Wichtigste ist, dass die Schweden wissen, dass sie sich sicher fühlen können.[24]
Schließlich bezeichneten einige syrische Flüchtlinge Verfahren in Drittstaaten wie Schweden oder Deutschland als kleine Schritte auf dem weiten Weg zu umfassenderer Gerechtigkeit für Syrien. Mustafa, ein ehemaliger Mitarbeiter eine Hilfsorganisation in Syrien, sagte:
Es ist sehr wichtig, dass das passiert. Prozesse sind wichtig, unabhängig davon, wo das Gericht seinen Sitz hat. Sie bereiten den Weg für zukünftige Gerechtigkeit.[25]
II. Grundlagen für Gerechtigkeit in Schweden und Deutschland
Schweden und Deutschland sind die zwei ersten Länder, in denen Einzelpersonen wegen schwerster Völkerrechtsverbrechen während des Syrien-Konflikts vor Gericht standen.[26] Dafür gibt es mehrere Gründe.
Erstens verfügen beide Länder über entsprechende Gesetze und Sonderabteilungen zu Kriegsverbrechen innerhalb ihrer Strafverfolgungsbehörden und Staatsanwaltschaften, die sich schwersten Völkerrechtsverbrechen im Ausland widmen. Darüber hinaus spielen die Einwanderungsbehörden eine Schlüsselrolle, da sie die Sonderabteilungen mit relevanten Informationen unterstützen.
Zweitens haben die Behörden beider Länder bereits Erfahrung damit, in schwersten Völkerrechtsverbrechen zu ermitteln. Im Jahr 1997 war Deutschland das erste Land, in dem eine Person unter dem We"ltr"echtsprinzip wegen Völkermordes verurteilt wurde.[27] Nachdem im Jahr 2009 Sonderabteilungen zu Kriegsverbrechen eingerichtet worden waren, untersuchten deutsche Staatsanwälte auch schwerste Völkerrechtsverbrechen, die in Ruanda, der östlichen Demokratischen Republik Kongo und im Irak begangen wurden. [28] Die schwedische Staatsanwaltschaft erreichte im Jahr 2006 den ersten Schuldspruch wegen Kriegsverbrechen während des Konflikts im ehemaligen Jugoslawien im Jahr 1993.[29] Seit der Einrichtung von Abteilungen, die zu Kriegsverbrechen arbeiten, wurden sechs weitere Fälle verfolgt, alle im Zusammenhang mit schwersten Völkerrechtsverstößen während der Konflikte im ehemaligen Jugoslawien, in Ruanda und im Irak.[30]
Drittens halten sich sehr viele Syrer in beiden Ländern auf, und mit ihnen Opfer und Tatverdächtige. Augenscheinlich geht davon ein politischer Impetus aus, aller Täter im eigenen Hoheitsgebiet habhaft zu werden.
Gesetze
Schweden
Im Juni 2014 nahm das schwedische Parlament ein Gesetz über die strafrechtliche Verantwortung für Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen an. [31] Dessen Vorschriften spiegeln zu großen Teilen diejenigen des Rom-Statuts und schaffen die Grundlage für die Strafverfolgung von Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen. Auch bezieht es unterschiedliche Formen der Verantwortlichkeit ein, die im Völkerstrafrecht geläufig sind, etwa Befehlsverantwortung. Kriegsverbrechen, die verübt wurden, bevor das Gesetz im Jahr 2014 in Kraft trat, können unter dem Strafgesetzbuch als „Verbrechen gegen das Völkerrecht“ verfolgt werden.[32] Folter ist derzeit kein eigenständiger Straftatbestand, kann aber als Kriegsverbrechen oder als Verbrechen gegen die Menschlichkeit geahndet werden.[33]
Das Strafrecht sieht vor, dass schwedische Gerichte uneingeschränkt für Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Völkermord zuständig sind – das heißt, es ist keine spezifische Verbindung zu Schweden notwendig, um diese Verbrechen zu verfolgen. Sie können also außer Landes verübt worden sein und weder der Tatverdächtige noch die Opfer müssen schwedische Staatsangehörige sein oder sich in schwedischem Hoheitsgebiet aufhalten. [34] Die Staatsanwaltschaft verfügt über einen Ermessensspielraum darüber, ob sie einen Fall nach Prüfung der ihr vorliegenden Beweise weiterverfolgt, was bei stichhaltigen Beweisen in der Regel geschieht.[35]
Deutschland
Seit Inkrafttreten des Völkerstrafgesetzbuches (VStGB) im Jahr 2002 ist Deutschland eines der ersten Länder, die das Rom-Statut des IStGH in ihr nationales Recht übernommen haben. [36] Das Gesetz definiert Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Völkermord in Einklang mit dem IStGH-Vertrag und enthält auch Bestimmungen über Befehlsverantwortung und weitere Formen der Verantwortlichkeit. Im deutschen Recht ist Folter kein alleinstehender Straftatbestand, kann aber als Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen verfolgt werden.[37]
Unter dem VStGB können die deutschen Behörden schwerste, im Ausland verübte Völkerrechtsverstöße untersuchen und strafrechtlich verfolgen, auch wenn die fraglichen Verbrechen keine Verbindung zu Deutschland haben. Allerdings wird diese universelle Zuständigkeit durch einige verfahrensrechtliche Bestimmungen eingeschränkt.[38] Insbesondere spricht Artikel 153(f) der deutschen Strafprozessordnung der Staatsanwaltschaft einen Ermessensspielraum zu, von Ermittlungen unter dem VStGB abzusehen, wenn:
- kein Tatverdacht gegen einen Deutschen besteht;
- die Tat nicht gegen einen Deutschen begangen wurde;
- kein Tatverdächtiger sich im Inland aufhält und ein solcher Aufenthalt auch nicht zu erwarten ist und
- die Tat vor einem internationalen Gerichtshof oder durch einen Staat, auf dessen Gebiet die Tat begangen wurde, dessen Angehöriger der Tat verdächtig ist oder dessen Angehöriger durch die Tat verletzt wurde, verfolgt wird.[39]
Institutionen
Schweden
Die schwedische Polizei verfügt über eine Abteilung (Kommission zur Bekämpfung von Kriegsverbrechen), die ausschließlich in schweren Völkerrechtsverbrechen ermittelt. Die Einheit besteht aus 13 Ermittlern und zwei Analytikern. [40] Die Analytiker stellen den Fahndern relevante Kontextinformationen zur Verfügung und beraten sie bei der Zeugenbefragung.[41] Die Abteilung arbeitet eng zusammen mit zwei Beamten der Geheimdienstabteilung der Polizei, die auf schwerste Völkerstraftaten spezialisiert sind.[42]
Auch bei der schwedischen Staatsanwaltschaft gibt es eine Abteilung, die zu Kriegsverbrechen arbeitet („Staatsanwaltschaftliches Team zur Bekämpfung von Kriegsverbrechen“). In ihr sind acht Staatsanwälte beschäftigt, von denen sich vier in Vollzeit auf Völkerstraftaten konzentrieren. Die anderen arbeiten auch an regulären Strafsachen.[43] Die Staatsanwälte dieser Abteilung leiten die Ermittlungen in schwersten Völkerrechtsverbrechen und arbeiten eng mit der polizeilichen Kommission zur Bekämpfung von Kriegsverbrechen zusammen.[44] Anders als in manchen anderen Ländern benötigen sie keine richterliche Genehmigung, um Verfahren einzuleiten, was diese beschleunigt.[45]
Die Kommission und die staatsanwaltlich Abteilung zur Bekämpfung von Kriegsverbrechen arbeiten eng mit ihren Kollegen aus der Terrorismusbekämpfung zusammen und tauschen systematisch und regelmäßig Informationen mit ihnen aus.[46]
In Schweden bearbeitet die Einwanderungsbehörde Asylanträge. In der Behörde sind mehr als 8.000 Personen angestellt. Sie besteht aus 50 Abteilungen, die über das ganze Land verteilt sind und je 30 Mitarbeiter haben.[47] Ihre Arbeit ist anhand von sechs geographischen Regionen strukturiert.[48] In jeder Region gibt es speziell ausgebildete Spezialisten, die die Angestellten bei Fällen unterstützen, die Artikel 1F berühren, den Ausschlussartikel des UN-Abkommens über die Rechtsstellung von Flüchtlingen („Flüchtlingskonvention“) aus dem Jahr 1951. Unter diesem Artikel kann einer Person der Flüchtlingsstatus verweigert werden, etwa weil der dringende Verdacht besteht, dass sie ein schweres Verbrechen begangen hat.[49] Bei solchen Fällen beraten die Spezialisten die Sachbearbeiter während des gesamten Verfahrens zur Feststellung des Schutzanspruchs.[50] Weil in den Jahren von 2014 bis 2016 sehr viele Asylanträge von Syrern eingingen, hat die Einwanderungsbehörde die Zahl der Spezialisten von 20 auf 35 erhöht.[51]
Darüber hinaus stellt eine Abteilung Kontextinformationen über spezifische Länder zur Verfügung und befasst sich mit länderspezifischen Fragen, die in Einzelfällen aufkommen.[52]
Unter schwedischem Recht muss die Behörde Informationen über mutmaßliche, schwere Völkerrechtsverstöße an die Kommission zur Bekämpfung von Kriegsverbrechen weitergeben.[53] Human Rights Watch kann bestätigen, dass die Behörde regelmäßig Informationen über einzelne Tatverdächtige mit der Kommission austauscht. Allerdings tut sie das bislang nicht mit Informationen über mutmaßliche Opfer oder Zeugen von Menschenrechtsverletzungen.[54] Sobald ein 1F-Verfahren abgeschlossen ist, prüft die Abteilung für Rechtsangelegenheiten, welche Informationen die zuständige Regionalstelle an die Kommission zur Bekämpfung von Kriegsverbrechen weitergeben kann.[55]
