- Israelische Behörden haben mit ihrem Vorgehen seit Oktober 2023 für die Vertreibung von Millionen palästinensischer Zivilist*innen gesorgt. Außerdem sind sie für Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit verantwortlich.
- Es liegen keine nachvollziehbaren militärischen Gründe vor, welche die – oft mehrfache – Vertreibung der beinahe gesamten Bevölkerung von Gaza rechtfertigen könnten. Statt Zivilist*innen zu schützen, haben die „Evakuierungsanordnungen“ des israelischen Militärs für großen Schaden gesorgt.
- Regierungen sollten zielgerichtete Sanktionen verhängen und weitere Maßnahmen umsetzen sowie den Verkauf von Waffen nach Israel einstellen. Der Ankläger des Internationalen Strafgerichtshofs sollte die israelischen Zwangsvertreibungen und die Verweigerung des Rechts auf Rückkehr als Verbrechen gegen die Menschlichkeit untersuchen.
(Jerusalem) – Israelische Behörden haben mit ihrem Vorgehen seit Oktober 2023 für die Vertreibung von Millionen palästinensischer Zivilist*innen gesorgt und sind für Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit verantwortlich, so Human Rights Watch in einem heute veröffentlichten Bericht. Dieser Bericht erscheint zu einem Zeitpunkt, an dem die anhaltende israelische Militäroffensive in Nord-Gaza sehr wahrscheinlich zu einer weiteren Welle an Zwangsvertreibungen führt. Hunderttausende Zivilist*innen werden sich gezwungen sehen, ihr Zuhause zu verlassen.
Der 154-seitige Bericht „‚Hopeless, Starving, and Besieged‘: Israel‘s Forced Displacement of Palestinians in Gaza“ (dt. etwa: „‚Hoffnungslosigkeit, Hunger und Belagerung‘: die israelische Zwangsvertreibung von Palästinenser*innen in Gaza“) zeigt auf, wie das Vorgehen der israelischen Behörden in den letzten 13 Monaten zur Zwangsvertreibung von mehr als 90 Prozent der Bevölkerung von Gaza – 1,9 Millionen Palästinenser*innen – sowie zu umfassenden Zerstörungen im Gazastreifen geführt hat. Die israelische Armee hat zielgerichtet zivile Infrastruktur und private Häuser zerstört, einschließlich in Bereichen, die offenbar zur Errichtung von „Pufferzonen“ und „Sicherheitskorridoren“ vorgesehen sind und aus denen Palästinenser*innen daher dauerhaft vertrieben werden sollen. Entgegen den Verlautbarungen israelischer Offizieller verstößt ihr Vorgehen gegen das Kriegsrecht.
„Die israelische Regierung kann nicht behaupten, das Leben von Palästinensern zu schützen, wenn sie diese gleichzeitig auf den Fluchtrouten tötet, sogenannte Sicherheitszonen bombardiert und den Zugang zu Nahrungsmitteln, Wasser und sanitärer Versorgung unterbricht“, sagte Nadia Hardman, Expertin für die Rechte von Migrant*innen und Geflüchteten bei Human Rights Watch. „Israel hat großflächige Gebiete praktisch vollständig zerstört und damit seine Verpflichtung grob fahrlässig verletzt, für eine sichere Rückkehr der Palästinenser in ihre Häuser zu sorgen.“
Human Rights Watch hat mit 39 vertriebenen Palästinenser*innen gesprochen und die israelischen Evakuierungspläne untersucht, einschließlich 184 Evakuierungsanordnungen. Darüber hinaus hat die Organisation Satellitenbilder untersucht, die die großflächigen Verwüstungen belegen, und Videos sowie Fotos von Angriffen auf ausgewiesene Sicherheitszonen und Evakuierungsrouten geprüft.
