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Gaza: Israelische Angriffe verheerend für Kinder mit Behinderungen

Explosivwaffen und rechtswidrige Blockade verursachen immenses Trauma und Leid

Muhammad Haitham Hammad, ein 6-jähriger Junge mit Zerebralparese, und seine Mutter, Marwa Atef Khalil Hammad, 27, in einem Zelt, in das sie nach der Evakuierungsanordnung des israelischen Militärs für die Zivilbevölkerung aus dem Norden des Gazastreifens in den Süden am 5. September 2024 umgesiedelt wurden.  © 2024 Ahmad AL lulu for Human Rights Watch
  • Die Angriffe der israelischen Regierung sowie die rechtswidrige Blockade des Gazastreifens fügen Kindern mit Behinderungen schweres Leid zu. Explosivwaffen haben bei vielen weiteren zu dauerhaften Behinderungen geführt.
  • Die anhaltende Belagerung des Gazastreifens fügt Kindern mit Behinderungen, die sich ohnehin in einer prekären Situation befinden, unverhältnismäßig großen Schaden zu und birgt für sie ein besonderes Risiko, dauerhafte psychische Schäden davonzutragen.
  • Staaten sollten Waffenlieferungen aussetzen, solange israelische Streitkräfte ungestraft schwere Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht begehen, darunter die unrechtmäßige Blockade humanitärer Hilfe und Angriffe auf Krankenhäuser.

(Jerusalem) - Die Angriffe der israelischen Regierung und die rechtswidrige Blockade des Gazastreifens haben palästinensischen Kinder, insbesondere solche mit Behinderungen, schwer traumatisiert und ihnen immenses Leid zugefügt, so Human Rights Watch in einem heute veröffentlichten Bericht. Der massive Einsatz von Explosivwaffen durch das israelische Militär hat zu schweren Verletzungen geführt, die bei Kindern im Gazastreifen zu dauerhaften Behinderungen geführt und sie somit fürs Leben gezeichnet haben. 

Der 83-seitige Bericht „'They Destroyed What Was Inside Us': Children with Disabilities Amid Israel's Attacks on Gaza“ dokumentiert, dass Kinder, die Behinderung davongetragen haben, und jene, die bereits eine Behinderung hatten, im Gazastreifen mit einer prekären Sicherheitslage und weiteren Schwierigkeiten konfrontiert sind, da sie mit den häufigen Evakuierungsbefehlen der israelischen Armee und dem Fehlen eines wirksamen Warnsystems vor Angriffen zu kämpfen haben. Die anhaltende Belagerung des Gazastreifens, die rechtswidrige Blockade der humanitären Hilfe, der Einsatz von Hunger als Kriegswaffe sowie die Beschädigung und Zerstörung von Krankenhäusern treffen Kinder mit Behinderungen unverhältnismäßig hart, da sie nur schwer Zugang zu dringend benötigter medizinischer Behandlung und Versorgung, Hilfsmitteln wie Mobilitätshilfen, Lebensmitteln und Wasser erhalten. Sie sind zudem besonders gefährdet, bleibende psychische Schäden davonzutragen.

„Die rechtswidrigen Angriffe des israelischen Militärs und sein Verweigern von Hilfsgütern schaden den Palästinenser*innen im gesamten Gazastreifen und traumatisieren sie. Das Leben und die Sicherheit von Kindern mit Behinderungen sind hierdurch besonders bedroht“, sagte Emina Ćerimović, stellvertretende Direktorin für Behindertenrechte bei Human Rights Watch. „Staaten, die Israel militärisch unterstützen, sollten ihre Waffenlieferungen aussetzen, solange die israelischen Streitkräfte ungestraft schwere Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht begehen, darunter rechtswidrige Beschränkungen humanitärer Hilfen und Angriffe auf Krankenhäuser.“

Der Einsatz von Explosivwaffen durch das israelische Militär in dicht besiedelten Gebieten erhöht das Risiko rechtswidriger und willkürlicher Angriffe, so Human Rights Watch. Familienangehörige und medizinisches Fachpersonal berichten, dass israelische Angriffe, die ohne Vorwarnung Häuser, Schulen, Krankenhäuser und Einkaufszentren beschädigen, bei Kindern zum Tod, zu schweren Verletzungen und dauerhaften Behinderungen führen.