Im Januar 2016 vereinbarten die schwedischen Strafverfolgungsbehörden, die Staatsanwaltschaft und die Einwanderungsbehörde, ihre Zusammenarbeit zu intensivieren. Vertreter dieser drei Behörden treffen sich nun regelmäßig und diskutieren, wie sie ihre Arbeitsmethoden und den Informationsaustausch verbessern können, auch bei Fällen im Zusammenhang mit Kriegsverbrechen.[56]
Deutschland
Das Bundeskriminalamt verfügt über eine Abteilung zu Kriegsverbrechen, die „Zentralstelle für die Bekämpfung von Kriegsverbrechen und weiteren Straftaten nach dem Völkerstrafgesetzbuch“ (ZBKV).[57]
In der ZBKV sind 13 Polizisten beschäftigt. Sie verfügt zwar nicht über Analytiker, aber die Ermittler übernehmen zunehmend Aufgaben, die normalerweise in den Arbeitsbereich von Polizeianalytikern fallen. Die ZBKV arbeitet regelmäßig mit Übersetzern, Experten und dem Technik-Support des Bundeskriminalamts zusammen, sowie mit externen Beratern. Darüber hinaus hat die ZBKV Kontaktstellen bei den Landeskriminalämtern aller 16 Bundesländer.[58]
Auch beim Generalbundesanwalt gibt es eine spezielle Abteilung zu Kriegsverbrechen, das Referat für Völkerstrafrecht, das VStGB-relevante Völkerstraftaten untersucht. Im Referat sind sieben Staatsanwälte in Vollzeit beschäftigt, darunter vier Frauen. Das Referat stellte vor kurzem mehr Frauen ein und reagierte damit darauf, dass es zunehmend mit weiblichen Überlebenden sexualisierter Gewalt arbeitet.[59]
Ähnlich wie in Schweden haben die polizeilichen und staatsanwaltlichen Abteilungen, die zu Kriegsverbrechen arbeiten, Pendants in der Terrorismusbekämpfung, mit denen sie häufig zusammenarbeiten. Sie treffen sich regelmäßig und tauschen systematisch Informationen aus.[60]
Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) bearbeitet Asylanträge in bundesweit 40 Ankunftszentren. Es verfügt über eine eigene Abteilung, Referat 235, die die Zusammenarbeit mit den Sicherheitsbehörden auf Bundes- und Landesebene koordiniert, auch mit der ZBKV und der Abteilung für Terrorismusbekämpfung. Mit diesen Abteilungen tauscht das BAMF unter anderem Informationen über mutmaßliche Völkerrechtsverbrechen aus. Bei Redaktionsschluss waren im Referat 235 29 Personen angestellt. Darüber hinaus hat das BAMF eine Abteilung für Ausschlüsse unter Artikel 1F (Referat 233), die zur Entscheidungsfindung auch auf Informationen von Referat 235 zugreifen kann.[61]
Das BAMF beschäftigt in seinem Hauptsitz in Nürnberg Länderexperten und führt Weiterbildungen zu speziellen Ländersituation für Mitarbeiter der Ausländerbehörden im ganzen Land durch. Auch hat das Amt Analyse-Referate, die allen BAMF-Mitarbeitern Länderberichte zur Verfügung stellen.[62]
Zwischen den Jahren 2014 und 2016 stockte das BAMF sein Personal von 2.000 auf 9.000 Personen auf, um auf die große Zahl nach Deutschland kommender Asylsuchenden zu reagieren. Diese Expansion ging mit einer Restrukturierung der Behörde einher, in deren Zuge auch die Zahl der Ankunftszentren verdoppelt wurde.[63]
Die deutsche Strafprozessordnung und das Asylrecht regeln den Informationsaustausch zwischen dem BAMF und der Polizei.[64] Anders als sein schwedisches Pendant gibt das BAMF Informationen über Tatverdächtige sowie über mutmaßliche Opfer, Zeugen und auch grundsätzliche Hinweise weiter. Wenn ein BAMF-Mitarbeiter bei einer Asylanhörung Informationen enthält, die auf ein VStGB-relevantes Verbrechen hindeuten, leitet er sie an Referat 235 weiter.[65] Das Referat gibt diese Informationen dann an die ZBKV weiter, die sie analysiert und ggf. spezifische Nachfragen stellt, bevor sie die Daten zur weiteren Verwendung an das Referat für Völkerstrafrecht beim Generalbundesanwalt gibt.[66]
III. Verfahren in Schweden und Deutschland
Bei Redaktionsschluss führten die schwedischen Behörden ein Strukturverfahren zu schweren Völkerrechtsverstößen in Syrien durch. Strukturverfahren sind breite Vorermittlungen ohne konkrete Tatverdächtige, die dazu dienen, Beweise für mutmaßliche Verbrechen zu sammeln, die in zukünftigen Strafverfahren in Schweden oder andernorts genutzt werden können.[67] Solche Ermittlungen ermöglichen es den Behörden, Beweise in Echtzeit oder kurz nach den fraglichen Ereignissen zu sichern, statt Jahre später. Sie können die Bemühungen voranbringen, vor nationalen Gerichten Recht über Völkerstraftaten zu sprechen. Darüber hinaus ermitteln die schwedischen Behörden in 13 Fällen gegen Einzelpersonen wegen des Verdachts auf schwere Verbrechen in Syrien.[68]
Die deutschen Behörden waren europaweit die ersten, die ein Strukturverfahren zu Syrien einleiteten, bei Redaktionsschluss liefen zwei solcher Verfahren. Das erste begann im September 2011 und befasst sich mit Verbrechen unterschiedlicher Konfliktparteien in Syrien, konzentriert sich allerdings auf die „Caesar“-Fotos. Das zweite Strukturverfahren läuft seit August 2014 und konzentriert sich auf von ISIS verübte Verbrechen in Syrien und im Irak. Schwerpunkt ist der ISIS-Angriff auf die jesidische Minderheit in Sindschar im Irak im August 2014.[69] Zusätzlich zu den Strukturverfahren laufen in Deutschland 27 Ermittlungsverfahren gegen Einzelpersonen wegen Verdachts auf schwerste Verbrechen in Syrien und im Irak.[70]
Bis dato ist es nur in sieben Fällen im Zusammenhang mit schweren Völkerrechtsverstößen in Syrien zu Gerichtsprozessen gekommen (drei in Schweden und vier in Deutschland). Von diesen beruhten fünf auf dem We"ltr"echtsprinzip und zwei auf dem Täterprinzip.[71]
LAUFENDE UND ABGESCHLOSSENE VERFAHREN WEGEN SCHWERER VERBRECHEN IN SYRIEN[72]
Angeklagter[73] |
Grundlage der gerichtlichen Zuständigkeit |
Tatvorwurf und Anklagepunkte |
Aktueller Stand |
Schweden |
|||
Mouhannad Droubi (Syrische nicht-staatliche, bewaffnete Gruppe mit Verbindungen zur Freien Syrischen Armee) |
We"ltr"echtsprinzip |
Misshandlung eines Mitglied einer anderen, nicht-staatlichen Gruppe mit Verbindungen zur Freien Syrischen Armee – Kriegsverbrechen und schwere Körperverletzung[74] |
Vor Berufungsgericht am 5. August 2016 zu 8 Jahren Haft verurteilt[75] |
Haisam Omar Sakhanh (Syrische nicht-staatliche, bewaffnete Oppositionsgruppe) |
We"ltr"echtsprinzip |
Außergerichtliche Hinrichtung von sieben Soldaten der syrischen Armee – Kriegsverbrechen[76] |
Am 16. Februar 2017 zu lebenslanger Haft verurteilt; Urteil am 31. Mai 2017 von Berufungsgericht bestätigt[77] |
Mohammad Abdullah (Syrische Armee) |
We"ltr"echtsprinzip |
Verletzung der Würde von fünf toten oder verletzten Personen durch Posieren für ein Foto mit dem Fuß auf der Brust einer der Personen – Kriegsverbrechen[78] |
Am 25. September 2017 zu 8 Monaten Haft verurteilt[79] |
Deutschland |
|||
Aria L. (ISIS) |
Täterprinzip – Täter ist deutscher Staatsbürger |
Schändung von zwei Leichen – Kriegsverbrechen[80] |
Am 12. Juli 2016 zu zwei Jahren Haft verurteilt[81] |
Abdelkarim El. B. (ISIS) |
Täterprinzip – Täter ist deutscher Staatsbürger |
Schändung von Leichen – Kriegsverbrechen, Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung und Verstoß gegen das Kriegswaffenkontrollgesetz[82] |
Am 8. November 2016 zu 8,5 Jahren Haft verurteilt[83] |
Suliman A.S. (mutmaßlich Jabhat al-Nusra)[84] |
We"ltr"echtsprinzip |
Entführung eines UN-Beobachters – Beihilfe zu Kriegsverbrechen[85] |
Am 20. September 2017 zu 3,5 Jahren Haft verurteilt[86] |
Ibrahim Al F. (Freie Syrische Armee) |
We"ltr"echtsprinzip |
Verdacht auf Beaufsichtigung von Folter, Entführungen, eigenhändiges Foltern von mehreren Personen, die sich der Plünderung ihres Besitzes widersetzten – Kriegsverbrechen[87] |
Prozess begann am 22. Mai 2017[88] |
Die Fälle, die bislang vor Gericht gebracht wurden, sind nicht repräsentativ für die Verbrechen in Syrien. Die Prozesse wegen Kriegsverbrechen richteten sich fast alle gegen Mitglieder der Freien Syrischen Armee und anderer nicht-staatliche Oppositionsgruppen sowie gegen Angehörige von ISIS und Jabhat al-Nusra. Bislang wurde nur ein rangniederer Angehöriger der syrischen Armee angeklagt. Außerdem bezogen sich die meisten Prozesse in Deutschland auf Verstöße gegen Anti-Terror-Gesetze statt auf Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit.
Problematische Fallauswahl
Wie oben ausgeführt untersuchen die schwedischen und deutschen Behörden Verbrechen unterschiedlicher Konfliktparteien, auch der syrischen Regierung.[89] Allerdings richteten sich Prozesse wegen schwerster Völkerrechtsverstöße bis Redaktionsschluss fast ausschließlich gegen rangniedere Angehörige von ISIS, Jabhat al-Nusra, der Freien Syrischen Armee und anderen nicht-staatlichen Oppositionsgruppen, während nur ein rangniederes Mitglied der syrischen Armee vor Gericht stand. Diese Fallauswahl spiegelt womöglich auch die sicherheitspolitischen Prioritäten Deutschlands und Schwedens wider, die beide den Einfluss von ISIS eindämmen und ihre eigenen Staatsbürger davon abschrecken wollen, sich dieser Gruppierung anzuschließen.
