(Washington, DC) – Südamerikanische und europäische Regierungen sollen gezielte Sanktionen gegen führende nicaraguanische Amtsträger verhängen, die in schwere Menschenrechtsverletzungen verwickelt sind, und Wege ausloten, wie sie zur Verantwortung gezogen werden können, so Human Rights Watch in einem kürzlich veröffentlichten Bericht.
Der 104-seitige Bericht „Crackdown in Nicaragua: Torture, Ill-Treatment, and Prosecutions of Protesters and Opponents“ dokumentiert, was vielen der Hunderten Menschen geschehen ist, die im Zuge der im April 2018 eingeleiteten Offensive gegen Demonstranten von der Nationalpolizei verhaftet oder von bewaffneten, mit der Regierung verbündeten Gruppen verschleppt wurden. Viele wurden so schwer misshandelt, dass von Folter gesprochen werden muss. Einigen Verletzten wurde medizinische Behandlung in öffentlichen Krankenhäusern verwehrt. Ärzte, die sie behandelten, berichten, dass sie mit Vergeltungsakten bestraft wurden. Verfahren, die gegen Gefangene angestrengt wurden, verstoßen deutlich gegen Grundsätze für faire Prozesse.
„Daniel Ortega setzt sich nicht wirklich dafür ein, dass den Opfern des brutalen Angriffs von Polizei und bewaffneten Schlägern während der Demonstrationen im Jahr 2018 Gerechtigkeit widerfährt“, so José Miguel Vivanco, Leiter der Abteilung Südamerika bei Human Rights Watch. „Vor kurzem wurden Dutzende Personen entlassen, die im Zusammenhang mit den Protesten verhaftet worden waren, wobei viele weiterhin unter Hausarrest stehen und strafrechtlich gegen sie vorgegangen wird. Aber nichts darf davon ablenken, dass gegen keinen einzigen Polizisten wegen der Prügel, Vergewaltigungen, Nagelentfernungen, Erstickungen und anderen Gräueltaten ermittelt wird.“
Der Bericht basiert auf Untersuchungen in Nicaragua und Costa Rica sowie auf einer Analyse offizieller Quellen, einschließlich Gerichtsakten und Stellungnahmen aus Regierungskreisen. Zudem wurden zusätzliche Belege wie Fotos, Videoaufnahmen und Krankenberichte herangezogen. Human Rights Watch befragte 75 Personen, darunter Opfer und ihre Angehörige, Zeugen, Strafverteidiger, Ärzte und Angehörige internationaler Organisationen. Einige Befragungen wurde telefonisch oder über Messenger-Dienste geführt, nachdem die Untersuchungsmission abgeschlossen war.
Der Bericht kommt zu dem Ergebnis, dass die Nationalpolizei und bewaffnete, mit der Regierung verbündete Gruppen Gefangene massiv misshandelt haben, in einigen Fällen so schwer, dass die Gewalt als Folter zu klassifizieren ist. Unter anderem wurden Gefangene während der Verhaftung und im Gefängnis verprügelt. Zum Teil wurde ihnen dringend erforderliche medizinische Behandlung verweigert. Zudem wurden Betroffene vergewaltigt, auch mit Metallstöcken und Schusswaffen. Sie wurden „Waterboarding“ unterzogen, erhielten Stromschläge, wurden mit Säure verletzt, vermeintlich hingerichtet, gewaltsam entkleidet und ihnen die Fingernägel entfernt. In einigen Fällen wurden Gefangene gezwungen, sie selbst belastende Geständnisse abzugeben.
Im April 2018 gingen unzählige Nicaraguaner auf die Straße, um gegen die Ortega-Regierung zu protestieren. Was sie erwartete, war Gewalt. Das brutale Vorgehen der Nationalpolizei und schwer bewaffneter, mit der Regierung verbündeter Gruppen kostete mehr als 300 Menschen das Leben, mehr als 2.000 wurden verletzt. Die Interamerikanische Kommission für Menschenrechte (IACHR) schätzt, dass seit Beginn der Demonstrationen knapp 800 Personen inhaftiert wurden.
Im März 2019 sagte die nicaraguanische Regierung zu, innerhalb von 90 Tagen alle Gefangenen zu entlassen, die im Zusammenhang mit Demonstrationen gegen die Regierung verhaftet wurden, und die Vorwürfe gegen sie fallen zu lassen. Dies geschah im Zuge von Bemühungen, die Gespräche mit der Opposition wieder aufzunehmen und die internationale Gemeinschaft dazu zu bewegen, ihre Sanktionen aufzuheben. Bis zum 10. Juni wurden 392 Personen entlassen, viele von ihnen allerdings in den Hausarrest, während die Ermittlungen gegen sie andauern. Andere profitierten von einem im Juni erlassenen Amnestiegesetz.