Für den Bericht sprach Human Rights Watch mit 20 Familienangehörigen von Kindern mit Behinderungen, einem Kind mit einer Behinderung und 13 Mitarbeitenden aus dem medizinischen und humanitären Bereich. Human Rights Watch prüfte die Krankenakten mehrerer Kinder mit Behinderungen sowie über 50 Videos und Fotos, welche die Folgen der in diesem Bericht dokumentierten Angriffe zeigen. 

Leila al-Kafarna, eine Mutter von drei Kindern, sagte, dass ein israelischer Evakuierungsbefehl ihre Familie von Beit Hanoun nach Deir al-Balah trieb. Dort wähnten sie sich in Sicherheit. Am 24. Oktober 2023 griff das israelische Militär jedoch das Einkaufszentrum auf dem Markt im Flüchtlingslager Nuseirat an. Hierbei wurde ihr 13-jähriger Sohn Malek schwer verletzt. Er verlor seinen linken Arm bei dem Angriff. Leila al-Kafarna sagte, es habe vorab keinerlei Warnung gegeben: 

„Die Rakete [Munition] schlug in den Supermarkt ein, und ich verlor das Bewusstsein. ... Ich wachte auf und hielt immer noch die Hand meines Sohnes, also begann ich zu rennen ... und dann fühlte ich, dass mein Sohn leicht war, als ob kein Gewicht an seinem Arm hing. Ich schaute mich um, aber mein Sohn war nirgendwo in meiner Nähe. Da sah ich, dass ich nur seinen Arm in der Hand hielt.“

Das Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen, UNICEF, hat berichtet, dass seit dem 7. Oktober 2023 Tausende von Kindern im Gazastreifen aufgrund von Verletzungen durch Explosivwaffen eine Behinderung davongetragen haben. Davor lebten dort bereits 98.000 Kinder mit Behinderungen. Einige dieser Kinder und ihre Familien schilderten die Schwierigkeiten, mit denen sie bei ihrer Flucht konfrontiert waren, insbesondere weil es keine Vorwarnungen oder Hilfsmittel gab und sie sich durch die Trümmer der schweren Zerstörungen kämpfen mussten. 

Ghazal, ein 15-jähriges Mädchen mit Zerebralparese, sagte, sie habe ihre Mobilitätshilfe bei einem Angriff auf ihr Haus in Gaza-Stadt am 11. Oktober verloren: „Ich war eine Last für sie [meine Familie], sie mussten sich ja schon um ihre Habseligkeiten kümmern. Ich konnte kein Transportmittel finden. Ich gab schließlich auf, setzte mich mitten auf der Straße auf den Boden und weinte. Ich sagte ihnen, dass sie ohne mich weitergehen sollten.“

Die Blockade des Gazastreifens durch die israelische Regierung, die Beschränkung der humanitären Hilfe, einschließlich der Lieferung von Medikamenten und medizinischen Hilfsgütern, sowie die strengen Auflagen für Personen, die den Gazastreifen für eine medizinische Behandlung verlassen dürfen, schaden Kindern, auch Kindern mit Behinderungen, massiv. Verletzte Kinder, die dringend eine sofortige medizinische Versorgung benötigten, mussten unverhältnismäßig lange Wartezeiten in Kauf nehmen und wurden ohne Betäubung operiert, was ihr Trauma noch verschlimmerte. Kinder, die fortlaufend medizinisch versorgt werden müssen, haben seit fast einem Jahr keinen steten Zugang mehr zu einer entsprechenden Versorgung. 

Kinder mit Behinderungen, die eine spezielle Ernährung benötigen, sind besonders gefährdet, unterernährt zu werden und zu verhungern. Von den Beschränkungen der Wasserversorgung und der Zerstörung der Wasser- und Sanitärinfrastruktur im Gazastreifen durch israelische Streitkräfte sind Kinder mit Behinderungen unverhältnismäßig stark betroffen. 