Syrer äußerten sich frustriert darüber, dass zum Zeitpunkt ihrer Befragung noch kein einziger Prozessen gegen Personen mit Verbindungen zur syrischen Regierung stattgefunden hatte. „Europa konzentriert sich auf ISIS und vergisst dabei Assad; ISIS ist ein Tropfen im Meer von Assads Verbrechen“, so ein Syrer in Deutschland.[90]
Einige geflüchtete Syrer trifft der Frust, weil sie persönlich betroffen sind: 22 der in Schweden und Deutschland befragten Personen sagten, dass sie selbst Opfer von Verbrechen der syrischen Regierung seien. Einige glaubten, dass manche Täter in Schweden oder Deutschland leben.[91] Abdou, ein Opfer der Regierung, erklärte:
Die Deutschen behandeln die Syrer falsch. Sie sehen uns als unterschiedslose Masse, sie achten nicht darauf, was die [Streitkräfte der syrischen Regierung] getan haben. Die Deutschen sollten verstehen, wer wer ist.[92]
Zwar untersuchen die schwedischen und deutschen Behörden Verbrechen, die Regierungskräfte verübt haben, aber es sind nur wenige Informationen über diese Ermittlungen öffentlich verfügbar, die nicht unbedingt ihren vollen Umfang widerspiegeln.
Praktikern und Wissenschaftlern zufolge sind Verfahren gegen mittel- und hochrangige Regierungsbeamte und Militärkommandanten für die Beweisführung schwieriger aufzubauen als diejenigen, die bereits vor Gericht verhandelt wurden. Um diese Personen strafrechtlich zu verfolgen, bedarf es stichhaltiger Beweise, die sie mit den fraglichen Verbrechen in Verbindung bringen, und Beweise, die sie in der Befehlskette verorten.[93]
Die Tatverdächtigen der vor Gericht verhandelten Fälle wurden in Schweden und Deutschland verhaftet. Hochrangige Beamte oder führende Militärkommandanten der syrischen Regierung sind jedoch bislang nicht in diese Länder gereist und es ist unwahrscheinlich, dass sie in näherer Zukunft nach Europa kommen werden. Außerdem sind einige Verdächtige auf Grund ihrer Dienststellung zeitweise vor einer Strafverfolgung geschützt.[94]
Dass die bereits aufgegriffenen Fälle das breite Spektrum der in Syrien verübten Gräueltaten nicht angemessen repräsentieren, droht sich negativ darauf auszuwirken, wie syrische Geflüchtete die Verfahren wahrnehmen. Es könnte ihnen die Zuversicht nehmen, dass nationale Gerichte irgendeine Form von Gerechtigkeit herstellen können.
Rückgriff auf Anklagen wegen Terrorismus
Auf welchen Anklagepunkten Prozesse aufbauen, beeinflusst, wie repräsentativ sie insgesamt sind. Während dies bislang in Schweden offensichtlich noch kein Problem ist,[95] häufen sich in Deutschland die Fälle, in denen nur Tatbestände vor Gericht gebracht wurden, die unter Anti-Terror-Gesetzen relevant sind, selbst dann, wenn es wahrscheinlich ist, dass der Verdächtige ein Kriegsverbrechen oder ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen hat.[96]
Deutschland verfügt über einen breiten Rechtsrahmen für Anklagen wegen Terrorismus. Das Strafgesetzbuch kriminalisiert die Mitgliedschaft in, die Unterstützung von und die Rekrutierung für eine terroristische Vereinigung. Im Einzelfall entscheiden die Richter, ob eine Vereinigung als terroristisch einzustufen ist.[97] Seit kurzen sind außerdem die Finanzierung terroristischer Vereinigungen und Auslandsreisen mit der Absicht, sich terroristisch ausbilden zu lassen, strafbar.[98]
In Deutschland befragten Praktikern zufolge ist es oft einfacher, Beweise dafür zu finden, dass eine Person Mitglied einer terroristischen Vereinigung ist, als dieselbe Person mit schweren Menschenrechtsverbrechen in Verbindung zu bringen.[99]
Wenn es möglich ist, eine Person sowohl wegen schwerer Völkerrechtsverstöße als auch wegen Terrorismus vor Gericht zu bringen, die Beweise für eine Verurteilung wegen Völkerstraftaten aber nicht ausreichen, klagen die Behörden den Tatverdächtigen eher wegen terroristischer Straftaten an, als ihn aus der Untersuchungshaft zu entlassen.[100]
Allerdings hat es Folgen, Personen nur terroristischer Vergehen schuldig zu sprechen, wenn sie auch Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit verdächtig sind. In Deutschland werden schwerste Völkerstraftaten mit längeren Haftstrafen geahndet als terroristische Straftaten.[101] Außerdem reflektieren Anklagen wegen Terrorismus oft nicht das Ausmaß und die Art der verübten Menschenrechtsverletzungen. Sie drohen die Bemühungen zu untergraben, die Einhaltung des humanitären Völkerrechts zu fördern. Werden Terrorismus-Anklagen genutzt, um Personen vor Gericht zu bringen, von denen anzunehmen ist, dass sie für Kriegsverbrechen verantwortlich sind, könnte das zudem als Zeichen dafür verstanden werden, dass das rechtmäßige Interesse der Behörden, nationale Bedrohungen zu bekämpfen, ihr Interesse daran überwiegt, die Verdächtigen für andere schwere Völkerrechtsverbrechen zu bestrafen. Terrorismus-Anklagen drohen auch, die polizeilichen und staatsanwaltlichen Ressourcen, die eigentlich für Verstöße gegen das Völkerstrafrecht vorgesehen sind, in den Dienst der ohnehin gut ausgestatteten nationalen Sicherheitspolitik zu stellen.
Der deutsche Generalbundesanwalt sagte, dass Situationen wie in Syrien und im Irak zeigen, dass Terrorismus und andere schwere Völkerrechtsverbrechen zunehmend miteinander verflochten sind, weil terroristische Vereinigungen als neue Akteure in diesen Konflikten agieren. Er erklärte, dass das Völkerstrafrecht herangezogen werden müsse, um die Rechtswidrigkeit ihrer Verbrechen voll abzubilden und angemessen zu ahnden.[102] Mit Blick auf Syrien bemerkte er, dass die Natur der am Konflikt beteiligten, terroristischen Vereinigungen und ihrer Taten nur dann voll erfasst werden könne, wenn sie nicht nur durch die Linse der Terrorismusbekämpfung, sondern auch im Lichte des Völkerstrafrechts betrachtet würden.[103]
IV. Herausforderungen
Die schwedischen und deutschen Behörden sind bei der Untersuchung und Strafverfolgung schwerer, in Syrien verübter Menschenrechtsverletzungen mit unterschiedlichen Herausforderungen konfrontiert. Aus ihren Erfahrungen lassen sich wichtige Lehren für ihre eigenen Länder ziehen, und für andere Staaten in Europa und weltweit, die Verfahren wegen Völkerrechtsverstößen in Syrien aufnehmen wollen.
Einige Herausforderungen sind typisch für nationale Völkerstrafverfahren. Andere sind Syrien-spezifisch und hängen zusammen mit dem Sammeln von Informationen innerhalb und außerhalb von Schweden und Deutschland. Während manche Hürden nur schwer zu überwinden sind, haben die Behörden bereits Maßnahmen ergriffen, um andere abzubauen.
Die Kombination inhärenter und situationsspezifischer Herausforderungen hat mit hoher Wahrscheinlichkeit beeinflusst, wie viele und welche Fälle in beiden Ländern bislang vor Gericht gebracht wurden. Auch wirkt sich dies darauf aus, wie syrische Flüchtlinge die Versuche, Gerechtigkeit herzustellen, wahrnehmen und sich an ihnen beteiligen.
Typische Herausforderungen
Wenn Fälle nach dem We"ltr"echtsprinzip aufgegriffen werden, so geht dies mit einigen Herausforderungen einher. Manche der Probleme können nationale Behörden nicht lösen.
Die nationale Strafverfolgung schwerster Völkerrechtsverbrechen ist auch ein opportunistisches Unterfangen, denn sie richtet sich in der Regel gegen Personen, die sich im Hoheitsgebiet des Gerichtslandes aufhalten – so auch der Fall bei den bislang in Deutschland und Schweden eingeleiteten Prozessen.
Fallprofil: Haisam Omar Sakhanh
Im September 2013 veröffentlichte die New York Times ein Video, das zeigt, wie Angehörige einer nichtstaatlichen, bewaffneten Oppositionsgruppe sieben gefangene Soldaten der syrischen Regierung am 6. Mai 2012 im Gouvernement Idlib außergerichtlich hinrichteten. Ein ehemaliger Kämpfer hatte das Video wenige Tage zuvor aus Syrien herausgeschmuggelt und an die New York Times geschickt. Einer der Kämpfer in dem Video ist Haisam Omar Sakhanh.
Im Februar 2012 wurde Sakhanh bei einer Demonstration vor der syrischen Botschaft in Rom in Italien verhaftet, wo er seit dem Jahr 1999 einen Aufenthaltstitel inne hatte. Nach seiner Entlassung entschied er sich, nach Syrien zurückzukehren.
Im Jahr 2013 reiste Sakhanh nach Schweden und stellte einen Asylantrag. Bei seiner Anhörung informierte er die Behörden nicht über seine Verhaftung in Italien. Dies führte zu Ermittlungen, die ihn schließlich mit dem New York Times-Video in Verbindung brachten.
Sakhanh wurde im Jahr 2016 in Schweden verhaftet und wegen seiner Beteiligung an der Ermordung der sieben Regierungssoldaten eines „Verbrechens gegen das Völkerrecht“ angeklagt.
Sein Prozess fand zwischen dem 11. und dem 23. Januar 2017 vor dem Stockholmer Bezirksgericht statt. Zwar gab Sakhanh zu, Schüsse abgefeuert zu haben, sagte jedoch, er habe lediglich das Urteil eines Oppositionsgerichts vollstreckt, das die Hinrichtung der Soldaten angeordnet habe. Er konnte diese Behauptung nicht belegen.
