(Jerusalem, 17. April 2024) – Das israelische Militär war entweder direkt an Gewalttaten von Siedler*innen gegen Palästinenser*innen im Westjordanland beteiligt oder hat diese zumindest nicht verhindert. Dabei wurden Menschen aus 20 Gemeinden vertrieben. Seit dem 7. Oktober 2023 wurden mindestens 7 Gemeinden komplett vertrieben, so Human Rights Watch heute.
Im Schatten der anhaltenden Kämpfe in Gaza haben israelische Siedler*innen Palästinenser*innen angegriffen, gefoltert, sexuelle Gewalt gegen sie ausgeübt, ihr Eigentum und Vieh gestohlen, sie mit dem Tod bedroht, sollten sie nicht dauerhaft weggehen, und ihre Häuser und Schulen zerstört. Unzählige Menschen, zum Teil ganze Gemeinden, sind aus ihren Häusern und von ihrem Land geflohen. Das Militär hat den Vertriebenen weder Schutz zugesichert noch die Möglichkeit zur Rückkehr in Aussicht gestellt. So sind sie gezwungen, anderswo unter prekären Bedingungen zu leben.
„Siedler und Soldaten haben mit mutmaßlicher Unterstützung höherer israelischer Stellen ganze palästinensische Gemeinden vertrieben und jedes Haus zerstört“, sagte Bill Van Esveld, stellvertretender Direktor für Kinderrechte bei Human Rights Watch. „Während sich die Aufmerksamkeit der Welt auf den Gazastreifen richtet, nehmen die Übergriffe im Westjordanland rasant zu. Möglich ist dies unter anderem durch jahrzehntelange Straffreiheit und das Wegschauen der israelischen Verbündeten.“
Human Rights Watch hat die Angriffe untersucht, durch die im Oktober und November 2023 alle Bewohner*innen von Khirbet Zanuta und Khirbet al-Ratheem südlich von Hebron, al-Qanub östlich von Hebron sowie Ein al-Rashash und Wadi al-Seeq östlich von Ramallah vertrieben wurden. Die Untersuchungen zeigen, dass bewaffnete Siedler*innen unter aktiver Beteiligung von Armeeeinheiten wiederholt Straßen blockiert und palästinensische Gemeinden überfallen, Bewohner*innen festgenommen, angegriffen, gefoltert und sie mit vorgehaltener Waffe gezwungen haben, ihre Häuser und ihr Land zu verlassen, ohne ihr Hab und Gut mitnehmen zu können.
Human Rights Watch sprach mit 27 Zeug*innen der Angriffe und untersuchte Videos von Anwohner*innen, die Männer in israelischen Militäruniformen mit M16-Sturmgewehren dabei zeigen, wie sie andere Personen schikanieren. Bis zum 16. April haben die israelischen Streitkräfte nicht auf die Fragen geantwortet, die Human Rights Watch am 7. April per E-Mail geschickt hatte.
Die Zahl der Angriffe von Siedler*innen auf Palästinenser*innen hat im Jahr 2023 einen Höchststand erreicht, seit die UN 2006 mit der Aufzeichnung dieser Daten begonnen haben – und das bereits vor den von der Hamas angeführten Angriffen am 7. Oktober, bei denen etwa 1.100 Israelis getötet wurden.
Nach dem 7. Oktober berief das israelische Militär 5.500 Siedler*innen als Reservist*innen der israelischen Armee ein, darunter auch einige, die wegen Gewalt gegen Palästinenser*innen vorbestraft sind. Sie wurden den sogenannten regionalen Verteidigungsbataillonen im Westjordanland zugeteilt. Die Behörden verteilten 7.000 Waffen an Bataillonsmitglieder und andere, darunter auch an „zivile Sicherheitskommandos“ in den Siedlungen, wie die Zeitung Haaretz und das Israel Democracy Institute berichteten. Medienberichten zufolge verteilten Siedler*innen nach dem 7. Oktober Flugblätter und drohten Palästinenser*innen in den sozialen Medien mit der „Ausrottung“, sollten sie nicht „nach Jordanien fliehen“. Der „Tag der Rache“ stünde bevor.