Erschwerend kommt hinzu, dass Kinder mit Behinderungen aufgrund von Gewalt und Verlusten, die sie erfahren oder miterlebt haben, psychische Schäden davontragen, etwa durch das Trauma des Verlusts ihrer Eltern. 

Im September 2024 berichtete das Gesundheitsministerium in Gaza, dass seit dem 7. Oktober mehr als 41.000 Palästinenser*innen, darunter mehr als 16.750 Kinder, getötet wurden.

Sowohl das humanitäre Völkerrecht als auch die internationalen Menschenrechtskonventionen sehen den besonderen Schutz von Menschen mit Behinderungen, einschließlich Kindern, im Rahmen bewaffneter Konflikte vor. Das UN-Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen, das Israel 2012 ratifiziert hat, verpflichtet die Vertragsstaaten, im Einklang mit dem humanitären Völkerrecht und den internationalen Menschenrechtsnormen „alle erforderlichen Maßnahmen“ zu ergreifen, um den Schutz und die Sicherheit von Menschen mit Behinderungen in bewaffneten Konflikten zu gewährleisten. Das Versäumnis des israelischen Militärs, anpassungsfähige Evakuierungsverfahren für Kinder mit Behinderungen bereitzustellen, verstößt gegen ihre Rechte aus diesem Übereinkommen und erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass sie verletzt oder sogar getötet werden.

Die Ergreifung „aller erforderlichen Maßnahmen“ zur Gewährleistung der Sicherheit und des Schutzes von Menschen mit Behinderungen während eines bewaffneten Konflikts würde auch den Zugang zu lebenswichtigen Dingen beinhalten, wie etwa Nahrung, sauberes Wasser, Medikamente, Gesundheitsversorgung und adäquate Hilfsmittel. Diese sind im Gazastreifen aufgrund der Blockade jedoch größtenteils nicht vorhanden.

Die Vereinigten Staaten, das Vereinigte Königreich, Kanada, Deutschland und weitere Mitgliedstaaten der Europäischen Union sowie andere israelische Verbündete sollten die israelischen Übergriffe, die palästinensischen Kindern besonders schaden, ausdrücklich verurteilen. Zu diesen Übergriffen gehören der Einsatz von Explosivwaffen in Wohngebieten, die Belagerung des Gazastreifens und die Beschränkungen humanitärer Hilfe sowie die rechtswidrigen Angriffe auf Krankenhäuser und medizinische Transporte. 

Diese Regierungen sollten gezielte Sanktionen und andere Maßnahmen ergreifen, um die israelische Regierung zur Einhaltung ihrer internationalen Verpflichtungen und insbesondere zur Berücksichtigung der Bedürfnisse palästinensischer Kinder mit Behinderungen zu drängen. Sie sollten zudem mit den palästinensischen und ägyptischen Behörden zusammenarbeiten, um Kinder mit Behinderungen zu identifizieren, die im Ausland medizinisch behandelt werden müssen, und ihre Evakuierung zur Behandlung zu erleichtern. 

Die Vereinigten Staaten, Deutschland und andere Länder, die Israel weiterhin mit Waffen und Militärhilfen versorgen, machen sich mitschuldig an Kriegsverbrechen und schweren Menschenrechtsverletzungen. 

„Die israelischen Behörden müssen sofortige Maßnahmen ergreifen, um die ungerechtfertigten Tötungen, Verletzungen und Qualen von Kindern, insbesondere von Kindern mit Behinderungen, zu beenden.“, sagte Ćerimović. „Regierungen sollten dringend Maßnahmen ergreifen, um die israelische Regierung dazu zu drängen, ihren rechtlichen Verpflichtungen nachzukommen, um weitere Gräueltaten zu verhindern und sicherzustellen, dass die Rechte von Kindern mit Behinderungen und allen anderen Menschen geachtet werden.“

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