- Die von der Hamas angeführten bewaffneten Gruppen haben während des Angriffs im Süden Israels am 7. Oktober zahlreiche Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit an der Zivilbevölkerung begangen.
- Zu den Verbrechen der palästinensischen Kämpfer gehören summarische Tötungen, Geiselnahmen und andere Kriegsverbrechen sowie Verbrechen gegen die Menschlichkeit wie Mord und unrechtmäßige Inhaftierung.
- Regierungen, die Einfluss auf die bewaffneten palästinensischen Gruppen haben, sollten sich dringend für die Freilassung aller zivilen Geiseln einsetzen.
(Jerusalem) - Der militärische Flügel der Hamas - die al-Kassam-Brigaden - und mindestens vier weitere bewaffnete palästinensische Gruppen haben während des Angriffs im Süden Israels am 7. Oktober 2023 zahlreiche Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit an Zivilist*innen begangen, so Human Rights Watch in einem heute veröffentlichten Bericht. Regierungen, die Einfluss auf die bewaffneten Gruppen haben, sollten entschieden auf die Freilassung der Zivilist*innen drängen, die noch immer als Geiseln festgehalten werden - ein fortwährendes Kriegsverbrechen. Auch sollten die Regierungen darauf drängen, dass die Verantwortlichen vor Gericht gestellt werden.
Der 236-seitige Bericht, „‘I Can't Erase All the Blood from My Mind': Palestinian Armed Groups' October 7 Assault on Israel“, dokumentiert mehrere Dutzend Fälle von schweren Verstößen gegen das humanitäre Völkerrecht durch bewaffnete palästinensische Gruppen an fast allen zivilen Angriffsorten vom 7. Oktober. Dazu gehören Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit wie Mord, Geiselnahme und andere schwere Vergehen. Human Rights Watch untersuchte auch die Rolle der verschiedenen bewaffneten Gruppen und deren Koordination vor und während der Angriffe. Frühere Berichte von Human Rights Watch haben zahlreiche schwere Menschenrechtsverletzungen behandelt, die von den israelischen Streitkräften im Gazastreifen seit dem 7. Oktober begangen wurden.
„Die Untersuchungen von Human Rights Watch ergaben, dass der von der Hamas angeführte Angriff am 7. Oktober darauf angelegt war, Zivilist*innen zu töten und so viele Menschen wie möglich als Geiseln zu nehmen“, sagte Ida Sawyer, Direktorin für Krisen und Konflikte bei Human Rights Watch. „Die Gräueltaten vom 7. Oktober sollten einen weltweiten Aufruf zum Handeln auslösen, um allen Übergriffen gegenüber Zivilist*innen in Israel und Palästina ein Ende zu setzen.“
Zwischen Oktober 2023 und Juni 2024 sprach Human Rights Watch mit 144 Personen, darunter 94 Israelis und Menschen anderer Nationalitäten, die Zeug*innen des Angriffs vom 7. Oktober waren, Familienangehörige von Opfern, Ersthelfer*innen und medizinisches Fachpersonal. Die Researcher*innen überprüften und analysierten zudem mehr als 280 Fotos und Videos, die während des Angriffs aufgenommen und in den sozialen Medien gepostet oder direkt mit Human Rights Watch geteilt wurden.
Am Morgen des 7. Oktober verübten bewaffnete palästinensische, von der Hamas angeführte Gruppen zahlreiche koordinierte Anschläge, unter anderem auf zivile Wohngebiete und öffentliche Veranstaltungen sowie auf israelische Militärstützpunkte im Süden Israels an der Grenze zum Gazastreifen. Die bewaffneten Gruppen griffen mindestens 19 Kibbuzim und 5 Moschawim (genossenschaftliche Gemeinden), die Städte Sderot und Ofakim, 2 Musikfestivals und eine Strandparty an. Die Angriffe dauerten den Großteil des Tages, in einigen Fällen auch länger, an.
An vielen Angriffsorten schossen palästinensische Kämpfer direkt auf Zivilist*innen, oft aus nächster Nähe, wenn diese versuchten zu fliehen, und auf Menschen, die durch das Gebiet fuhren. Die Angreifer warfen Granaten, schossen in Schutzräume hinein und feuerten Panzerfäuste auf Häuser. Sie setzten Häuser in Brand, verbrannten und erstickten Menschen und vertrieben andere, die sie dann erschossen oder gefangen nahmen. Sie nahmen Dutzende von Menschen als Geiseln und töteten andere an Ort und Stelle.
Nirit Hunwald, eine Krankenschwester aus dem Kibbuz Be'eri, in dem 97 Zivilist*innen getötet wurden, beschrieb, wie sie ein Mitglied des Krisenreaktionsteams, das angeschossen worden war, in die Zahnklinik des Kibbuz schleppte, um seine Wunden zu behandeln: „Da war eine Blutspur. Ich kann es nicht aus meinem Gedächtnis löschen, das ganze Blut.“
Die Nachrichtenagentur Agence France-Presse hat anhand zahlreicher Datenquellen festgestellt, dass es sich bei 815 der 1.195 am 7. Oktober getöteten Menschen um Zivilist*innen handelte. Die bewaffneten Gruppen nahmen 251 Zivilist*innen und Mitarbeitende der israelischen Sicherheitskräfte als Geiseln und verschleppten sie nach Gaza. Am 1. Juli befanden sich nach Angaben von AFP noch 116 Geiseln im Gazastreifen, darunter die Leichname von mindestens 42 Getöteten. Die Leichname von weiteren 35 Getöteten wurden nach Israel zurückgebracht.