Am 6. Juni verabschiedete die nicaraguanische Nationalversammlung ein Amnestiegesetz für Verbrechen, die im Zusammenhang mit Protesten gegen die Regierung verübt wurden. Das Gesetz weist darauf hin, dass Verbrechen, „die in internationalen Verträgen geregelt werden, die Nicaragua unterschrieben hat“, von der Amnestie ausgenommen sind. Angesichts der nicht unabhängigen Gerichte besteht allerdings die große Gefahr, dass das Gesetz dazu genutzt wird, die Straflosigkeit der Amtsträger, die für schwere Menschenrechtsverletzungen verantwortlich sind, festzuschreiben.
Das Büro des UN-Hochkommissars für Menschenrechte (OHCHR) berichtet auf Grundlage der verfügbaren Informationen, dass nur ein einziges Urteil gegen einen Angehörigen einer bewaffneten Gruppe ergangen ist und keine einzige Ermittlung gegen in Menschenrechtsverletzungen verwickelte Sicherheitskräfte eingeleitet wurde. Human Rights Watch kann nicht bestätigen, dass der Mord, der zu diesem einen Urteil führte, im Zuge der Demonstrationen verübt wurde. Statt sie vor Gericht zu bringen, hat Präsident Ortega führende Amtsträger befördert, die für die Menschenrechtsverletzungen verantwortlich sind.
Zu den Regierungsangehörigen, die Verantwortung für die massiven Menschenrechtsverletzungen tragen und mit gezielten Sanktionen wie Reiseverboten und Vermögenseinfrierungen belegt werden sollen, zählen:
- Präsident Daniel Ortega, der oberster Chef der Nationalpolizei ist und weitreichende Befugnisse hat, etwa, der Polizei willkürliche Befehle zu erteilen und Polizeipräsidenten zu entlassen, wenn diese seinen Befehlen nicht Folge leisten;
- Die ehemalige Generälin Aminta Granera, Generaldirektorin der Nationalpolizei, bis sie im September 2018 von General Francisco Díaz abgelöst wurde;
- General Francisco Díaz, Generaldirektor der Nationalpolizei, bei dem anzunehmen ist, dass er zunächst als stellvertretender Generaldirektor und dann in seiner derzeitigen Position bedeutende Kontrolle über die Sicherheitskräfte ausübte;
- General Ramon Avellán, stellvertretender Generaldirektor der Nationalpolizei und ranghöchster Polizist in Masaya, wo die Polizei unter seiner Führung und gemeinsam mit bewaffneten Gruppen brutal gegen Demonstranten verging;
- General Jaime Vanegas, Generalinspekteur der Nationalpolizei, der unter nicaraguanischem Recht dafür verantwortlich ist, Vorwürfe gegen Polizisten zu untersuchen und die Verantwortlichen zu sanktionieren;
- General Luis Pérez Olivas, Leiter des El Chipote-Gefängnis’, einem der Gefängnisse, in denen Beamte Demonstranten in schwerster Weise misshandelten; und
- General Justo Pastor Urbina, Leiter der Abteilung für Sondereinsätze (DOEP), die eine „zentrale Rolle“ bei der Unterdrückung von Protesten im ganzen Land spielt, wie die Interdisziplinäre Gruppe unabhängiger Experten der IACHR berichtet.
Die Behörden haben viele der Gefangen schon vor der Offensive ab April 2018 wegen angeblicher Gewaltverbrechen verfolgt, weil sie an Protesten gegen die Regierung teilgenommen haben oder sozialen Bewegungen angehören, die diese kritisieren. Diese Strafverfahren verletzen massiv das Recht auf faire Verfahren oder andere Grundrechte, unter anderem, wenn die Betroffenen in Geheimhaft gehalten wurden oder die Prozesse hinter verschlossenen Türen stattfanden.
Zudem hat die nicaraguanische Regierung die Büros unabhängiger Medien durchsucht, Anklage gegen zwei Journalisten erhoben, neun Nichtregierungsorganisationen ihre Registrierung entzogen und ausländische Journalisten und internationale Menschenrechtsbeobachter des Landes verwiesen.
Die von Human Rights Watch dokumentieren Fälle fügen sich ein in ein größeres Muster systematischer Menschenrechtsverletzungen gegen Demonstranten und Oppositionelle, von dem die IACHR und das OHCHR berichten. Etwa 62.000 Nicaraguaner sind seit April 2018 aus dem Land geflohen, so das UN-Hochkommissariat für Flüchtlinge (UNHCR).
„Der einzige Weg, um die weit verbreiteten Menschenrechtsverletzungen einzudämmen, Nicaraguaner zu ermöglichen, aus dem Exil zurückzukehren und die gerichtliche Unabhängigkeit wiederherzustellen, führt über anhaltenden internationalen Druck, auch durch gezielte Sanktionen und verstärktes Drängen darauf, die Verantwortlichen vor Gericht zu bringen“, so Vivanco.