(Baghdad) – Bewaffnete Gruppen im Irak entführen, vergewaltigen, foltern und töten ungestraft lesbische, schwule, bisexuelle und transsexuelle Menschen (LGBT), so Human Rights Watch in einem gemeinsam mit IraQueer veröffentlichten Bericht. Die Polizei wiederum verhaftet LGBT-Menschen und übt Gewalt gegen sie aus.
Der 86-seitige Bericht “‘Everyone Wants Me Dead’: Killings, Abductions, Torture, and Sexual Violence Against LGBT People by Armed Groups in Iraq,” dokumentiert Fälle von versuchten Tötungen von LGBT-Personen durch bewaffnete Gruppen, vor allem aus den Reihen der Popular Mobilization Forces (PMF), die nominell dem Premierminister unterstellt sind. Human Rights Watch dokumentierte auch Fälle von Entführungen, außergerichtlichen Tötungen, sexueller Gewalt und Online-Angriffen auf LGBT-Personen durch die Polizei und bewaffnete Gruppen. Die irakische Regierung ist für den Schutz der Rechte von LGBT-Personen auf Leben und Sicherheit verantwortlich, versäumt es jedoch, die Verantwortlichen für die Gewalt zur Rechenschaft zu ziehen, so Human Rights Watch.
“LGBT-Menschen im Irak leben in ständiger Angst davor, von bewaffneten Gruppen ungestraft verfolgt und getötet zu werden, sowie in der Angst vor Verhaftung und Gewalt durch die irakische Polizei. Das macht ihr Leben unerträglich”, sagte Rasha Younes, LGBT-Rechtsforscherin bei Human Rights Watch. “Die irakische Regierung hat nichts getan, um die Gewalt zu stoppen oder die Täter zur Rechenschaft zu ziehen.”
Human Rights Watch und IraQueer, eine irakische LGBT-Rechtsgruppe, sprachen mit 54 LGBT-Iraker*innen, die Gewalt durch bewaffnete Gruppen und die Polizei erfahren haben. Human Rights Watch befragte zudem Vertreter*innen von neun Menschenrechtsorganisationen und internationalen Agenturen sowie sieben Vertreter*innen ausländischer Missionen im Irak und mit LGBT-Rechtsanwält*innen. Die Befragten hatten Übergriffe in Bagdad und anderen irakischen Städten sowie in der Region Kurdistan erlebt. Human Rights Watch untersuchte auch die Online-Dokumentation von Angriffen auf LGBT-Personen, darunter Videos, Bilder und Online-Drohungen.
Die Gruppen stellten fest, dass die Möglichkeiten für und die Bereitschaft von LGBT-Personen, Übergriffe bei der Polizei zu melden oder Beschwerden gegen Vollzugsbeamte einzureichen, durch eine Kombination aus lose definierten “Moral”-Klauseln im irakischen Strafgesetzbuch und dem Fehlen zuverlässiger Beschwerdesysteme und Gesetze zum Schutz vor Diskriminierung behindert werden. Dies hat ein Umfeld geschaffen, in dem bewaffnete Regierungsbeamte, einschließlich der Polizei, LGBT-Menschen ungestraft misshandeln können, so die Gruppen.
Eine 31-jährige irakische Transgender-Frau sagte, sie sei im Februar 2021 auf dem Heimweg von der Arbeit gewesen, als sechs Männer in einem Hummer mit getönten Scheiben sie neben einer Mülldeponie in Bagdad anhielten. “Sie zogen eine Rasierklinge und einen Schraubenzieher und stachen und schnitten mich überall, vor allem am Po, im Schritt und an den Oberschenkeln”, berichtete sie Human Rights Watch und IraQueer. “Sie schlitzten mich auf und schütteten etwa fünf Liter Benzin über meinen Körper und mein Gesicht und zündeten mich an.”
Ein 27-jähriger schwuler Mann aus Bagdad beschrieb, wie sein Freund im Mai 2020 vor seinen Augen von vier Mitgliedern einer bewaffneten Gruppe gefoltert wurde. “Dann schossen sie fünfmal auf ihn”, sagte er.
In acht Fällen richteten sich die Übergriffe bewaffneter Gruppen und der Polizei, einschließlich willkürlicher Verhaftungen und sexueller Belästigung, gegen Kinder im Alter von bis zu 15 Jahren. Viele der Angegriffenen waren in der Lage, die verantwortliche bewaffnete Gruppe zu identifizieren. Die Gruppen, die in die schwersten Übergriffe verwickelt waren, sind Asa'ib Ahl al-Haqq, Atabat Mobilization, Badr Organization, Kata'ib Hezbollah, Raba Allah Group und Saraya al-Salam.