Die Vereinten Nationen haben zwischen dem 7. Oktober und dem 3. April mehr als 700 Angriffe durch Siedler*innen registriert. Bei fast der Hälfte der Angriffe waren Soldaten in Uniform anwesend. Seit den Angriffen vom 7. Oktober wurden über 1.200 Menschen, darunter 600 Kinder, aus ländlichen Hirtengemeinschaften vertrieben. Mindestens 17 Palästinenser*innen wurden getötet und 400 verwundet. Auf der anderen Seite haben Palästinenser*innen UN-Berichten zufolge seit dem 7. Oktober 7 Siedler*innen im Westjordanland getötet.
Am 12. April wurde die Leiche eines 14-jährigen israelischen Jungen gefunden, der aus der Siedlung Malachei Hashalom verschwunden war. Seitdem haben Siedler*innen nach Angaben von OCHA mindestens 17 palästinensische Dörfer und Gemeinden im Westjordanland angegriffen. Die israelische Menschenrechtsgruppe Yesh Din berichtete, dass dabei vier Palästinenser*innen, darunter ein 16-jähriger Junge, getötet, Häuser und Fahrzeuge in Brand gesetzt und Vieh getötet wurden.
Wie Human Rights Watch feststellte, konnte keine der aus den fünf untersuchten Gemeinden vertriebenen Personen zurückkehren. Das israelische Militär lehnte Bitten um eine Rückkehr der Vertriebenen entweder ab oder reagierte nicht darauf. Daher bleiben die Palästinenser*innen ohne Schutz vor den bewaffneten Siedler*innen und Soldaten, die ihnen mit dem Tod gedroht hatten, sollten sie zurückkehren. Eine Familie mit sieben Kindern, die zu Fuß aus al-Qanub fliehen musste, lebt jetzt in einem einfachen Betonverschlag und hat kein Geld, um die Miete zu bezahlen.
Haqel: In Defense of Human Rights, eine israelische Menschenrechtsorganisation, beantragte beim Obersten Gerichtshof Israels, die Armee anzuweisen, sechs vertriebenen Gemeinden, darunter Khirbet Zanuta, Schutz zu gewähren, so dass sie zurückkehren können. Die Staatsanwaltschaft erklärte am 20. Februar daraufhin, es habe keine Vertreibung gegeben. Die Palästinenser*innen seien aufgrund von Problemen bei der Viehzucht und in der Landwirtschaft freiwillig gegangen, so Haqel. Die nächste Anhörung in diesem Fall ist für den 1. Mai angesetzt.
Die Vertriebenen waren zumeist Schafhirt*innen. Einige sagten, die israelischen Angreifer*innen hätten Fahrzeuge, Bargeld und Haushaltsgeräte sowie Schafe und Futter gestohlen, die die Familien auf Kredit gekauft hatten und nun nicht zurückzahlen können. Andere Familien entkamen mit ihren Herden, mussten aber neue Unterkünfte aufbauen und haben kein Weideland.
Nach Angaben von Menschenrechtsgruppen weiden die Siedler*innen seither ihre eigenen Schafe auf dem Land der Vertriebenen. Die israelische Menschenrechtsorganisation B'Tselem berichtete, dass Siedler*innen seit dem 7. Oktober mehr als 4.000 Dunam (etwa 988 Hektar) palästinensisches Weideland in Besitz genommen haben.
Wiederholte Angriffe von Siedler*innen, oft nachts, haben zu Angstzuständen und psychischen Beeinträchtigungen geführt. Kinder und ihre Eltern berichteten von Alpträumen und Konzentrationsschwierigkeiten. Bei den Angriffen wurden in zwei der fünf Gemeinden Schulen zerstört. Die meisten Kinder konnten nach der Vertreibung für mindestens einen Monat nicht zur Schule gehen.
Während die Strafverfolgung der Siedler*innen in der Zuständigkeit der israelischen Polizei liegt, ist die Armee für die Palästinenser*innen im besetzten Westjordanland zuständig. Wie ein israelischer Enthüllungsjournalist berichtete, habe Israels Minister für nationale Sicherheit, Itamar Ben-Gvir, nach dem 7. Oktober die Polizei angewiesen, nicht gegen gewalttätige Siedler*innen vorzugehen. Die Polizei dementierte den Bericht, Ben-Gvir jedoch nicht. Aus den von Yesh Din zusammengestellten offiziellen Daten geht hervor, dass die meisten zur Anzeige gebrachten Vorfälle von Gewalt gegen Palästinenser*innen durch Siedler*innen und das israelische Militär nicht zu einer Anklage führen.