Die Essedin-al-Kassam-Brigaden, der bewaffnete Flügel der Hamas, der palästinensischen Bewegung, die den von Israel besetzten Gazastreifen seit 2007 regiert, führten den Angriff an.. Human Rights Watch bestätigte die Beteiligung von vier weiteren bewaffneten palästinensischen Gruppen anhand von Stirnbändern, welche die Kämpfer trugen, um ihre Zugehörigkeit zu signalisieren, und anhand von Bekennerschreiben, welche diese über ihre Telegram-Kanäle in den sozialen Medien veröffentlichten.
Die bewaffneten Gruppen begingen zahlreiche Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht, die Kriegsverbrechen gleichkommen, darunter Angriffe auf Zivilist*innen und zivile Objekte, vorsätzliche Tötungen von Personen in Gewahrsam, grausame und andere unmenschliche Behandlung, Verbrechen im Zusammenhang mit sexualisierter und geschlechtsspezifischer Gewalt, Geiselnahme,Verstümmelung und Schändung von Leichen, Einsatz von menschlichen Schutzschilden, sowie Plünderung und Raub.
Der groß angelegte Angriff richtete sich dezidiert gegen die Zivilbevölkerung. Die Tötung von Zivilist*innen und die Geiselnahmen waren zentrale Ziele des geplanten Angriffs und kein spontan gefasster Entschluss, kein schief gelaufener Plan und auch keine isolierte Handlung. Human Rights Watch kam zu dem Schluss, dass die geplante Ermordung von Zivilist*innen und die Geiselnahmen Verbrechen gegen die Menschlichkeit darstellen.
Nach Ansicht von Human Rights Watch sind weitere Untersuchungen erforderlich, um andere potenzielle Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu untersuchen, darunter die Verfolgung einer Gruppe aufgrund von rassistischen, politischen und religiösen Motiven, Vergewaltigung oder andere sexualisierte Gewalt von vergleichbarer Schwere, sowie Ausrottung, wenn es sich um einen Massentötungsakt handelt, der die „Vernichtung“ eines Teils der Bevölkerung zum Ziel hat. Dies wären Verbrechen gegen die Menschlichkeit, wenn sie Teil eines Angriffs gegen die Zivilbevölkerung im Rahmen einer auf einen solchen Angriff ausgerichteten Strategie waren.
Die Hamas-Behörden antworteten auf Fragen von Human Rights Watch, dass ihre Streitkräfte angewiesen waren, keine Zivilist*innen anzugreifen und sich an die internationalen Menschenrechte und das humanitäre Völkerrecht zu halten. In vielen Fällen haben die Untersuchungen von Human Rights Watch jedoch das Gegenteil bewiesen.
Berichte von Überlebenden sowie verifizierte Fotos und Videos zeigen, dass palästinensische Kämpfer vom Beginn der Angriffe an, Zivilist*innen ausfindig machten und töteten, was darauf hindeutet, dass die vorsätzliche Tötung und Geiselnahme von Zivilist*innen geplant und in hohem Maße koordiniert war.
Innerhalb weniger Tage nach den Angriffen stellten die israelischen Behörden die Versorgung der Bevölkerung des Gazastreifens mit lebenswichtigen Gütern ein und verhinderten die Einfuhr von Treibstoff und humanitärer Hilfe, was einer kollektiven Bestrafung und somit einem Kriegsverbrechen gleichkommt. Die Auswirkungen der seit mehr als 17 Jahren andauernden illegalen Abriegelung des Gazastreifens und der Verbrechen der Apartheid und Verfolgung Israels gegenüber den Palästinenser*innen wurden hierdurch weiter verschärft.
Unmittelbar nach den Angriffen im Süden Israels begannen die israelischen Streitkräfte mit intensiven Luftangriffen und später mit einer Bodenoffensive, die bis heute andauern. Nach Angaben des Gesundheitsministeriums in Gaza wurden zwischen dem 7. Oktober und dem 1. Juli mehr als 37.900 Palästinenser*innen, die meisten von ihnen Zivilist*innen, wurden zwischen dem 7. Oktober und dem 1. Juli getötet. Die israelischen Streitkräfte haben weite Teile des Gazastreifens in Schutt und Asche gelegt und die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung des Gazastreifens in die Flucht getrieben und in Lebensgefahr gebracht.
Alle an dem bewaffneten Konflikt in Gaza und Israel beteiligten Parteien sollten sich uneingeschränkt an das humanitäre Völkerrecht halten. Die bewaffneten palästinensischen Gruppen in Gaza sollten alle zivilen Geiseln unverzüglich und bedingungslos freilassen. Sie sollten geeignete disziplinarische Maßnahmen gegen Mitglieder ergreifen, die für Kriegsverbrechen verantwortlich sind, und alle Personen, gegen die ein Haftbefehl des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH) vorliegt, zur strafrechtlichen Verfolgung ausliefern.
„Gräueltaten rechtfertigen keine Gräueltaten“, sagte Sawyer. „Um den endlosen Kreislauf der Menschenrechtsverletzungen in Israel und Palästina zu durchbrechen, ist es entscheidend, die Ursachen zu bekämpfen und die Verantwortlichen für schwere Verbrechen zur Rechenschaft zu ziehen. Das liegt sowohl im Interesse der Menschen in Palästina als auch in Israel.“