Am 16. Februar 2017 verurteilte das Bezirksgericht Sakhanh zu lebenslanger Haft. Zwar erkannten die schwedischen Richter an, dass nichtstaatliche Akteure Gerichte etablieren können, aber in diesem Fall kamen sie zu dem Schluss, dass ein solches Gericht weder unabhängig noch unparteiisch gewesen sei und keinerlei Garantien für ein faires Verfahren bereitgehalten habe. Das Urteil und das Strafmaß wurden am 31. Mai 2017 vom Svea hovrätt, dem obersten Berufungsgericht Schwedens, bestätigt.
Die strafrechtliche Immunität amtierender Regierungsbeamter kann es ebenfalls erschweren, gegen bestimmte Personen zu ermitteln, die mit schweren Völkerrechtsverbrechen in Verbindung stehen. Dieses Prinzip sieht vor, dass bestimmte Regierungsvertreter, etwa akkreditierte Diplomaten, Staats- und Regierungschefs und Außenminister, während ihrer Amtszeit vor der Verfolgung durch fremde Staaten geschützt sind, sogar vor Ermittlungen wegen schwerster Völkerrechtsverstöße. Die Immunität erlischt, sobald die betreffende Person ihr Amt nicht mehr ausübt, und soll einer späteren Verfolgung nicht im Wege stehen.[104] Sowohl Schweden als auch Deutschland erkennen diesen Grundsatz an und haben ihn in ihr nationales Recht übernommen.[105]
Andere typische Herausforderungen können die nationalen Behörden überwinden, insbesondere dann, wenn sie mit den notwendigen Ressourcen ausgestattet sind.
Beispielsweise sind Völkerstrafverfahren komplex und erfordern mehr Zeit und Ressourcen als reguläre Strafverfahren. Sie stellen besondere Anforderungen an und bedürfen spezifischer Expertise auf Seiten von Polizisten, Staatsanwälten, Gerichten, den Anwälten der Opfer und denen der Täter. Um – meistens von den Opfern und Zeugen – Beweise zu sammeln, müssen die Ermittler in der Regel in das Land reisen, in dem das Verbrechen verübt wurde. Daraus ergeben sich zahlreiche Herausforderungen, darunter sprachliche und kulturelle Hürden und unter Umständen Widerstände der nationalen Behörden. Auch berühren die Verfahren meist Tatbestände und Arten der Verantwortlichkeit, mit denen nationale Ermittler und Staatsanwälte nicht vertraut sind.
Die Erfahrungen einer Reihe europäischer Länder deuten darauf hin, dass Sonderabteilungen zu Kriegsverbrechen, Weiterbildungsangebote für Praktiker, die mit dieser Art von Fällen befasst sind, und angemessene Ressourcen für die Ermittlung und Strafverfolgung wirksame Maßnahmen sind, um diese Hürden zu überwinden.[106]
Syrien-spezifische Herausforderungen
Zusätzlich zu den typischen Herausforderungen ist die übergeordnete Schwierigkeit für Behörden bei Fällen mit Syrien-Bezug, inmitten eines laufenden Konflikts zu ermitteln und keinen Zugang zu den Tatorten zu haben. Daher müssen die Behörden von anderen Quellen Informationen einholen, auf denen sie Verfahren aufbauen können.
Neben öffentlich zugänglichen Plattformen wie sozialen Netzwerken gibt es drei Hauptquellen für solche Informationen: syrische Flüchtlinge und Asylsuchende, die sich im ermittelnden Land aufhalten; andere Regierungen und Regierungsorganisationen; und zahlreiche nichtstaatliche Dokumentationsgruppen, die grenzüberschreitend arbeiten.
Informationssammlung im Inland
Schweden und Deutschland befinden sich in unterschiedlichen Phasen der Informationsgewinnung im Inland. Während die schwedischen Ermittler Schwierigkeiten dabei haben, Informationen von syrischen Flüchtlingen und Asylsuchenden zu erhalten, sind ihre deutschen Kollegen mit einer großen Menge an Informationen aus unterschiedlichen Quellen konfrontiert, die sie ordnen und filtern müssen.
Die ersten drei in Schweden abgeschlossenen Prozesse wegen schwerster Völkerrechtsverbrechen in Syrien waren kein Teil strategischer Ermittlungen, sondern basierten auf belastenden Fotos und Videos, auf denen das staatsanwaltliche Team zur Bekämpfung von Kriegsverbrechen die Fälle aufbaute.[107] Zusätzlich zu Foto- und Videomaterial zog die schwedische Staatsanwaltschaft vor allem Experten heran, um kontroverse rechtliche Probleme zu klären oder um Kontextinformationen über die Situation in Syrien zum Zeitpunkt der Verbrechen einzubeziehen.[108]
Die schwedischen Behörden versuchen derzeit, eine klarere Strategie der Strafverfolgung zu entwickeln, die auf den Informationen aufbaut, die sie durch das Strukturverfahren generiert haben. In diesem Zusammenhang haben Ermittler begonnen, Kontakt zu syrischen Flüchtlingen in Schweden herzustellen. Allerdings ist es schwierig, Personen zu finden, die bereit sind, vor Gericht auszusagen.[109]
Ein Praktiker erläuterte, dass die schwedischen Ermittler und Staatsanwälte, wenn sie strategischer vorgehen sollen, „mehr harte Fakten und Personen brauchen, die aussagen wollen“, um Völkerstrafverfahren mit Syrien-Bezug aufzubauen.[110] Zwei anderen Praktikern zufolge sind Hinweise für die Ermittlungen bedeutsam. Sie betonten aber, dass die Ermittler in jedem Fall Augenzeugen benötigen, unabhängig davon, welche anderen Informationen sie bereits erhalten haben.[111]
Die deutschen Behörden sind derzeit mit einer anderen Herausforderung konfrontiert, nämlich mit großen Mengen allgemeiner, ungefilterter und häufig unaufgefordert eingebrachter Informationen aus unterschiedlichen Quellen. Das bedeutet, dass die Ermittler diese Informationen zunächst filtern müssen, bevor sie sich gezielter der Kontaktaufnahme mit Syrern widmen können.
Mit Stand von Juni 2017 hatte die ZBKV 4.100 Hinweise (davon 2.760 mit Syrien-Bezug) erhalten, von denen einige schließlich in 27 gezielten Ermittlungen gegen Einzelpersonen mündeten, die in Syrien und im Irak verübter Verbrechen verdächtig sind.[112] Gesprächspartner schilderten, dass die ZBKV buchstäblich mit Informationen aus verschiedenen Quellen überflutet werde, darunter das BAMF und die allgemeine Öffentlichkeit. Letztere macht die Ermittler meist auf mögliche Hinweise in den sozialen Medien aufmerksam.[113] All diese Informationen müssen überprüft werden, und die große Zahl der Tipps erschwert es, den jeweiligen Wahrheitsgehalt zu erkennen. Insbesondere erfordert es viel Zeit und Ressourcen, die Informationen nach Fragestellungen durchzusehen, die für laufende Ermittlungen relevant sind, und um Zeugen zu identifizieren, die aus erster Hand von einem Verbrechen wissen.[114] Ein Praktiker sagte, dieses Vorgehen entspräche einer kleinen vorläufigen Ermittlung.[115]
Vor diesem Hintergrund können syrische Flüchtlinge in Schweden und Deutschland eine wichtige Rolle dabei spielen, die Behörden in ihren Bemühungen zu unterstützen. Allerdings haben Ermittler und Staatsanwälte in beiden Ländern Schwierigkeiten im Umgang mit Geflüchteten, hauptsächlich, weil viele Asylsuchende und Flüchtlinge den Behörden misstrauen, Ängste haben und insgesamt wenig über die Ermittlungen wissen.
Misstrauen
Syrische Flüchtlinge misstrauen häufig der Polizei und anderen Beamten, weil sie in ihrer Heimat negative Erfahrungen mit den Behörden gemacht haben.[116] Ahmad, der in Schweden lebt, sagte:
Wir sind es gewöhnt, die Polizei oder die Regierung als Bedrohung zu betrachten. Wenn du eines deiner Rechte in Syrien in Anspruch nehmen möchtest, entscheidest du dich dagegen, weil die Polizei versuchen wird, dir Geld abzunehmen. Kein Vertrauen. Auch, wenn ich in Schweden einen Polizisten sehe, fühle ich mich nicht normal. Für uns sind die Polizei und die Regierung keine Instanzen, denen wir vertrauen können.[117]
Dieses Misstrauen rührt auch daher, dass einige Flüchtlinge denken, die schwedische und deutsche Regierung unterstützten die syrische, während sie dem Leid der syrischen Bevölkerung gleichgültig gegenüber stünden – und das, obwohl in beiden Ländern deutlich mehr syrische Flüchtlinge leben als in den meisten anderen EU-Staaten.[118] Ibrahim, der in Deutschland lebt, sagte:
Die allgemeine Atmosphäre hier ist gegen uns. Man fühlt sich nicht, als würde sich irgendjemand wirklich für einen interessieren.[119]
Einige Gesprächspartner betonten, dass die Behörden beider Länder besonders sensibel mit Flüchtlinge umgehen sollten, auf Grund von deren Erfahrungen, auch mit Verbrechen, deren Opfer oder Zeugen einige von ihnen sind. Dahingegen schilderten Flüchtlinge das Asylverfahren als unpersönlich und berichteten von negativen Erfahrungen vor allem mit Mitarbeitern der Einwanderungsbehörden. Ein Flüchtling sagte:
Wenn man wie eine Nummer behandelt wird und einem niemand zuhört, fühlt man sich nicht wohl damit, sensible, persönliche Informationen preiszugeben […] Ich bin nicht nur ein Opfer oder ein Flüchtling […] Man fühlt sich hier von der ersten Sekunde an angegriffen und verletzt.[120]
Angst vor Vergeltung
Viele der in Schweden und Deutschland befragten Flüchtlinge haben noch Familie und Freunde in Syrien. Das erschwert es den Behörden, Personen zu finden, die bereit sind, öffentlich über Verbrechen auszusagen, deren Opfer oder Zeugen sie sind.
