- Die chinesische Regierung übt extremen Druck aus, um Tibeter*innen zur Umsiedlung ihrer alteingesessenen Dörfer zu zwingen.
- Chinesische Behörden führen die Betroffen in die Irre, indem sie behaupten, die Umsiedlung führe zu mehr Beschäftigung und höheren Einkommen.
- Die chinesische Regierung sollte die Umsiedlungen in Tibet aussetzen und die chinesischen Gesetze und Normen sowie das internationale Recht in Bezug auf Umsiedlungen und Zwangsräumungen respektieren.
(Taipeh, 22. Mai 2024) - Chinas Regierungsbehörden setzen auf dem Land lebende Tibeter*innen systematisch unter extremen Druck, um sie zur Umsiedlung ihrer alteingesessenen Dörfer zu zwingen, so Human Rights Watch in einem heute veröffentlichten Bericht. Seit 2016 haben Beamt*innen in der Autonomen Region Tibet 500 Dörfer mit mehr als 140.000 Einwohner*innen an neue, oft Hunderte von Kilometern entfernte Orte umgesiedelt oder sind im Begriff, dies zu tun.
Der 71-seitige Bericht, „'Educate the Masses to Change Their Minds': China's Coercive Relocation of Rural Tibetans“ schildert detailliert, wie die Teilnahme an Programmen zur „Umsiedlung ganzer Dörfer“ in Tibet einer Zwangsräumung gleichkommt, die gegen das Völkerrecht verstößt. Von offizieller Seite wird irreführend behauptet, dass diese Umsiedlungen „die Lebensgrundlage der Menschen verbessern“ und „die Umwelt schützen“ würden. Die Regierung hindert die umgesiedelten Menschen an einer Rückkehr in ihre ehemaligen Häuser, indem sie sie auffordert, diese Häuser innerhalb eines Jahres nach der Umsiedlung abzureißen.
„Die chinesische Regierung behauptet, die Umsiedlung tibetischer Dörfer erfolge freiwillig, aber offizielle Medienberichte widersprechen dieser Behauptung“, sagte Maya Wang, stellvertretende China-Direktorin bei Human Rights Watch. „Diese Berichte zeigen deutlich, dass es für die Bewohner*innen eines Dorfes, das vollständig umgesiedelt werden soll, praktisch unmöglich ist, den Umzug zu verweigern, ohne mit ernsthaften Konsequenzen rechnen zu müssen.“
Der Bericht stützt sich auf über 1.000 offizielle chinesische Medienartikel, die zwischen 2016 und 2023 veröffentlicht wurden. Er enthält drei Fallstudien sowie Videoaufnahmen, die im Detail die Argumente und Methoden zeigen, die chinesische Beamt*innen anwenden, um die „Zustimmung“ der Bewohner*innen zur Umsiedlung ihrer Dörfer zu erhalten.
Die Politik der chinesischen Regierung in Tibet sieht vor, dass jeder Haushalt in jedem betroffenen Dorf der Umsiedlung zustimmen muss. Human Rights Watch fand mehrere Hinweise auf anfängliches Zögern der Tibeter*innen, deren Dörfer umgesiedelt werden sollten. In einem Fall wollten 200 von 262 Haushalten in einem Dorf in der Gemeinde Nagchu zunächst nicht in ein fast 1.000 Kilometer entferntes Gebiet umgesiedelt werden. Nach Angaben der Regierung erklärten sich schließlich jedoch alle zu diesem Umzug bereit.
Die chinesischen Behörden führen ihren Erfolg bei der Erlangung der ausnahmslosen Zustimmung auf ihre „Öffentlichkeitsarbeit“ und die „ideologische Arbeit von Tür zu Tür“ zurück, die von den Beamt*innen vor Ort durchgeführt wird. Dazu gehören oft übergriffige Hausbesuche. In einigen Fällen besuchen Beamt*innen aufsteigenden Dienstgrades wiederholt die Familien zu Hause, um deren „Zustimmung“ zu erhalten. Bisweilen teilen sie den Bewohner*innen mit, dass wichtige Dienstleistungen an ihrem derzeitigen Wohnort gestrichen würden, sollten sie nicht umziehen.
Dorfbewohner*innen, die sich gegen die Umsiedlungen aussprechen, werden öffentlich bedroht und der „Verbreitung von Gerüchten“ bezichtigt. Die Beamt*innen sind angewiesen, in solchen Fällen „schnell und entschlossen“ vorzugehen, was bedeutet, dass den Betroffenen verwaltungs- und strafrechtliche Sanktionen drohen. Darüber hinaus verlangen die Behörden, dass jedes betroffene Dorf einen Konsensbeschluss fasst. Hierbei darf sich niemand aus dem Dorf der Abstimmung entziehen, was zu einem zusätzlichen Gruppendruck auf alle Einwohner*innen führt.
Neben den Programmen, die ganze Dörfer umsiedeln, wenden die Behörden in Tibet auch eine Form der Umsiedlung an, die als „Umsiedlung einzelner Haushalte“ bekannt ist. Dabei werden in der Regel ärmere Haushalte für die Umsiedlung an Orte ausgewählt, die für die Einkommensgenerierung besser geeignet sind. Im Rahmen dieses Programms hat die Regierung zwischen 2016 und 2020 insgesamt 567.000 Menschen in tibetischen Gebieten Chinas umgesiedelt.
Die für dieses Programm ausgewählten Menschen durften die Teilnahme zwar ablehnen, doch aus offiziellen Medienberichten geht hervor, dass die Beamt*innen ihnen routinemäßig versicherten, die Umsiedlung werde zu besseren Beschäftigungsaussichten und höheren Einkommen führen. Studien chinesischer regierungsnaher Forschender in Tibet zeigen jedoch, dass die meisten Menschen, die in stadtnahe Gebiete umgesiedelt wurden, in denen sie ihre Fähigkeiten in der Landwirtschaft oder Viehhaltung nicht mehr einsetzen können, keine dauerhafte Beschäftigung finden.
Zwar finden derartige Massenumsiedlungen von Menschen in armen ländlichen Gebieten auch andernorts in China statt, nach Erkenntnissen von Human Rights Watch haben sie jedoch verheerende Auswirkungen auf die tibetischen Gemeinschaften. In Verbindung mit den laufenden Programmen der chinesischen Regierung zur Assimilierung der tibetischen Schulbildung, Kultur und Religion an die der „chinesischen Nation“ untergräbt die Umsiedlung ländlicher Gemeinden die tibetische Kultur und Lebensweise oder fügt ihnen großen Schaden zu - nicht zuletzt deshalb, weil die meisten Umsiedlungsprogramme in Tibet ehemalige Bäuer*innen und Viehzüchter*innen in Gebiete verschlagen, in denen sie ihren Lebensunterhalt nicht mehr wie zuvor bestreiten können, sodass sie gezwungen sind, in nicht landwirtschaftlichen Industrien zu arbeiten.
„Die Massenumsiedlungen tibetischer Dörfer führen zu einer ernsthaften Erosion der tibetischen Kultur und Lebensweise“, sagte Wang. „Die chinesische Regierung sollte die Umsiedlungen in Tibet so lange aussetzen, bis eine unabhängige, fachkundige Überprüfung der bestehenden Politik und Praktiken durchgeführt wird, um festzustellen, ob diese mit den chinesischen Gesetzen und Normen sowie dem internationalen Recht in Bezug auf Umsiedlungen und Zwangsräumungen vereinbar sind.“