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(Hongkong, 12. Dezember 2006) – In China wird die Arbeit von Anwälten massiv behindert, die Demonstranten vertreten und Sammelklagen einreichen. China soll diese Einschränkungen zurücknehmen, erklärte Human Rights Watch in einem heute veröffentlichten Bericht.

Die neuerlichen Einschränkungen markieren das Ende einer ehemals viel versprechenden Reformphase in der chinesischen Justiz. Sie nehmen Bürgern die Möglichkeit, rechtliche Schritte gegen den verbreiteten Machtmissbrauch durch regionale Behörden zu ergreifen, und können dadurch sogar häufig auftretende soziale Unruhen noch verschärfen. Chinesische Anwälte haben die Bestimmungen als „Rückschritt“ bezeichnet.

„Die Regelungen degradieren Anwälte zu Informanten der Regierung und Untergebenen des Justizministeriums“, sagte Sophie Richardson, stellvertretende Direktorin der Asien-Abteilung von Human Rights Watch. „Wenn es Kritikern aussichtslos erscheint, vor Gericht zu ziehen, könnte dies gesellschaftlichen Unruhen Vorschub leisten.“

Der 71-seitige Bericht „‘A Great Danger for Lawyers:’ New Curbs on Lawyers Representing Protesters” setzt sich mit den von der Regierung im März 2006 herausgegebenen „Leitlinien für Anwälte in Sammelprozessen“ auseinander und untersucht, wie diese in den Provinzen umgesetzt wurden. In dem Bericht wird beschrieben, wie diese Leitlinien es den Behörden ermöglichen, in Verfahren mit mehr als zehn Klägern einzugreifen, und dadurch faire Verhandlungen der Fälle erschweren. Human Rights Watch erklärte, die neuen Bestimmungen hielten Anwälte davon ab, sich an inländische und internationale Medien zu wenden. Anwälte müssen sich die Erlaubnis ihrer Firma einholen, bevor sie derartige Fälle übernehmen, und sie werden zudem haftbar gemacht, sollten die Auseinandersetzungen „intensiver werden“.

In den vergangenen Jahren ist die Zahl sozialer Unruhen in China sprunghaft angestiegen. Die Ursachen dafür sind wachsende soziale Ungleichheit und systematische Rechtsverletzungen durch Beamte, die niemandem Rechenschaft schuldig sind. Hinzu kommen erhebliche Schwierigkeiten beim Zugang zu Rechtsmitteln. Rechtswidrige Enteignungen, Zwangsräumungen, Zwangsumsiedlungen im Rahmen von Staudammprojekten, Umweltverschmutzung, nicht ausgezahlte Sozialleistungen und Dienstvergehen in der Verwaltung sind zu brennenden sozialen Problemen geworden. Gemäß offiziellen Statistiken finden jeden Tag durchschnittlich 200 Protestveranstaltungen statt – viermal so viele wie noch vor zehn Jahren.

Human Rights Watch erklärte, dass die Unabhängigkeit der Juristen entscheidend dafür ist, ob und wie Bürger ihre Grundrechte – wie Rede-, Versammlungs- und Koalitionsfreiheit - geltend machen können. Wenn Anwälte behindert werden, für Bürger Prozesse zu führen, so entspricht dies einer Einschränkung der bürgerlichen Grundrechte.

„Anwälte sind der Rechtsstaatlichkeit sowie ihren Klienten verpflichtet“, so Richardson. „Die chinesische Regierung sollte es Anwälten ermöglichen, dass sie ohne Eingriffe von außen arbeiten können, besonders in Fällen von Amtmissbrauch. Andernfalls wird die Lage alles andere als stabil sein.“

Chinesische Behörden rechtfertigen die neuerlichen Einschränkungen damit, dass sie zur Sicherung des sozialen Friedens und zum Schutz von Anwälten in Sammelprozessen beitragen. Doch chinesischen Anwälten zufolge werden die neuen Regelungen dazu führen, dass sich die Provinzregierungen häufiger in Verfahren einmischen und dass Regierungsbeamte praktisch immun gegen gerichtliche Anklagen werden. Viele chinesische Juristen betrachten die Leitlinien als Versuch, ihre hart erkämpfte Unabhängigkeit in tagtäglichen Rechtsgeschäften wieder einzuschränken.

Dem Bericht zufolge sind die Leitlinien Teil des Vorgehens gegen die noch junge „Rechtsschutz“-Bewegung (weiquan). Diese informelle Gruppe von Anwälten, Rechtswissenschaftlern und Aktivisten tritt in Prozessen für chinesische Bürger ein, deren verfassungsmäßigen Rechte von rücksichtslosen Beamten verletzt wurden, die sich niemandem verantwortlich fühlen. Viele der Rechtsverteidiger sind selbst schon Opfer von Menschenrechtsverletzungen durch rachsüchtige Regierungsbeamte geworden, deren Handeln meist ungeahndet bleibt.

Selbst von der Regierung vorsichtig unterstützte Gesetzesinitiativen wie die Vertretung öffentlicher Interessen in Verbraucherrechtsfragen und in Prozessen zu Antidiskriminierung können unter den neuen Regelungen in Gefahr geraten.

