(Kiew, 1. September 2022) – Russische und mit Russland verbündete Streitkräfte haben ukrainische Zivilist*innen, auch solche, die vor dem Krieg geflohen sind, in die Russische Föderation oder in die von Russland besetzten Gebiete in der Ukraine verschleppt, so Human Rights Watch in einem heute veröffentlichten Bericht.
Der 71-seitige Bericht mit dem Titel “‘We Had No Choice’: ‘Filtration’ and the Crime of Forcibly Transferring Ukrainian Civilians to Russia’” (dt. etwa: „Wir hatten keine Wahl: ‚Filtration‘ und das Verbrechen der zwangsweisen Überführung ukrainischer Zivilist*innen nach Russland“) dokumentiert die Verschleppung ukrainischer Zivilist*innen. Die Verschleppungen stellen einen schweren Verstoß gegen das Kriegsrecht und damit Kriegsverbrechen und potenzielle Verbrechen gegen die Menschlichkeit dar. Die Behörden in Russland sowie in von Russland besetzten Gebieten zwangen außerdem Tausende ukrainischer Bürger*innen, sich einem als „Filtration“ bezeichneten Sicherheitsscreening zu unterziehen, einer Strafmaßnahme, die die Rechte der Betroffenen verletzt.
„Es kann nicht sein, dass ukrainischen Zivilisten keine andere Wahl gelassen wird, als nach Russland zu gehen“, sagte Belkis Wille, Senior Researcherin im Krisen- und Konfliktteam von Human Rights Watch und Mitverfasserin des Berichts. „Und niemand sollte gezwungen sein, sich einem missbräuchlichen Screening zu unterziehen, um in Sicherheit zu gelangen.“
Human Rights Watch hat 54 Personen befragt, die nach Russland gebracht und einer Filtration unterzogen wurden, die Familienmitglieder oder Freund*innen hatten, die nach Russland verschleppt wurden, oder die Ukrainer*innen dabei unterstützt haben, Russland zu verlassen. Die meisten von ihnen waren aus der Region Mariupol geflohen, einige wurden aus der Region Charkiw verschleppt. Human Rights Watch befragte auch Dutzende von Zivilist*innen aus der Region Mariupol, die aus dem Kriegsgebiet in ukrainisch kontrolliertes Gebiet fliehen konnten, ohne einem Screening unterzogen zu werden.
Human Rights Watch wandte sich am 5. Juli 2022 mit einer Zusammenfassung seiner Erkenntnisse sowie mit Fragen an die russische Regierung, erhielt jedoch keine Antwort.
Behörden in Russland sowie in von Russland besetzten Gebieten hatten Transporte für Menschen organisiert, die aus der belagerten Hafenstadt Mariupol im Südosten flohen. Sie erklärten einigen Zivilist*innen, dass ihnen keine andere Wahl bliebe, als in den von Russland besetzten Gebieten zu bleiben oder nach Russland zu gehen, und dass sie sich die Idee, in die von der Ukraine kontrollierten Gebiete zu gehen, „aus dem Kopf schlagen“ sollten. „Natürlich hätten wir die Gelegenheit genutzt, in die Ukraine zu gehen, wenn wir gekonnt hätten“, sagte eine aus Mariupol verschleppte Frau. „Aber wir hatten keine Wahl, keine Möglichkeit, dorthin zu gehen.“
Andere berichteten, dass das Militär oder anderes Personal an den Kontrollpunkten fliehende Ukrainer*innen anwies, nach Russland oder in die „Donezker Volksrepublik“ („DNR“) zu gehen, ein Gebiet in der Region Donezk, das von mit Russland verbündeten bewaffneten Gruppen kontrolliert wird und von Russland besetzt ist. Militärs, die Zivilist*innen in den besetzten Gebieten zusammengetrieben haben, sagten ihnen dasselbe. Menschen mit den erforderlichen finanziellen Mitteln schafften es hingegen, einen eigenen Transport in die von der Ukraine kontrollierten Gebiete zu organisieren.
Auch Bewohner*innen einiger Dörfer und einer Stadt in der östlichen Region Charkiw, die an Russland grenzt, wurden nach Russland verschleppt. Ein 70-jähriger Mann aus dem Dorf Ruska Lozova sagte, die russischen Streitkräfte hätten ihm gesagt: „Du hast unter uns gelebt, und wenn die ukrainische Armee kommt, werden sie dich bestrafen.“ Sie fügten hinzu: „Du wirst hingerichtet.“ Er habe sich davon zwar nicht beirren lassen, Hunderte von Familien aus dem Dorf seien jedoch nach Russland gegangen.
Einige sagten, sie seien freiwillig nach Russland gegangen, meist als Zwischenstation, um in die Europäische Union zu gelangen, auch um Reisebeschränkungen zu umgehen.
Obgleich unklar sei, wie viele ukrainische Zivilist*innen insgesamt nach Russland gebracht wurden, bleibe jedoch der Fakt, dass viele von ihnen auf eine Art und Weise verschleppt und transportiert wurden, sodass man von illegalen zwangsweisen Überführungen sprechen könne, so Human Rights Watch. Mitte August berichteten russische Medien, dass über 3,4 Millionen Ukrainer*innen aus der Ukraine in die Russische Föderation eingereist sind, darunter 555.000 Kinder.
