(Kathmandu, 24. August 2011) – Behinderte Kinder haben in Nepal mit zahlreichen Barrieren zu kämpfen, um eine grundlegende Schulbildung zu erhalten, so Human Rights Watch in einem heute veröffentlichten Bericht. Die Schulen sind nicht behindertengerecht ausgestattet, Lehrkräfte nicht ausreichend geschult. Manchen behinderten Kindern wird in den Schulen in ihrer direkten Nachbarschaft sogar die Aufnahme verweigert.
Der 76-seitige Bericht „Futures Stolen: Barriers to Education for Children with Disabilities in Nepal“ dokumentiert die Hürden, die behinderte Kinder in Nepal nehmen müssen, um an einem hochwertigen Unterricht teilnehmen zu können. Manche werden zu Hause und in ihrer Gemeinschaft misshandelt oder vernachlässigt, wodurch ihre Zugangsmöglichkeiten zu Schulbildung noch schlechter sind. Entsprechend sind Kinder mit Behinderungen seltener im Unterricht anwesend und weisen eine höhere Abbrecherquote auf als ihre nichtbehinderten Mitschüler.
„In Nepal werden Zehntausende Kinder mit Behinderung vom Schulsystem vernachlässigt oder ausgeschlossen“, so Shantha Rau Barriga, Expertin für Behindertenrechte bei Human Rights Watch. „Das nepalesische Bildungssystem muss einen geeigneten und hochwertigen Unterricht für alle Kindern anbieten, auf für Kinder mit Behinderung.“
Der Bericht von Human Rights Watch beruht auf Interviews mit rund hundert Behindertenrechtlern, Lehrern, Regierungsbeamten sowie mit behinderten Kindern und Jugendlichen und ihren Familien.
Der 16-jährige Amman ist eines der Kinder, die von Human Rights Watch befragt wurden. Er lebt ganz im Westen von Nepal. Da der Zugang zur Schule nur über zwei steile Stufen, aber keine Rampe möglich ist, muss Amman die Stufen hinaufkriechen, um zu seinem Klassenzimmer zu kommen. Er kann ohne fremde Hilfe nicht zur Toilette gehen und erhält vom Schulpersonal keine Unterstützung. Er muss also entweder warten, bis er wieder zu Hause ist, oder ein anderes Kind muss seine Mutter zur Hilfe holen. Die Mitschüler scheuen sich davor, neben ihm zu sitzen, weshalb er allein in einer Ecke sitzt.
Das nepalesische Bildungsministerium räumt ein, dass es sich bei einem Großteil der mehr als 329.000 Kinder im Grundschulalter, die nicht zur Schule gehen, um Kinder mit Behinderung handelt. Die Regierung fördert zwar eine inklusive Bildungspolitik, die die Gemeinden verpflichtet, alle Kinder ohne Diskriminierung am Unterricht teilhaben zu lassen. Dennoch erhalten viele behinderte Kinder nicht die Unterstützung, die sie benötigen, um eine Gemeinschaftsschule besuchen zu können. Darüber hinaus sind viele Schulen nicht darauf vorbereitet, Kinder mit Behinderungen zu unterrichten.
Studien haben gezeigt, dass ein inklusiver Bildungsansatz den Lernerfolgen aller Schüler zugute kommen und den negativen Stereotypen über Menschen mit Behinderungen entgegenwirken kann. Dennoch setzt die Regierung in Nepal auf gesonderte Klassen für behinderte Kinder und getrennte Schulen für Kinder mit körperlichen, sensorischen oder Lernbehinderungen.
In vielen Fällen sind behinderte Kinder gänzlich von den Schulen abgelehnt worden. Mehr als die Hälfte der von Human Rights Watch befragten Familien mit behinderten Kindern berichteten, dass ihren Kindern die Aufnahme sowohl an staatlichen als auch privaten Schulen verweigert wurde. Dabei wussten viele Eltern nicht, dass die Kinder ein Recht auf den Besuch einer Schule haben.