„Das Ziel der Leitlinien war vielleicht nur, die Rechtsschutz Bewegung zu schädigen“ , so Richardson. „Doch stattdessen setzen sie alle Anwälte der Gefahr willkürlicher Eingriffe durch Regierungsbeamte aus und nehmen ihnen einen Großteil ihrer erst in den letzten Jahren erlangten, hart erkämpften Unabhängigkeit.“

Obwohl sich die Situation der Anwälte und ihrer Klienten seit der Einführung des „Anwaltsgesetzes“ 1996 insgesamt verbessert hat, bleibt der Fortschritt überwiegend marginal und ist der Gefahr ausgesetzt, wieder rückgängig gemacht zu werden. Die strengen Regeln verlangen von den Anwälten, dass sie ihre Lizenzen jährlich erneuern. Sie beschränken die Unabhängigkeit von Anwaltskammern und gewährleisten der Polizei, der Staatsanwaltschaft und den Gerichten in Prozessen eine dominierende Rolle gegenüber den Anwälten.

Human Rights Watch forderte die chinesische Regierung auf, die Leitlinien und ihre regionalen Implementierung zu widerrufen und chinesischen Anwälten völlige Unabhängigkeit zu gewähren. Human Rights Watch appellierte auch an die internationale Gemeinschaft, die Arbeit chinesischer Bürgerrechtler zu unterstützen und Druck auf die chinesische Regierung auszuüben, damit sie die Unabhängigkeit der Justiz sicherstellt.

„Die Verabschiedung der Leitlinien ist ein ernster Rückschlag, was den Zugang zu rechtsstaatlichen Verfahren in China betrifft - eine Schlüsselfrage für die Entwicklung Chinas in den nächsten Jahren“, so Richardson. „Die internationale Gemeinschaft sollte diese Sorgen bei der chinesischen Führung ansprechen und sich öffentlich für den Schutz von Anwälten und Bürgerrechtlern aussprechen.“

Zitate aus dem Bericht:

„In Fällen, welche die Politik berühren, [...] sind die Anwälte verpflichtet, sich an die politische Disziplin und die Propagandarichtlinien zu halten.“
- Bestimmungen zur „Verstärkung der Überwachung und Führung von Anwälten in bedeutenden und sensiblen Verfahren sowie in Sammelprozessen“, Henan, 18. März, 2006.

„Anwälte, die mit Sammelprozessen betraut sind, sollten die Beobachtung und Anweisungen der Justizverwaltung akzeptieren.“
- Leitlinien für die chinesische Vereinigung von Anwälten in Sammelprozessen.

„Diese Leitlinien sind eine klare Botschaft an die Anwälte: Übernehmen Sie keine Sammelprozesse.“ – Eintrag in einem Internetforum des chinesischen Anwaltsverbands.

„Von den zu Grunde liegenden Prinzipien bis hin zum Detail ist an diesen Leitlinien alles falsch.“ – Zhang Sizhi, ehemaliger Vizepräsident des Pekinger Anwaltsvereins.

„Als man 3 000 Wohnungen räumen ließ, [...] um Platz für das Olympische Dorf zu schaffen, reichte niemand Beschwerde ein. [...] Dies ist ein Beispiel dafür, wie Anwälte erfolgreich zur Beilegung eines Sammelprozesses beitragen konnten.“ – Chinesische Tageszeitung „Peoples’s Daily“ vom 20. Juni 2006.

„Die Leitlinien sind bei der Bevölkerung auf große Ablehnung gestoßen. [...] Sie sind ein Rückschritt für die Anwälte und ein Unheil für alle Juristen.“ – Eintrag in einem Internetforum des chinesischen Anwaltsverbands.

„Vor zwei Tagen fand in der Kanzlei, für die ich arbeite, eine Besprechung statt, in der uns die Grundgedanken [der Leitlinien] vermittelt werden sollten. [Den Leitlinien] zufolge dürfen Anwälte nur über Gesetze sprechen. Es ist ihnen verboten, Bürgerinitiativen, Störungen der öffentlichen Ordnung wie Sitzblockaden zu organisieren oder mit ihren Fällen an die Presse zu gehen. All das ist nicht erlaubt, [...] andernfalls können sie einpacken.“ – Eintrag in einem Internetforum des chinesischen Anwaltsverbands.

„Ohne vorherige Genehmigung durch die zuständigen Behörden dürfen Anwälte ausländischen Medien keine Interviews geben.“ – „Provisorische Richtlinien für Anwälte in kritischen Verfahren und Massenprozessen“, Städtische Justizbehörde Shenzhen, 29. Juni 2006.

„Der Staat versucht, das Feuer zu löschen, indem er den Anwälte einen Maulkorb verpasst“ – Chinesischer Juraprofessor bei einer Diskussion in Peking.

„Falls ein Anwalt gegen die politische Disziplin oder die Propagandarichtlinien verstößt oder bei einem Sammelprozess Probleme verursacht, so ist er zu disziplinieren [...] und mit einem Berufsverbot zu bestrafen.“ – Leitlinien für Anwälte in Sammelprozessen.

„Anwälte dürfen die Medien nicht dazu benutzen, um Druck auf die Regierungsbehörden oder Justizorgane auszuüben.” – „Provisorische Richtlinien für Anwälte in kritischen Verfahren und Sammelprozessen“, Städtische Justizbehörde Shenzhen, 29. Juni 2006

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