Das für bewaffnete Konflikte in besetzten Gebieten anwendbare Recht erlaubt lediglich in Ausnahmefällen die Vertreibung von Zivilist*innen, und zwar wenn dies aus zwingenden militärischen Gründen oder zum Schutz der Zivilbevölkerung erforderlich ist. Eine solche Maßnahme erfordert Schutzvorkehrungen sowie eine angemessene Unterbringung der vertriebenen Personen. Israel behauptet, dass sich bewaffnete palästinensische Gruppen unter die Zivilbevölkerung gemischt hätten und die Evakuierung von Zivilist*innen erforderlich gewesen sei, um diese Gruppen angreifen zu können und gleichzeitig die Zahl ziviler Opfer möglichst gering zu halten. Untersuchungen von Human Rights Watch zeigen, dass diese Behauptung größtenteils falsch ist.
Es liegen keine nachvollziehbaren militärischen Gründe vor, welche die – oft mehrfache – Vertreibung der beinahe gesamten Bevölkerung von Gaza rechtfertigen könnten, so das Ergebnis der Recherchen von Human Rights Watch. Das israelische Evakuierungssystem hat wiederholt zu zivilen Opfern geführt und diente häufig nur der Verbreitung von Angst und Schrecken. Statt vertriebene Zivilist*innen zu schützen, haben israelische Truppen wiederholt offiziell zugewiesene Evakuierungsrouten und Sicherheitszonen angegriffen.
Die Evakuierungsanordnungen waren weder genau noch einheitlich und häufig wurden sie der Zivilbevölkerung nicht mit ausreichendem Vorlauf kommuniziert, so dass sich die Menschen darauf vorbereiten können. Die Bedürfnisse von Menschen mit Behinderungen und anderen, die ihren Wohnort nicht ohne Unterstützung verlassen konnten, waren in den Anordnungen nicht berücksichtigt.
Als Besatzungsmacht ist Israel verpflichtet, angemessene Unterkünfte für vertriebene Zivilist*innen bereitzustellen. Stattdessen haben die Behörden die nötige humanitäre Hilfe sowie die Versorgung bedürftiger Zivilist*innen in Gaza mit Wasser, Elektrizität und Treibstoff beinahe vollständig blockiert. Israelische Angriffe haben überlebenswichtige Ressourcen vernichtet, darunter Krankenhäuser, Schulen, Bäckereien und landwirtschaftliche Flächen sowie kritische Infrastruktur, wie die Wasser- und Energieversorgung zerstört.
Israel ist zudem verpflichtet, die Rückkehr der Vertriebenen in ihre Herkunftsorte zu garantieren, sobald die Kampfhandlungen in den jeweiligen Bereichen eingestellt werden. Stattdessen sind Teile von Gaza jetzt unbewohnbar. Das israelische Militär hat die zivile Infrastruktur absichtlich zerstört oder zumindest beschädigt. So wurden Wohnhäuser kontrolliert gesprengt, offenbar mit dem Ziel, eine erweiterte „Pufferzone“ entlang von Gazas Grenze zu Israel sowie einen Korridor zu schaffen, der Gaza zweiteilen würde. Die Zerstörungen sind so massiv, dass von der Absicht auszugehen ist, die Menschen dauerhaft von dort zu vertreiben.
Israel sollte das Recht palästinensischer Zivilist*innen respektieren, in die Gebiete in Gaza zurückzukehren, aus denen sie vertrieben wurden. Seit beinahe 80 Jahren verweigern die israelischen Behörden etwa 80 Prozent der Bevölkerung von Gaza das Rückkehrrecht. Diese Menschen sowie ihre Nachkommen waren im Rahmen der sogenannten Nakba – der Katastrophe – 1948 aus dem heutigen Israel entweder geflohen oder vertrieben worden. Diese anhaltende Rechteverletzung überschattet das Leben der Palästinenser*innen in Gaza, und viele der Gesprächspartner*innen für den vorliegenden Bericht sprachen von dem Gefühl, eine zweite Nakba zu durchleben.