Internationale Geber und UN-Organisationen wissen, dass es zu wenig gezielte Bemühungen gibt, um sicherzustellen, dass Kinder mit Behinderungen die Schule besuchen. Dennoch haben sie nicht wirklich dafür gesorgt, dass die für Bildung zur Verfügung gestellten Gelder gerecht und ohne Diskriminierung verteilt werden und behinderten Kindern gleichermaßen zugute kommen.
„Da die Gelder in das Programm Bildung für alle fließen, müssen Regierung, Vereinte Nationen und internationale Geber dafür sorgen, dass Kinder mit Behinderung nicht ausgeschlossen werden“, so Barriga. „Die Regierung und ihre Partner brauchen einen konkreten Plan zur Integration von behinderten Kindern in die Regelschulen – insbesondere von Kindern mit Lern- oder Entwicklungsbehinderungen.“
Unterschiede in der Lernfähigkeit werden in den Lehrplänen nepalesischer Schulen nicht berücksichtigt, weshalb Kinder mit Behinderung, die eine Regelschule besuchen, wiederholt das Klassenziel nicht erreichen und eine Klasse wiederholen müssen. Ein 15 Jahre alter Junge mit psychosozialen Störungen sagte gegenüber Human Rights Watch: „Ich war drei Jahre in der ersten, dann drei Jahre in der zweiten und schließlich ein Jahr in der dritten Klasse. Das Alphabet kann ich aber nicht. Der Lehrer hat meine Prüfungen geschrieben, deshalb habe ich bestanden.“
Einige Eltern sagten, dass sie aufgrund mangelnder Bildungsmöglichkeiten für ihre behinderten Kinder, fehlender Informationen zu Alternativen und der Weigerung von Schulen, die Kinder aufzunehmen, diese notgedrungen zu Hause einsperren oder irgendwo festbinden müssen.
Die Mutter eines kleinen Jungen mit einer Entwicklungsbehinderung sagte gegenüber Human Righst Watch: „Ich bringe ihm Essen und Tee. Wenn er seine Notdurft im Zimmer verrichtet, mache ich sauber. Ich muss mich um das Haus kümmern und kann ihn nicht die ganze Zeit umsorgen. Wenn ich den ganzen Tag mit ihm verbringe, verpasst mein anderes Kind den Bus und überall herrscht Unordnung.“ Sie lässt ihren Sohn ein- bis zweimal am Tag nach draußen an die Sonne.
Die nepalesische Regierung soll die Materialien zur Aus- und Fortbildung von Lehrkräften überarbeiten und alle Lehrkräfte in den Methoden der inklusiven Bildung schulen. Außerdem soll sie dafür sorgen, dass die Einhaltung und Umsetzung eines erfolgreichen Zugangs zu Schulbildung für Kinder mit Behinderungen besser überwacht wird. Die Regierung muss gemeinsam mit den Geberländern Aufklärungskampagnen für das Recht auf Schulbildung sowie andere Rechte von Menschen mit Behinderungen entwickeln. Das Parlament soll in Abstimmung mit Behindertenverbänden die Gesetzgebung umfassend überprüfen und Änderungen einbringen, um der UN-Behindertenrechtskonvention in vollem Umfang zu entsprechen.
Es wird zwar noch eine Weile dauern, bis es ein inklusives Schulsystem für alle Kinder geben wird, aber die Regierung muss Schritte in diese Richtung unternehmen, so Human Rights Watch.
Die Regierung soll beispielsweise neu über Sinn und Zweck der Förderklassen nachdenken. Diese sind zwar als Übergang zu den Regelschulen gedacht, lassen aber tatsächlich die Segregation fortbestehen. Die Kinder, die diese Förderklassen besuchen, sind in einem Alter von sechs bis siebzehn Jahren, einige sind sogar älter als zwanzig Jahre. Nicht selten verbringen die Kinder viele Jahre in den Förderklassen.
„Nepal muss seiner Verpflichtung nachkommen und das Recht aller Kinder mit Behinderung auf eine Schulbildung in einer sicheren, barrierefreien und nichtdiskriminierenden Lernumgebung respektieren“, so Barriga. „Kinder mit Behinderung dürfen nicht den Anschluss verpassen, eingesperrt oder von der Schule und von der Bildung ausgeschlossen werden.“