Die befragten Personen berichteten von Verhaftungen und routinemäßiger Gewalt durch Sicherheitsbeamte, die sie verbal und körperlich angreifen und sie willkürlich festnehmen und inhaftieren, oft ohne rechtliche Grundlage.
LGBT-Personen berichteten von Misshandlungen während der Haft, darunter die Verweigerung von Nahrung und Wasser oder des Rechts, einen Rechtsbeistand oder Familienangehörige zu kontaktieren oder medizinische Versorgung zu erhalten. Sie sagten, die Polizei habe sie sexuell und körperlich missbraucht und sie gezwungen, eine Erklärung zu unterschreiben, dass sie nicht misshandelt worden seien.
Im Juni 2021 stellte die Polizei in der Region Kurdistan im Irak (KRI) auf der Grundlage von Artikel 401 des Strafgesetzbuchs, der „unsittliches Verhalten in der Öffentlichkeit” unter Strafe stellt, Haftbefehle gegen elf LGBT-Rechtsaktivist*innen aus, die entweder derzeitige oder ehemalige Mitarbeiter der Rasan-Organisation, einer Menschenrechtsgruppe mit Sitz in Sulaymaniyah, sind. Im März 2022 war der Fall noch nicht abgeschlossen, die Behörden hatten die Aktivist*innen jedoch nicht verhaftet.
Die meisten der Befragten gaben außerdem an, mindestens einmal extreme Gewalt durch männliche Verwandte aufgrund ihrer sexuellen Orientierung oder geschlechtlichen Identität bzw. deren Ausdruck erfahren zu haben. Zu dieser Gewalt gehörte, dass sie über längere Zeit in einen Raum eingesperrt wurden, dass ihnen Nahrung und Wasser verweigert wurden, dass ihnen Verbrennungen zugefügt wurden, sie geschlagen, vergewaltigt, mit Elektroschocks traktiert, mit vorgehaltener Waffe überfallen und zu Konversionspraktiken und Hormonbehandlungen gezwungen wurden, dass sie zwangsverheiratet wurden und dass sie gezwungen wurden, viele Stunden ohne Entlohnung zu arbeiten.
Die irakischen Behörden sollten allen Berichten über Gewalt durch bewaffnete Gruppen und andere gegen Menschen nachgehen, die aufgrund ihrer tatsächlichen oder vermeintlichen sexuellen Orientierung oder geschlechtlichen Identität bzw. deren Ausdruck angegriffen werden. Sie sollten die Verantwortlichen strafrechtlich verfolgen, fair über den Sachverhalt urteilen und die Verantwortlichen angemessen bestrafen. Zudem sollten sie jede Form derartiger Gewalt öffentlich und ausdrücklich verurteilen, so Human Rights Watch. Die Regierung sollte alle geeigneten Maßnahmen ergreifen, um Folter, gewaltsames Verschwindenlassen, standrechtliche Hinrichtungen und andere Menschenrechtsverletzungen, auch aufgrund der sexuellen Orientierung und der geschlechtlichen Identität, zu beenden. Sie sollte Überlebende schwerer Misshandlungen sowie die Familien aller Opfer von Tötungen durch bewaffnete Gruppen entschädigen.
Die irakischen Sicherheitskräfte sollten aufhören, LGBT-Personen aufgrund ihrer sexuellen Orientierung oder des Ausdrucks ihrer geschlechtlichen Identität zu schikanieren und festzunehmen. Stattdessen sollten sie diese Menschen vor Gewalt schützen. Der Irak sollte Antidiskriminierungsgesetze einführen und durchsetzen, die auch die sexuelle Orientierung und die geschlechtliche Identität berücksichtigen.
Länder, die den Irak militärisch, sicherheitspolitisch und nachrichtendienstlich unterstützen, darunter die USA, Großbritannien, Deutschland und Frankreich, sollten die irakischen Behörden auffordern, die Vorwürfe der Menschenrechtsverletzungen durch bewaffnete Gruppen und ihre eigene Rolle hierbei zu untersuchen. Diese Länder sollten die militärische, sicherheitspolitische und nachrichtendienstliche Unterstützung für Parteien, die in diese Übergriffe verwickelt sind, aussetzen und jede Aussetzung oder Beendigung dieser Unterstützung öffentlich erklären.
“Wenn die irakische Regierung der Gewalt und der Straflosigkeit nicht sofort ein Ende setzt, werden weiterhin LGBT-Menschen im Irak sterben”, so Younes. “Die irakischen Behörden sollten die Gewalt gegen LGBT-Personen öffentlich verurteilen und ihr Recht auf Schutz im eigenen Land gewährleisten.”