Am 2. März eilte Andriy Sidak zum Haus seiner Schwester und befürchtete das Schlimmste.
Kurz zuvor hatte eine russische Drohne das Gebäude im nördlichen Teil von Odessa angegriffen. Was er vorfand, waren Schutt und Asche, die Trümmer eines einst neunstöckigen Wohnhauses. Laut Zeugenaussagen traf die Drohne das Gebäude im sechsten Stock, wodurch die Betonplatten der oberen Stockwerke des Gebäudes auf die unteren Ebenen stürzten.
Sidak betrat was von der Wohnung noch übrig war, in der seine Schwester Anna Gaidarzhi mit ihrem Mann Serhii und zwei Kindern, dem vier Monate alten Sohn Tymofii und der dreijährigen Tochter Lizzi, lebte.
"Das Wohnzimmer ..., wo sie ein Klavier und ein Sofa hatten, war weg. Eine riesige Betonplatte versperrte die Tür zum Schlafzimmer, in dem Anna und Tymofii schliefen", sagt Sidak. "Ihre Leichen wurden schließlich ... im Keller gefunden. Sie starben im Schlaf, erdrückt von den Trümmern."
Serhii und Lizzi haben überlebt.
Insgesamt wurden bei dem Angriff 12 Menschen getötet, darunter fünf Kinder, das jüngste von ihnen Tymofii Gaidarzhi. Die Menschenrechtsbeobachtungsmission der Vereinten Nationen in der Ukraine nannte es "den tödlichsten Vorfall für Kinder seit mehr als neun Monaten".
Mykhailo Voitov, der im siebten Stock wohnte, wurde bei dem Einsturz ebenfalls getötet. Seine Frau Angelina war 2022 mit ihrer 11-jährigen Tochter nach Deutschland geflohen, da sie unter den Auswirkungen des Krieges litt. Das Paar war seit 33 Jahren verheiratet und war vor Kriegsbeginn nie länger als einen Tag getrennt gewesen.
"Unsere Tochter war sehr verängstigt", sagte Angelina nach der Beerdigung ihres Mannes. "Sie fing gerade erst an, sich zu stabilisieren. Ich weiß nicht, wie sich der Tod ihres Vaters auf sie auswirken wird."
Die ukrainischen Behörden gaben an, dass die Verteidigungskräfte in der Nacht sieben Drohnen abgeschossen hätten, die von russischen Streitkräften über Odessa abgefeuert wurden. Eine Drohne traf ein Wohngebäude. Human Rights Watch konnte nicht ermitteln, ob die ukrainischen Streitkräfte versuchten, die Drohne abzufangen.
Im Zuge der Großinvasion Russlands wurden bereits zigtausende ukrainische Zivilist*innen getötet und verletzt. Nach Angaben der UN-Menschenrechtsbeobachtungsmission in der Ukraine sind die meisten Todesopfer auf den Einsatz von Explosivwaffen, wie Raketen, Drohnen und Artillerie, in Wohngebieten zurückzuführen. Der Einsatz solcher Waffen in dicht bewohnten Gebieten sollte wegen des erhöhten Risikos willkürlicher und oft verheerender Schäden für die Zivilbevölkerung und die Infrastruktur sowie langfristig für den Wiederaufbau nach einem Konflikt vermieden werden.