Wann ist eine Familie keine Familie mehr? Laut dem spanischen Verfassungsgericht, sobald sie keine Kinder hat. Ein neues Urteil des Gerichtes besagt, dass kinderlosen Familien kein Anspruch auf Schutz vor Zwangsräumungen als „familiäre Einheit“ zusteht.
Der Beschluss des spanischen Verfassungsgerichts vom Juni hat erneut Aufmerksamkeit auf die Folgen der schmerzlichen Immobilienkrise im Land gelenkt. Wie im kürzlich veröffentlichten Human Rights Watch Bericht „Shattered Dreams“ dargelegt, treffen die Auswirkungen der Krise vor allem schutzbedürftige Gruppen, wie beispielsweise Frauen, Immigranten und Kinder, die sich Zwangsräumung, Überschuldung und sozialer Ausgrenzung gegenüber gestellt sehen.
Angesichts des großen Wiederstandes in der Bevölkerung sowie der Kritik des Europäischen Gerichtshofes führte die spanische Regierung im Mai 2013 ein Gesetz ein, welches den Schutz vor Zwangsräumung für bestimmte Gruppen leicht ausweitete. Aber das Gesetz lies bestimmte Kriterien unverändert, die unbegründet einige Familien von den Schutzansprüchen ausschließen. So steht eine Familie mit zwei Elternteilen und einem Kind unter drei Jahren beispielsweise unter Schutz, eine Familie mit einem vierjährigen Kind jedoch nicht.
Der Beschluss des Verfassungsgerichtes vom 4. Juni beschränkte den Schutz sogar noch weiter indem er Familien ohne Kinder gänzlich ausschloss. Der Fall wurde im September 2013 von einem arbeitslosen Mann mit einer Behinderung und seiner ebenfalls arbeitslosen Frau aus Madrid vorgebracht, die eine Befreiung von ihrer Zwangsräumung aufgrund ihrer schwierigen Umstände beantragten. Sie hatten guten Grund zu glauben, dass ihnen Schutz zustehe: das Gesetz von 2013 bezieht sich auf besonders schutzbedürftige Schuldner, einschließlich Arbeitslosen und Behinderten. Obwohl das Paar diese sowie eine Liste anderer Kriterien erfüllte, wurde sein Antrag abgelehnt da sie keine Kinder haben. Laut Urteil des Gerichtes in Madrid kann ein Paar ohne Kinder nicht als „familiäre Einheit“ im Sinne des Schuldnerschutzgesetzes verstanden werden.
Das Paar ging in Berufung und argumentierte, dass die gesetzliche Vorlage eine „familiäre Einheit“ nicht notwenigerweise einschließlich Kindern definiere und dass eine Interpretation in dieser Weise unnötig gegen Paare diskriminiere, die keine Kinder haben können oder wollen. Am 4. Juni bestätigte das Verfassungsgericht jedoch die vorherige Entscheidung mit der Begründung, das Schuldnerschutzgesetz solle nur auf Situationen konkreter Notwendikeit zutreffen und dass das Vorhandensein von zwei Eltern und Kindern ein unerlässliches Element einer „familiären Einheit“ nach dem Gesetz sei.
Zwei der Richter widersprachen und wiesen darauf hin, dass diese Definition von Familie zu teils „absurden“ Schlussfolgerungen führen könnte. In dieser Weise ausgelegt, würde das Gesetz beispielsweise Witwen oder Witwer mit großen Familien oder Paare mit Behinderungen, die keine Kinder haben, auschließen. Diese zusätzlichen Einschränkungen des sowieso schon recht eng gefassten Gesetzes machen es zunehmend schwieriger zu verstehen, wie es den Teilen der spanischen Gesellschaft helfen soll, die es am meisten benötigen.
Human Rights Watch und viele andere Gruppen haben Spanien seit einigen Jahren aufgerufen, die Kriterien für den Schutz vor Zwangsräumung zu erweitern. Die spanischen Autoritäten sollen sich jetzt mehr denn je für den Schutz der bedürftigsten Gruppen in der Gesellschaft vor dem Verlust ihres Heims einsetzen.