Seit Beginn der Kampfhandlungen haben führende Beamt*innen der israelischen Regierung sowie des Kriegskabinetts ihre Absicht kundgetan, die palästinensische Bevölkerung in Gaza zu vertreiben. Manche Minister*innen des israelischen Kriegskabinetts erklärten, dass das Territorium schrumpfen werde, dass es „wundervoll“ sei, wenn Gaza in die Luft gesprengt und dem Boden gleich gemacht würde, und dass das Land Siedler*innen übergeben werden würde. Im November 2023 sagte der Minister für Landwirtschaft und Ernährungssicherheit, Avi Dichter: „Wir führen jetzt die Gaza-Nakba aus.“
Human Rights Watch kam zu dem Ergebnis, dass massenhaft Zwangsvertreibungen stattfanden und es belegt ist, dass diese systematisch erfolgten und Teil einer staatlichen Strategie sind. Als solche stellen diese Handlungen Verbrechen gegen die Menschlichkeit dar.
Die von den israelischen Behörden organisierte, Zwangsvertreibung von Palästinenser*innen aus Gaza, die einer anderen ethnischen Gruppe angehören, ist in manchen Bereichen offenbar auf Dauer angelegt, um dort Pufferzonen und Sicherheitskorridore zu errichten. Solche Handlungen der israelischen Behörden kommen einer ethnischen Säuberung gleich.
Menschen, die in Israel und Palästina schwerwiegende Rechteverletzungen erleiden mussten, sehen sich seit Jahrzehnten einer Politik der Straffreiheit gegenüber. Palästinenser*innen in Gaza leiden seit 17 Jahren unter einer unrechtmäßigen Blockade, die Teil der anhaltenden Verbrechen gegen die Menschlichkeit der Apartheid und der Verfolgung ist, die israelische Behörden an der palästinensischen Bevölkerung verüben.
Regierungen sollten die Zwangsvertreibung der Zivilbevölkerung in Gaza durch Israel als Kriegsverbrechen und als Verbrechen gegen die Menschlichkeit verurteilen. Darüber hinaus sind sie aufgefordert, Druck auf das Land auszuüben, damit es diese Verbrechen unverzüglich einstellt und den zahlreichen verbindlichen Anordnungen des Internationalen Gerichtshofs (IGH) sowie den Verpflichtungen Folge leistet, die sich aus dem im Juli veröffentlichten IGH-Gutachten zu Israels Siedlungspolitik ergeben.
Der Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofs sollte die Zwangsvertreibungen durch Israel sowie die Missachtung des Rückkehrrechts als Verbrechen gegen die Menschlichkeit untersuchen. Regierungen sollten zudem öffentlich jegliche Versuche verurteilen, die Arbeit des Gerichts zu torpedieren oder dessen Mitarbeiter*innen sowie andere Personen einzuschüchtern, die mit dem Gericht kooperieren.
Regierungen sollten zielgerichtete Sanktionen sowie weitere Maßnahmen einsetzen, etwa eine Überprüfung bilateraler Abkommen mit Israel, um die israelische Regierung dazu zu bewegen, ihren internationalen Verpflichtungen zum Schutz der Zivilbevölkerung nachzukommen.
Die Vereinigten Staaten, Deutschland und andere Länder sollten unverzüglich ihre Waffenlieferungen und militärische Unterstützung für Israel einstellen. Israel weiter mit Waffen auszustatten, kommt einer Komplizenschaft bei Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und anderen schwerwiegenden Menschenrechtsverletzungen gefährlich nahe.
„Niemand kann ernsthaft die ungeheuerlichen Verbrechen in Abrede stellen, die das israelische Militär an der palästinensischen Bevölkerung in Gaza verübt“, sagte Hardman. „Die Lieferung weiterer Waffen und militärischer Unterstützung durch die Vereinigten Staaten, Deutschland und anderen stellt einen Blanko-Scheck für weitere Gräueltaten dar und kommt zunehmend einer Komplizenschaft bei diesen Verbrechen gleich.“