Einige in Schweden befragte Flüchtlinge erklärten sich grundsätzlich bereit, mit den Behörden zusammenzuarbeiten, zögerten aber, offen vor Gericht aufzutreten oder Namen zu nennen, weil sie um die Sicherheit ihrer Angehörigen in Syrien fürchten.[121] Ein Flüchtling erklärte, er wolle nicht öffentlich aussagen, weil er vermute, dass ISIS und die syrische Regierung in Schweden aktiv sind.[122] Unter schwedischem Recht können Zeugen in Strafprozessen nicht anonym bleiben, wobei begrenzte Zeugenschutzmaßnahmen möglich sind.[123]
In Deutschland befragte Syrer äußerten ähnliche Bedenken. Zusätzlich zur Sorge um die Sicherheit ihrer Familien in Syrien sagten einige Flüchtlinge, sie hätten Angst um ihr eigenes Leben, da sie davon ausgingen, dass Syrer, die auf der Seite der Regierung stehen und nun in Europa leben, ihnen Schaden zufügen können.[124] Unter deutschen Recht ist es unter bestimmten Umständen möglich, die Identität eines Zeugen geheim zu halten (zum Beispiel bei Opfern sexualisierter Gewalt).[125] Allerdings wird davon selten Gebrauch gemacht, weil anonyme Aussagen vor Gericht weniger Gewicht haben und Staatsanwälte sie daher als letztes Mittel betrachten.[126]
Fehlendes Wissen
Die Untersuchungen zeigen, dass syrische Flüchtlinge insgesamt wenig über Verfahren nach dem We"ltr"echtsprinzip wissen. Das betrifft vor allem drei Bereiche:
- Fehlendes Wissen über das Rechtssystem und die Möglichkeiten syrischer Flüchtlinge, zur Strafverfolgung beizutragen;
- Fehlendes Wissen über das Recht von Opfern, an Strafverfahren teilzunehmen; und
- Fehlendes Wissen über die laufenden Verfahren.
Rechtssystem
Die Bereitschaft (und die Befähigung) syrischer Flüchtlinge, Informationen an die Behörden weiter zu geben, ist beeinträchtigt, wenn sie nicht genug über die Mandate und Arbeitsweisen der Einwanderungsbehörden, Strafverfolgungsbehörden und der Staatsanwaltschaft wissen, sowie über die Zusammenarbeit dieser Instanzen.
Das trifft insbesondere mit Blick auf ihren unsicheren Aufenthaltsstatus zu. Wenn die Einwanderungsbehörden Asylsuchenden nicht verdeutlichen, was ihre Aufgaben sind und wie sich das Asylverfahren von strafrechtlichen Ermittlungen unterscheidet, dann schrecken syrische Asylsuchende womöglich davor zurück, Informationen weiter zu geben, weil sie fürchten, dies könnte ihren Schutzanspruch gefährden.
Mehreren syrischen Flüchtlingen in beiden Ländern zufolge leugnen Asylsuchende bei ihrer Anhörung häufig, Zeugen oder Opfer von Verbrechen zu sein, weil sie glauben, es könne die Entscheidung über ihren Status negativ beeinflussen, wenn sie dies offen legen.[127] Raslan sagte, er habe davor zurückgeschreckt, bei seiner Asylanhörung Informationen weiter zu geben:
Ich habe nicht besonders viel gefragt oder gesagt. Ich hatte Angst um meine Papiere, um mich selbst und um meine Familie in Syrien. […] Ich habe nicht gesagt, dass ich in Syrien etwas gesehen haben, ganz gleich ob ich das nun habe oder nicht.[128]
Zudem denken viele Asylsuchende in Schweden offensichtlich, dass es klüger sei, ihre Flucht aus Syrien bei ihrer Anhörung auf ISIS zurückzuführen, selbst wenn sie tatsächlich vor Regierungskräften oder anderen bewaffneten Gruppen geflohen sind. Scheinbar gehen sie davon aus, dass ein Verweis auf ISIS ihr Asylverfahren positiv beeinflussen würde, weil diese Gruppe weltweit eine schlechte Reputation hat.[129]
Auch in Deutschland sind ähnliche Geschichten unter Asylsuchenden verbreitet. Einige befragte Personen wurden von anderen Syrern davor gewarnt, zu erwähnen, dass sie Opfer von Verbrechen der Regierung sind, weil das ihr Asylverfahren „verkomplizieren“ würde.[130]
Keiner der befragten syrischen Flüchtlinge in Schweden und Deutschland hat erfahren, dass er ein Recht darauf hat, die Polizei zu informieren, wenn er gegenüber der Einwanderungsbehörde Informationen über Verbrechen offenlegt, deren Opfer oder Zeuge er war. 15 befragte Syrer, die bei ihrer Anhörung über solche Erfahrungen gesprochen haben, sagten, sie wussten nicht, dass und wie sie diese Informationen auch an die Polizei geben können.[131]
Ibrahim beklagte, dass er wenig darüber wisse, wie er die zuständigen Behörden kontaktieren könne: „Warum sagen sie uns das nicht? Ich weiß nicht, wohin ich gehen soll, wenn ich etwas aussagen will.“[132]
Das Recht der Opfer, an Strafverfahren teilzunehmen
Im schwedischen Rechtssystem haben Opfer das Recht, Strafverfahren zu initiieren oder als Zivilparteien an einem Prozess teilzunehmen, den die Staatsanwaltschaft angestrengt hat. Ihnen steht ein kostenfreier Rechtsbeistand zu.[133] Unter deutschem Recht können die Opfer bestimmter Verbrechen als Nebenkläger am Prozess teilnehmen und haben das Recht auf einen kostenfreien Rechtsbeistand, der ihnen automatisch zugewiesen wird.[134]
Keiner der befragten Flüchtlinge wurde während oder nach seinem Asylverfahren über sein Recht informiert, an Strafverfahren teilzunehmen.[135] Ayman stellte als Teil einer Gruppe von Opfern in Deutschland Strafanzeige gegen hochrangige syrische Beamte.[136] Er erfuhr erst, dass er dies tun kann, als er mit einem befreundeten syrischen Anwalt sprach.[137]
Laufende Verfahren
In Schweden und Deutschland befragte syrische Flüchtlinge wussten mehrheitlich nichts über die Strafverfahren, die in ihren Aufnahmeländern laufen, oder hatten über diese nur wenige (und oft falsche) Informationen.[138] Die meisten, die zumindest ein paar korrekte Informationen hatten, fanden diese auf den Facebook-Seiten syrischer Aktivisten.[139]
Einige wünschten sich mehr Informationen über die laufenden und zukünftige Verfahren aus offiziellen Quellen, idealerweise auf Arabisch.[140] Sie bezeichneten soziale Netzwerke, insbesondere Facebook, als geeignete Plattformen, um Neuigkeiten über die Verfahren zu veröffentlichen.
Die Syrien-Krise unterscheidet sich vor allem deshalb von anderen Situationen, zu denen die deutschen und schwedischen Ermittler und Staatsanwaltschaften in der Vergangenheit gearbeitet haben, weil sich in ihren Hoheitsgebieten sehr viele syrische Flüchtlinge und Asylsuchende aufhalten, die eine wichtige Rolle bei den Verfahren spielen können. Daher ist es wichtig, dass die Behörden erfolgreich mit ihnen interagieren.
In Schweden und Deutschland werden Prozesse nicht gefilmt oder im Fernsehen ausgestrahlt, aber sie sind in der Regel offen für die breite Öffentlichkeit und für Medienvertreter.[141] Gerichtsverfahren werden grundsätzlich auf Schwedisch beziehungsweise Deutsch geführt. In den Prozessen mit Syrien-Bezug, die bisher verhandelt wurden, erhielten die Angeklagten Übersetzungen ins Arabische. Informationen über die Verfahren (normalerweise im Zusammenhang mit einer Verhaftung, dem Beginn eines Prozesses oder einem Urteilsspruch) werden manchmal auf den Websites der Staatsanwaltschaft und der Polizei veröffentlicht, aber nur auf Schwedisch beziehungsweise Deutsch.[142] Die Urteile und andere wichtige Gerichtsdokumente sind ebenfalls nur auf Schwedisch beziehungsweise Deutsch verfügbar. Die deutsche Staatsanwaltschaft bemüht sich allerdings darum, Zwischenentscheidungen, also vorläufige Urteile, sowie die endgültigen Urteile in die für den Fall relevanten Sprachen zu übersetzen.[143]
Im Februar 2017 richtete die schwedische Staatsanwaltschaft eine Pressekonferenz über zwei neue Urteile (eins mit Syrien-Bezug) aus und erläuterte die Arbeit des staatsanwaltlichen Teams zur Bekämpfung von Kriegsverbrechen.[144] In Deutschland halten Staatsanwälte in der Regel zum Abschluss eines Prozesses eine Pressekonferenz ab, sowie einmal jährlich, um über ihre Arbeit insgesamt zu sprechen.[145] Diese Initiativen sind wertvoll und zeigen, dass die Behörden grundsätzlich offen sind. Allerdings finden die Veranstaltungen ausschließlich auf Schwedisch beziehungsweise Deutsch statt und beziehen die betroffenen Gemeinschaften nicht aktiv mit ein.
Zudem berichten die schwedischen und deutschen Medien nicht systematisch über die jüngsten Verfahren mit Syrien-Bezug.[146] Praktiker in Schweden merkten an, dass Journalisten bei einem neuen Fall oft auf Ermittler und Staatsanwälte zukommen, aber das kein Interesse daran bestehe, über den weiteren Verlauf der Verhandlungen zu berichten.[147] Wenn berichtet wird, dann nur auf Schwedisch beziehungsweise Deutsch. Syrische Flüchtlinge in Schweden sagten, dass es keinen arabischen Medienkanal gäbe, dem sie zutrauten, diese Informationen zu vermitteln.[148]
Gesprächspartner in beiden Ländern hatten den Eindruck, dass die Medien kein Interesse an den Verfahren haben. Manche führten das darauf zurück, dass die Öffentlichkeit der Nachrichten über Syrien müde sei, sich mehr für Fragen der nationalen Sicherheit und ISIS interessiere und wenig von Rechtsbegriffen wie Kriegsverbrechen verstehe.[149]
Auswirkungen des begrenzten Einbezugs auf syrische Flüchtlinge
Der mangelhafte Einbezug der betroffenen Gemeinschaften in Deutschland und Schweden kann unmittelbar den Erfolg von Bemühungen beeinträchtigen, syrische Völkerrechtsverbrecher zur Rechenschaft zu ziehen. Wenn Syrer in Schweden und Deutschland Angst haben und den Behörden misstrauen, sind sie weniger bereit, möglicherweise beweiskräftige Informationen weiterzugeben. Diese negative Einstellung wird dadurch verstärkt, dass Flüchtlinge und Asylsuchende zu wenig über die Verfahren und die existierenden Systeme wissen. Ohne ausreichendes Wissen können Syrer die Bemühungen ihrer Aufnahmeländer um Gerechtigkeit nicht vollständig verstehen und entsprechend auch nicht zu ihnen beitragen.