Einige derjenigen, die Zugang zu Smartphones und sozialen Netzwerken hatten, konnten mit Aktivist*innen in Kontakt treten, die ihnen halfen, Russland in Richtung Estland, Lettland oder Georgien zu verlassen. An der Grenze hatten einige jedoch Schwierigkeiten, weil sie ihre Ausweispapiere bei ihrer Flucht aus der Ukraine zurückgelassen hatten.
Das Kriegsrecht verbietet es russischen oder mit Russland verbündeten Kräften, ukrainische Zivilist*innen einzeln oder in Massen zur Evakuierung nach Russland zu zwingen. Die zwangsweise Überführung ist ein Kriegsverbrechen und ein potenzielles Verbrechen gegen die Menschlichkeit und schließt Fälle ein, in denen eine Person nur deshalb in die Überführung einwilligt, weil sie Konsequenzen wie Gewalt, Nötigung oder Inhaftierung befürchtet, wenn sie bleibt, und die Besatzungsmacht bestehende Zwangsmaßnahmen für die Überführung nutzt. Die Verbringung oder Vertreibung von Zivilpersonen ist aus humanitären Gründen weder gerechtfertigt noch rechtmäßig, wenn die humanitäre Krise, die Ursache der Vertreibung ist, auf rechtswidrige Aktivitäten der Besatzungsmacht zurückzuführen ist.
Bei der „Filtration“, der sich Tausende von Einwohner*innen der Region Mariupol auf der Flucht unterziehen mussten, erfassten Behörden in Russland sowie in von Russland besetzten Gebieten in der Regel die biometrischen Daten der Zivilist*innen, einschließlich Fingerabdrücke sowie Frontal- und Halbprofilaufnahmen des Gesichts, führten Leibesvisitationen durch, durchsuchten persönliche Gegenstände und Telefone und befragten sie zu ihren politischen Ansichten.
Ein Mann aus Mariupol berichtete, dass er und Dutzende Einwohner*innen von Mariupol zwei Wochen lang in einem verschmutzten Schulgebäude des Dorfes untergebracht waren, bevor sie zur Filtration gebracht wurden. Er sagte, viele seien krank geworden und hätten Angst gehabt vor dem, was sie erwartete. „Wir fühlten uns wie Geiseln“, sagte er.
Russland mag zwar legitime Gründe für die Durchführung von Sicherheitsüberprüfungen bei Personen haben, die freiwillig in russisches Hoheitsgebiet einreisen wollen, doch das Filtrationsverfahren ist in seinem Umfang und durch die systematische Art und Weise, in der ukrainische Zivilist*innen gezwungen wurden, sich ihm zu unterziehen, missbräuchlich und besitzt einen strafenden Charakter, hat keine rechtliche Grundlage und verletzt das Recht auf Privatsphäre, so Human Rights Watch.
Personen, die das Verfahren aufgrund mutmaßlicher Verbindungen zum ukrainischen Militär oder zu nationalistischen Gruppen „nicht bestanden“ haben, wurden in den von Russland kontrollierten Regionen inhaftiert, unter anderem im Gefängnis in Olenivka, wo Berichten zufolge mindestens 50 ukrainische Häftlinge bei einer Explosion am 29. Juli getötet wurden.
Russische und mit Russland verbündete Streitkräfte sollten in den von ihnen besetzten Gebieten dafür sorgen, dass Zivilist*innen auf Wunsch sicher in die von der Ukraine kontrollierten Gebiete zurückkehren können, so Human Rights Watch. Sie sollten sicherstellen, dass Menschen, die in die Busse einsteigen, umfassend darüber informiert werden, wohin die Busse fahren, und dass sie andere Optionen haben, wenn sie nicht nach Russland reisen wollen. Sie sollten ukrainische Bürger*innen nicht länger zwingen, nach Russland zu gehen, und denjenigen, die dies wünschen, die Rückkehr in die Ukraine erleichtern.
Die russischen Behörden sollten außerdem alle laufenden Verfahren zur Erfassung und Speicherung biometrischer Daten von Personen in der oder aus der Ukraine einstellen. Sie sollten biometrische Daten nur dann erheben, wenn dies rechtmäßig, verhältnismäßig und notwendig ist, und die Menschen darüber informieren, warum ihre Daten erhoben, wie sie verwendet und wie lange sie gespeichert werden.
„Die Praxis, Menschen ohne deren Zustimmung in die von Russland besetzten Gebiete und weiter nach Russland zu verbringen, sollte sofort eingestellt werden“, so Wille. „Russische Behörden und internationale Organisationen sollten alles in ihrer Macht Stehende tun, um denjenigen, die gegen ihren Willen nach Russland gebracht wurden und nach Hause zurückkehren wollen, die Möglichkeit zu geben, dies in Sicherheit zu tun.“