Nach dem 7. Oktober verteilte das Ministerium für nationale Sicherheit Tausende von Waffen, darunter auch an Siedler*innen. Im Dezember gab die Generalstaatsanwaltschaft in der Knesset bekannt, dass das Ministerium 14.000 Schusswaffengenehmigungen unrechtmäßig erteilt habe.
Länder wie die Vereinigten Staaten, Deutschland, Italien und Großbritannien haben die Ausfuhr von Waffen, einschließlich Sturmgewehren und Munition, nach Israel genehmigt. Die USA haben seit dem 7. Oktober mehr als 100 Waffenlieferungen nach Israel genehmigt und im Jahr 2023 8.000 Gewehre und 43.000 Handfeuerwaffen exportiert. Im Dezember haben sie die Lieferung von 24.000 Sturmgewehren aus Sorge vor Angriffen durch Siedler*innen aufgeschoben. Ein ehemaliger Beamter des US-Außenministeriums erklärte, es sei „so gut wie sicher“, dass Siedler*innen in den USA hergestellte Gewehre benutzen.
Im Dezember haben Großbritannien, die USA und Frankreich neue Visaregeln angekündigt, um einigen gewalttätigen Siedler*innen die Einreise zu verwehren. Die USA und Großbritannien verhängten finanzielle Einschränkungen gegen insgesamt acht Siedler und zwei Siedlungen. Die EU hat sich im Grundsatz auf Sanktionen geeinigt, doch werden diese von der Tschechischen Republik und Ungarn blockiert.
Die Zwangsumsiedlung oder Vertreibung sowie die umfassende Zerstörung und Aneignung von Eigentum in den besetzten Gebieten sind Kriegsverbrechen. Die systematische Unterdrückung und die unmenschlichen Handlungen der israelischen Behörden gegen Palästinenser*innen, einschließlich der Kriegsverbrechen, die in der Absicht begangen werden, die Vorherrschaft jüdischer Israelis über die palästinensische Bevölkerung aufrechtzuerhalten, stellen Verbrechen gegen die Menschlichkeit dar, nämlich die der Apartheid und Verfolgung.
Angesichts der Gefahr einer Beteiligung an Menschenrechtsverletzungen sollten Staaten ihre militärische Unterstützung Israels aussetzen. Zudem sollten sie bilaterale Abkommen, wie das Assoziierungsabkommen zwischen der EU und Israel, prüfen und möglicherweise aussetzen und den Handel mit Siedlungen in den besetzten Gebieten verbieten. Großbritannien sollte unverzüglich den Gesetzentwurf „Economic Activity of Public Bodies (Overseas Matters) Bill“ zurückziehen, der öffentliche Einrichtungen in Großbritannien daran hindert, Unternehmen zu boykottieren, die in illegalen israelischen Siedlungen im Westjordanland tätig sind.
Die USA, die EU, Großbritannien und andere Länder sollten dafür sorgen, dass die Verantwortlichen für Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit zur Rechenschaft gezogen werden. Dazu sollten auch Ermittlungs- und Strafverfolgungsmaßnahmen im Rahmen der universellen Gerichtsbarkeit sowie vor dem Internationalen Strafgerichtshof gehören, und zwar auch für jene, die es versäumt haben, im Rahmen der Befehlsverantwortung Verbrechen von Personen in ihrer Befehlskette zu verhindern oder diese Personen zu bestrafen.
Darüber hinaus sollten sie Sanktionen gegen alle verhängen, die für die andauernden israelischen Angriffe auf palästinensische Gemeinden verantwortlich sind oder die Rückkehr vertriebener Palästinenser*innen in ihr Land verhindern. Die Sanktionen sollten solange aufrechterhalten werden, bis die Angriffe aufhören und die vertriebenen Palästinenser*innen sicher zurückkehren können, so Human Rights Watch.
„Palästinensische Kinder haben miterlebt, wie ihre Familien brutal behandelt und ihre Häuser und Schulen zerstört wurden, wofür letztendlich die israelischen Behörden verantwortlich sind“, sagte Van Esveld. „Hochrangige Beamte heizen diese Angriffe an oder bleiben untätig, und Israels Verbündete tun nicht genug, um das zu verhindern.“