Abdou, der eigenen Angaben zufolge ein Opfer von Verbrechen der syrischen Regierung ist und inzwischen in Deutschland lebt, sagte, dass „die Deutschen dieser Gemeinschaft grundsätzlich nicht ermöglichen, sich an den Verfahren zu beteiligen“[150].
Auf der anderen Seite kann es Syrern in Schweden und Deutschland ein Gefühl von Gerechtigkeit vermitteln, wenn sie sich selbst als Anspruchsberechtigte in den Verfahren sehen können. Auch kann es ihre Integration fördern, wenn sie über die Prozesse und darüber Bescheid wissen, wie sie zu ihnen beitragen können. Samira, die in Schweden lebt, hat Informationen über Verbrechen in Syrien, die sie weitergeben möchte, wusste aber nicht, dass das möglich ist:
Niemand hört meine Stimme, niemand hat mir gesagt, dass ich reden darf. Ich würde so gerne Informationen weitergeben, um die Wahrheit zu zeigen und wie sehr wir gelitten haben.[151]
Gleichzeitig haben einige syrische Flüchtlinge unrealistische Erwartungen daran, wie sie zu Verfahren beitragen und was dabei herauskommen könnte. Diese verzerrten Erwartungen sind teilweise auf das fehlende Wissen über die Rechtssysteme und die Grenzen der Verfahren zurückzuführen.
Weil sie durch ihr Mandat und ihre Ressourcen eingeschränkt sind, können nationale Behörden häufig Informationen, die sie von syrischen Flüchtlingen erhalten, nicht nutzen, um Fälle aufzubauen. Zwar sind manche Syrer, die schwere Verbrechen bezeugen können und/oder dokumentiert haben, bereit, mit den Behörden zusammenzuarbeiten[152]. Aber ihre Informationen beziehen sich häufig nicht auf Vorfälle innerhalb der jeweiligen Gerichtsbarkeit oder haben keinen Beweiswert in Strafprozessen.
Zusätzlich dazu, und wie bereits ausgeführt, kommen im Ausland verübte Verbrechen oft nur dann vor nationale Gereichte, wenn der Tatverdächtige im Land ist und Beweise verfügbar sind. Da der Konflikt in Syrien andauert, ist es unwahrscheinlich, dass führende Regierungsangehörige oder Militärkommandanten in näherer Zukunft nach Europa reisen werden. Damit schwindet die Wahrscheinlichkeit, dass mittel- oder hochrangige Personen mit Verbindungen zur Regierung angeklagt werden.
All diese Einschränkungen sind den Syrern in Schweden und Deutschland nicht notwendigerweise klar und werden ihnen auch nicht vermittelt, was sie frustrieren und dazu führen kann, dass sie das Vertrauen in die Behörden verlieren. Hakim, ein Journalist, der von der syrischen Regierung inhaftiert worden war, sagte: „Die meisten Leute, die das Regime vor Gericht sehen wollen, haben jede Hoffnung verloren.“[153]
Informationssammlung auf regionaler und internationaler Ebene
Die schwedischen und deutschen Behörden sammeln Informationen, die dazu beitragen können, Gerechtigkeit für Völkerstraftaten in Syrien herzustellen, auch außerhalb ihrer Landesgrenzen. Während die Europäische Union Plattformen zum Informationsaustausch zwischen ihren Mitgliedstaaten bereit stellt, ist die Zusammenarbeit mit Ländern außerhalb der EU schwieriger. Nichtregierungsorganisationen und UN-Institutionen spielen außerdem eine zunehmend wichtige Rolle in der Dokumentation von Menschenrechtsverletzungen in Syrien. Ermittler und Staatsanwälte versuchen derzeit, die Interaktion und Zusammenarbeit mit diesen Instanzen zu verbessern.
Länder in Europa
Die schwedischen und deutschen Behörden berichten von guter Zusammenarbeit auf europäischer Ebene, da Protokolle einen raschen Informationsaustausch ermöglichen.[154]
Darüber hinaus nehmen Staatsanwälte und Ermittler aus beiden Ländern regelmäßig an Treffen des „Europäisches Netzes von Anlaufstellen betreffend Personen, die für Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen verantwortlich sind“ (EU Genocide Network) teil, die von Eurojust ausgerichtet werden.[155] Eurojust ist die EU-Agentur für justizielle Zusammenarbeit und soll die Koordination und Zusammenarbeit der nationalen Ermittlungsbehörden und Staatsanwaltschaften der EU-Mitgliedstaaten bei schweren Verbrechen unterstützen und stärken.
Das EU Genocide Network richtet halbjährliche Treffen aus, bei denen Ermittler und Staatsanwälte aller EU-Mitgliedstaaten sowie aus Norwegen, der Schweiz, Kanada und den USA sich über Informationen, Erfahrungen und Arbeitsmethoden austauschen.[156] Damit schafft das Netz ein eigenes Forum für EU-weite Zusammenarbeit und Wissensaustausch im Bereich schwerster Völkerrechtsverbrechen.
Die Zivilgesellschaft ist eingeladen, an einem Teil des Treffens teilzunehmen. Der Rest ist nicht öffentlich, so dass sich Praktiker in einem vertraulichen Rahmen über einzelne Fälle austauschen können. Beamten zufolge fördern diese Treffen eindeutig die bilateralen Beziehungen, die sich als essentiell für ihre Arbeit an bestimmten Fällen, auch mit Syrien-Bezug, erwiesen haben.[157]
Daneben arbeitet Deutschland mit anderen europäischen Ländern, insbesondere den Niederlanden, am Aufbau einer zentralen Datenbank zu Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Völkermord innerhalb vor Europol, der Agentur für polizeiliche Zusammenarbeit in der EU.[158] Einem Praktiker zufolge soll diese Datenbank die Ermittlungen nationaler Behörden optimieren, indem sie unter anderem einen sicheren Informationsaustausch zwischen bestehenden polizeilichen Abteilungen, die zu Kriegsverbrechen in Europa arbeiten, ermöglicht.[159]
Angesichts der wichtigen Rolle, die Einwanderungsbehörden bei der Identifikation von Personen spielen, die Völkerstraftaten verdächtig sind, setzte sich Human Rights Watch dafür ein, dass ein europäisches Netzwerk von Kontaktstellen für Ausschluss-Fälle geschaffen wird, einschließlich Ausschlüsse unter Artikel 1F der Flüchtlingskonvention.[160] Diese Empfehlung wurde offensichtlich im Februar 2017 umgesetzt, als das Europäische Unterstützungsbüro für Asylfragen das Ausschluss-Netz gründete. Dieses ermöglicht den Kontaktstellen der EU-Mitgliedstaaten, den EU-Behörden, dem UN-Hochkommissar für Flüchtlinge und der Intergovernmental Consultations on Migration, Asylum and Refugees in Fragen des Ausschlusses von internationalem Schutz zusammenzuarbeiten.[161]
Wenn bei einem Asylsuchenden der erste Verdacht auf schwerste Verbrechen besteht und er daher keinen Flüchtlingsstatus erhält, müssen die Behörden – wie bereits ausgeführt – klären, ob ihm bei einer Abschiebung Folter, unfaire Prozesse oder andere unangemessene oder unmenschliche Behandlung droht. Ist das der Fall, ist eine Abschiebung völkerrechtlich verboten und die Behörden sollten erwägen, ob es nicht angemessener wäre, den Verdächtigen in einem Rechtssystem zur Verantwortung zu ziehen, in dem ihm ein faires Verfahren und ordentliche Behandlung zuteil wird.
Nachbarstaaten von Syrien
Die Türkei, der Libanon und Jordanien haben weltweit die meisten syrischen Flüchtlinge aufgenommen[162] und mit ihnen eine bedeutende Zahl möglicher Opfer und Zeugen schwerster Völkerrechtsverbrechen[163]. Allerdings ist die Zusammenarbeit mit diesen Ländern schwierig, weil es kein vergleichbares System wie in Europa für raschen Informationsaustausch gibt. Einigen Praktikern und Regierungsbeamten in Schweden und Deutschland zufolge kann es abhängig von den jeweiligen bilateralen Abkommen sehr mühsam und zeitraubend sein, Informationen bei diesen Ländern anzufragen (sogenannte Rechtshilfeersuche zu stellen).[164]
Schwedische und deutsche Beamte berichteten, dass sie wegen der damit einhergehenden Schwierigkeiten nur begrenzt oder gar keinen Kontakt zu den Behörden in der Türkei, dem Libanon und Jordanien haben. Außerdem war eine Zusammenarbeit bei den bisherigen Ermittlungen schlicht nicht erforderlich.[165] Eine Ausnahme stellt der Versuch schwedischer Behörden dar, ein Opfer zu befragen, das ein schwedischer Journalist in der Türkei ausfindig gemacht hatte.[166] Nachdem sie im Mai 2015 ein Rechtshilfeersuchen stellten, konnten sie die Befragung erst im Januar 2016 durchführen.[167] Praktikern zufolge hat Deutschland im Zusammenhang mit den laufenden Syrien-Untersuchungen bisher noch kein einziges Ersuchen an eines der drei Länder gestellt.[168]
Andere Akteure
Nationale Ermittler und Staatsanwälte nutzen oft Berichte von internationalen NGOs und anderen Gruppen oder Instanzen, um an Hintergrundinformationen oder erste Hinweise zu gelangen. Allerdings weisen Verteidiger darauf hin, dass es problematisch ist, wenn solche Berichte vor Gericht zugelassen werden, auch wenn sie nur Hintergrundinformationen bereitstellen. Das trifft insbesondere dann zu, wenn die Verteidigung keine Möglichkeit hat, die Informationen in diesen Berichten anzufechten oder die Autoren zu befragen. Schwedische Richter haben Berichte von NGOs bei Prozessen bereits als glaubwürdig eingestuft und als Hintergrundinformation zugelassen.[169]
Dass die schwedischen Staatsanwälte in den ersten zwei Prozessen zu Kriegsverbrechen in Syrien massiv auf solche Berichte zurückgriffen, führte einem schwedischen Praktiker zufolge dazu, dass die Schwelle für zulässige Beweise de facto herabgesetzt wurde. Denn die Berichte enthalten Informationen, die nicht unter Berücksichtigung der Verfahrensstandards bei Strafprozessen gesammelt wurden.[170] Ein Praktiker in Deutschland merkte ebenfalls an, dass Richter dazu neigen, blind auf diese Berichte zu vertrauen, weil sie nicht mit den kulturellen und politischen Kontexten der Länder vertraut sind, in denen die Verbrechen verübt wurden.[171]
Die Behörden sind mit ähnlichen Problemen konfrontiert, wenn sie auf Informationen aus Berichten der UN-Untersuchungskommission zurückgreifen. Da die Kommission kein Strafverfolgungsmechanismus ist, geht sie bereits dann, wenn „hinreichende Gründe dafür vorliegen“, davon aus, dass sich ein untersuchtes Geschehen in der beschriebenen Weise ereignet hat.[172] Diese Schwelle ist niedriger als die für zulässige Beweise in nationalen Strafverfahren.
Praktiker aus Schweden sagten, dass die Zusammenarbeit mit der Untersuchungskommission auch deshalb schwierig sei, weil sie strenge Offenlegungsregelungen und nur wenig Personal hat.[173] Die Kommission ist mit menschenrechtlichen Untersuchungen beauftragt. Deshalb hat sie kein System zur Informationsverwaltung, das strafrechtliche Ermittlungen unterstützen kann, und nicht ausreichend Personal, das sich der Zusammenarbeit mit nationalen Behörden widmen kann.[174] Außerdem beziehen sich die Informationsanfragen nationaler Behörden häufig auf bestimmte Personen oder Ereignisse, die kein Untersuchungsgegenstand der Kommission waren. Das hängt auch damit zusammen, dass sich nationale Ermittlungen häufig auf die Verdächtigen oder Opfer konzentrieren, die zufällig in ihre Gerichtsbarkeit fallen. Die Berichte der Kommission hingegen dokumentieren zentrale Vorfälle und untersuchen, welche Personen für diese mitverantwortlich sind. Eine andere Hürde ist das fehlende Einverständnis der Quellen, die Informationen, über die die Kommission verfügt, an nationale Gerichte weiterzugeben.[175]
Nichtsdestotrotz sind die schwedischen und die deutschen Behörden überzeugt, dass die Kommission relevante Informationen für ihre Ermittlungs- und Strafverfolgungsanstrengungen bereitstellen könnte. Ein Praktiker empfahl, eine Anlaufstelle innerhalb der schwedischen Kommission zur Bekämpfung von Kriegsverbrechen zu schaffen, die sich der Zusammenarbeit mit der UN-Untersuchungskommission widmet.[176] Währenddessen tauschen deutsche Beamte Erfahrungen mit anderen nationalen Behörden aus, um die Zusammenarbeit mit der UN-Untersuchungskommission zu verbessern und zu vereinheitlichen.[177]
Der neue Untersuchungsmechanismus zu Syrien, den die UN-Generalversammlung eingerichtet hat, könnte auch zu einer wichtigen Informationsquelle für nationale Behörden werden. Der Mechanismus hat ein zweigliedriges Mandat:
- Beweise für Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht, Menschenrechtsverletzungen und andere Verstöße zu sammeln, zu konsolidieren, aufzubewahren und zu analysieren; und
- Akten vorzubereiten, die faire und unabhängige Strafverfahren ermöglichen und beschleunigen, die im Einklang mit dem Völkerrecht stehen und vor nationalen, regionalen oder internationalen Gerichten oder Tribunalen prozessiert werden, die in der Zukunft und im Einklang mit dem Völkerrecht für diese Verbrechen zuständig werden können.
- [178]
Da der Mechanismus noch nicht arbeitet, ist es noch zu früh, um zu beurteilen, wie dies in der Praxis funktionieren wird. Nichtsdestotrotz zeigten sich schwedische und deutsche Behörden daran interessiert, mit dem Mechanismus zusammenzuarbeiten.
Gegenmaßnahmen
Schweden und Deutschland unternehmen aktiv Schritte, um einigen der aufgezeigten Herausforderungen zu begegnen.
Weiterbildung und juristische Ausbildung
Schwerste Völkerrechtsverbrechen zu untersuchen und strafrechtlich zu verfolgen erfordert besondere Fähigkeiten und Wissen. Staatsanwälte müssen in der Lage sein, Kontextelemente nachzuweisen, die Bestandteile dieser speziellen Tatbestände sind, etwa die Existenz eines Konflikts oder eines großflächigen und systematischen Angriffs auf die Zivilbevölkerung. Außerdem müssen sie die Verdächtigen mit Gräueltaten in Verbindung bringen, die von ihren Untergebenen verübt wurden. Zusätzlich werden solche Verbrechen in der Regel gegen eine Vielzahl von Opfern außerhalb des Hoheitsgebiets des ermittelnden Staates verübt.
Die schwedischen und deutschen Behörden arbeiten daran, diesen Herausforderungen zu begegnen. Allerdings haben sie sich bestimmten Problem noch nicht gewidmet, die zu berücksichtigen sind.
Schweden
Die schwedischen Polizisten in der Kommission, die zu Kriegsverbrechen arebeitet, sind nicht darin ausgebildet, in schweren Völkerrechtsverbrechen zu ermitteln, und lernen dies primär während ihrer Arbeit. Allerdings haben mindestens ein Ermittler und ein Analytiker durch frühere Tätigkeiten für internationale Organisationen bereits Erfahrungen mit dieser Art von Ermittlungen.[179]
Auf Grund der dezentralen Struktur der schwedischen Polizei kann theoretisch jede Polizeistation im Land wichtige Informationen über schwere Völkerrechtsverbrechen (in Syrien oder andernorts) erhalten und muss diese richtig einordnen und verarbeiten können. Um die Polizeibeamten darauf besser vorzubereiten, hat die Kommission Leitfäden erstellt, die die Beamten dabei unterstützen sollen, mit Berichten über mutmaßliche Kriegsverbrechen umzugehen. Diese sind auf einer internen Polizei-Website abrufbar.[180]
Die Staatsanwälte im Team zur Bekämpfung von Kriegsverbrechen entwickelten eine interne Ausbildungsstrategie, die vorsieht, dass ein in Völkerstrafverfahren erfahrener Staatsanwalt mit Kollegen zusammenarbeitet, die zum ersten Mal in diesem Bereich arbeiten.[181]
Das schwedische Rechtssystem ist dezentral organisiert und schwere Völkerrechtsverbrechen können theoretisch von Gerichten überall im Land prozessiert werden.[182] Allerdings können Staatsanwälte beim Justizministerium beantragen, dass ein Fall an ein bestimmtes Gericht verwiesen wird, wenn dafür Gründe vorliegen, zum Beispiel, wenn ein Zeuge nach Schweden eingeflogen werden muss.[183] In der Praxis beantragen Staatsanwälte normalerweise, dass Völkerstrafverfahren an das Stockholmer Bezirksgericht verwiesen werden, das inoffiziell eine gewisse Spezialisierung auf dieses Gebiet entwickelt hat.[184] Nichtsdestotrotz betonten einige Gesprächspartner, dass schwedische Richter von Weiterbildungen in Völkerstrafrecht profitieren würden.[185]
Mit einigen Ausnahmen werden Anwälten von Opfern und Tatverdächtigen in Schweden häufig komplexe, völkerstrafrechtliche Fälle zugewiesen, ohne dass sie zuvor Erfahrungen in diesem Rechtsgebiet sammeln konnten.[186]Praktiker schlugen vor, dass die schwedische Anwaltskammer Weiterbildungen für Anwälte anbieten könnte, die an solchen Fällen arbeiten wollen.[187]
Deutschland
In Deutschland organisiert die ZBKV jährlich einwöchige Weiterbildungen zu Kriegsverbrechen für Beamte der Bundespolizei und der Landeskriminalämter. Bei Redaktionsschluss war ein neuer Workshop zur Arbeit mit Opfern schwerster Völkerrechtsverbrechen in Planung.[188]
Auch nehmen die Mitglieder der ZBKV regelmäßig an Weiterbildungen von Interpol teil.[189] Zusätzlich dazu hat die ZBKV ein Hospitationsprogramm mit anderen europäischen Abteilungen, die zu Kriegsverbrechen arbeiten. Dadurch können deutsche Ermittler Kollegen aus anderen Ländern für eine bestimmte Zeit bei ihrer täglichen Arbeit begleiten, um ihre Arbeitsweisen zu vergleichen und Best Practice-Beispiele auszutauschen.[190] Mitarbeiter des BAMF nehmen ebenfalls an Weiterbildungen, Seminaren und Treffen mit NGOs teil, die die Bundespolizei ausrichtet.[191]
Dem Generalbundesanwalt beim Bundesgerichtshof unterstehen sowohl (insgesamt erfahrenere) Bundesanwälte als auch von den Bundesländern entsandte (in der Regel jüngere und weniger erfahrene) Staatsanwälte. Letztere arbeiten drei Jahre lang beim Generalbundesanwalt und kehren dann in ihr Bundesland zurück. Bei Redaktionsschluss beschäftigte das Referat für Völkerstrafrecht drei entsandte Staatsanwälte. Zwei davon arbeiteten ausschließlich an Völkerstraftaten und der dritte befasste sich auch mit anderen Verfahren vor dem Bundesgerichtshof.[192]
Sobald die Amtszeit eines entsandten Staatsanwalts vorüber ist, wird er durch einen neuen Staatsanwalt ersetzt, der drei Jahre lang im Referat für Völkerstrafrecht arbeitet. Durch dieses System gelangt Wissen über die Untersuchung und strafrechtliche Verfolgung von Völkerrechtsverbrechen in die deutschen Staatsanwaltschaften. Zudem eröffnet es die Möglichkeit, vakante Langzeitstellen im Referat für Völkerstrafrecht mit Personen zu besetzen, die das Referat und das Rechtsgebiet bereits kennen.[193] Mehrere Staatsanwälte des Referats haben außerdem bereits wissenschaftlich zum Völkerstrafrecht gearbeitet und/oder praktische Erfahrungen mit internationalen Strafgerichten oder Tribunalen.[194]
Kriegsverbrechen werden in Deutschland ausschließlich vor Oberlandesgerichten verhandelt, die auf Bundesebene als erstinstanzliche Gerichte für schwerste Völkerrechtsverbrechen dienen.[195] Die Richter an diesen Gerichten sind nicht speziell in Völkerstrafrecht ausgebildet. Allerdings kann ein bestimmtes Oberlandesgericht in diesem Bereich Expertise entwickeln, wenn es mehrere Fälle schwerster Völkerrechtsverbrechen prozessiert.[196] Die Staatsanwälte im Referat für Völkerstraftaten führen regelmäßig Weiterbildungen im Völkerstrafrecht für Richter an Oberlandesgerichten durch.[197]
Die deutsche Rechtswissenschaft widmet sich seit langer Zeit intensiv dem Völkerstrafrecht. Mehrere deutsche Gesprächspartner äußerten den Eindruck, dass die Anwälte, die als Verteidiger oder Opfervertreter bei Völkerstrafprozessen auftreten, durch ihr Studium und ihre Erfahrungen über ausreichend Wissen über dieses speziellen Rechtsgebiet verfügten.[198]
Länderexpertise
Nationale Ermittler und Staatsanwälte arbeiten teilweise gleichzeitig an mehreren Fällen mit Bezug zu sehr unterschiedlichen Länder. Wegen ihrer begrenzten Ressourcen können sie keine Fachkenntnisse über all diese Situationen entwickeln. Allerdings ist es wichtig, dass ihnen grundlegendes Wissen zur Verfügung steht, damit sie Verbrechen, die in einem bestimmten Kontext verübt wurden, wirksam untersuchen und verfolgen können.
Die polizeilichen Abteilungen zu Kriegsverbrechen in Schweden und Deutschland entwickeln nach und nach eine Expertise zu Syrien. Angesichts der wachsenden Zahl von Ermittlungen im Zusammenhang mit dem Konflikt muss diese allerdings weiter ausgebaut werden. Für schwedische Ermittler ist es schwierig, unter den syrischen Flüchtlingen in ihrem Hoheitsgebiet mögliche Opfer oder Zeugen zu identifizieren und mit ihnen zusammenzuarbeiten, was teilweise auf Sprachbarrieren und begrenztes Wissen über Syrien zurückzuführen ist. Bei Redaktionsschluss arbeiteten in der Kommission zur Bekämpfung von Kriegsverbrechen ein Ermittler und ein Analytiker, die arabisch sprechen und von denen einer intern als Syrien-Experte angesehen wird.[199] Ansonsten arbeitet die Kommission mit wechselnden Dolmetschern zusammen.[200] Demgegenüber verfügt die deutsche Bundespolizei über Syrien-Experten, mit denen die ZBKV eng zusammenarbeitet.[201]
Besserer Einbezug von Syrern
Die befragten schwedischen und deutschen Beamten räumten ein, dass der rechtzeitige und wirksame Einbezug syrischer Flüchtlinge und Asylsuchender wichtig sei und, dass sie in diesem Bereich Versäumnisse erkennen. Praktiker führten diese Probleme darauf zurück, dass Völkerrechtsverbrechen erst seit kurzem von nationalen Behörden untersucht werden und es an Ressourcen fehlt, um Syrer umfassend einzubeziehen.[202] Die deutschen Behörden sind in Kontakt mit Vertretern internationaler Tribunale, um von deren Erfahrungen mit Programmen zu lernen, die die Öffentlichkeit erreichen sollen.[203] Allerdings wiesen einige Praktiker darauf hin, dass solche Programme nicht auf nationaler Ebene repliziert werden können, da es an Ressourcen und institutionellen Strukturen dafür fehle.[204]
Zwei Praktiker in Schweden wiesen darauf hin, dass es für sie schwierig sei, den vollen Umfang ihrer Arbeit nach außen zu kommunizieren.[205] Sie bestätigten zwar, dass die schwedischen Behörden mehr tun könnten, um ihre Arbeit der Öffentlichkeit zu vermitteln, zum Beispiel, indem sie erläuterten, wie die Ermittlungen, die strafrechtliche Verfolgung und die Urteilsfindung bei schweren Völkerrechtsverbrechen funktionieren. Allerdings sei dies aus Gründen der Vertraulichkeit und Sicherheit nur begrenzt möglich .[206]
Trotz dieser Schwierigkeiten ergreifen die schwedischen und deutschen Behörden Maßnahmen, um die Informationslücken zu schließen und das Vertrauen syrischer Flüchtlinge und Asylsuchender zu gewinnen.
Bei Redaktionsschluss entwarf die schwedische Kommission zur Bekämpfung von Kriegsverbrechen eine Broschüre (die von der Einwanderungsbehörde und zivilgesellschaftlichen Organisationen verbreitet werden soll), und arbeitete an einer App, um ihre Arbeit vorzustellen und Opfern und Zeugen zu ermöglichen, mit ihr in Kontakt zu treten. Der Impuls, die Broschüre und die App zu entwickeln, kam aus Beratungsgesprächen zwischen schwedischen Behörden, zivilgesellschaftlichen Organisationen und ihren Pendants aus anderen Ländern, insbesondere Norwegen, Deutschland und den Niederlanden.[207] Bislang hat die Kommission nur eine schwedischsprachige Website mit Informationen über die Abteilung und Möglichkeiten zur Kontaktaufnahme.[208]
In Deutschland nutzt das BAMF eine App, die zusätzlich zu grundlegenden Informationen über das Asylverfahren und das Leben in Deutschland auch darüber informiert, wie Personen die Polizei kontaktieren können. Insgesamt stellt sich die Behörde mit ihr als vertrauenswürdiger Partner dar.[209] Die App informiert allerdings nicht darüber, wie Opfer oder Zeugen von Gräueltaten diese bei der ZBKV anzeigen können.
Die ZBKV hat eine Broschüre mit Informationen über die eigenen Aufgaben und darüber erstellt, wie Opfer oder Zeugen schwerster Völkerrechtsverbrechen mit ihr oder der Polizei in Kontakt treten können. Sie wird von der Landespolizei und dem BAMF verteilt.[210] Darüber hinaus hat die Bundespolizei eine deutsch- und englischsprachige Website über die ZBKV, die über schwerste Völkerrechtsverbrechen informiert.[211] Auf dieser Seite fehlen Hinweise darauf, wie Interessierte die ZBKV kontaktieren können.
Während die deutschen und die schwedischen Behörden bereits wichtige Maßnahmen ergriffen haben, um Syrer in ihrem Hoheitsgebiet besser zu erreichen, müssen weiterhin einige Lücken geschlossen werden. Die betroffenen Gemeinschaften über Kanäle, die für sie zugänglich sind, und in einer Sprache, die sie zu verstehen, rechtzeitig und wirksam einzubeziehen, kann das Vertrauen in die Behörden aufbauen, das notwendig ist, um relevante Informationen einzuholen. Außerdem bestärkt es Opfer und Zeugen und ermöglicht es ihnen, eine aktive Rolle in den Bemühungen um Gerechtigkeit zu spielen.
V. Danksagung
Die Untersuchungen, auf denen dieser Bericht basiert, wurden durchgeführt von Maria Elena Vignoli, Fellow in der Abteilung Internationale Justiz, und Balkees Jarrah, Mitarbeiterin in der Abteilung Internationale Justiz. Der Bericht wurde verfasst von Maria Elena Vignoli und überprüft und überarbeitet von Balkees Jarrah, Richard Dicker, Leiter der Abteilung Internationale Justiz, Lama Fakih, stellvertretende Leiterin der Abteilung Naher Osten und Nordafrika, Benjamin Ward, stellvertretender Leiter der Abteilung Europa und Zentralasien, Bill Frelick, Leiter der Flüchtlingsabteilung, Måns Molander, Schweden und Dänemark-Direktor, Wenzel Michalski, Deutschland-Direktor, Nadim Houry, Leiter der Abteilung Terrorismus und Terrorismusbekämpfung, Aisling Reidy, Mitarbeiterin der Rechtsabteilung, Danielle Hass, leitende Redakteurin, und Tom Porteous, stellvertretender Programmleiter. Die Recherchen unterstützt haben Elena Cecchini, Evan Welber, Emily Painter und Aji Drammeh, Praktikanten bei Human Rights Watch. Redaktionell unterstützt haben den Bericht Anjelica Jarrett, Associate in der Abteilung Internationale Justiz, und Jacob Karr, Praktikant bei Human Rights Watch. Die Produktion ermöglicht haben Olivia Hunter, Koordinatorin für den Bereich Fotos und Veröffentlichungen, Fitzroy Hepkins, Verwaltungsmanager, und Jose Martinez, leitender Koordinator.
Mark Klamberg, außerordentlicher Professor für Völkerrecht an der Universität Stockholm und stellvertretender Leiter des Stockholm Center for International Law and Justice, Leonie Steinl, wissenschaftliche Mitarbeiterin und Dozentin für Rechtswissenschaften an der Humboldt Universität zu Berlin, und Jakob Schemmel, wissenschaftlicher Mitarbeiter und Dozent für Rechtswissenschaften an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg haben die Untersuchung der Rechtsrahmen in Schweden und Deutschland maßgeblich unterstützt.
Human Rights Watch dankt allen Helfern und Dolmetschern für ihre wertvolle Unterstützung während der Recherchen und Untersuchungen, ohne die dieser Bericht nicht hätte realisiert werden können. Schließlich möchten wir unseren besonderen Dank all denen aussprechen, die sich bereit erklärt haben, für diesen Bericht mit uns zu sprechen, insbesondere all den Menschen aus Syrien, die mit uns ihre Erfahrungen geteilt haben.