- Die EU-Grenzschutzagentur Frontex informiert in der Regel weder nichtstaatliche Rettungsschiffe im Mittelmeer, wenn sie Boote in Seenot entdeckt, noch gibt sie regelmäßig Notfallmeldungen aus.
- Dies führt zu vermeidbaren Verzögerungen und tragischen Schiffsunglücken sowie
dazu, dass Menschen in Länder zurückgeschickt werden, in denen sie Menschenrechtsverletzungen ausgesetzt sind. - In einer neuen Kampagne wird Frontex aufgefordert, ihren Verpflichtungen gemäß EU-Recht und internationalem Völkerrecht nachzukommen und im Sinne der Menschlichkeit zu handeln, indem die Agentur der Rettung von Menschenleben auf See Vorrang einräumt. Unterstützer*innen der Kampagne sind aufgerufen, entsprechenden Druck auf Frontex auszuüben, damit die Agentur ihr Vorgehen verbessert.
(Brüssel, 24. Oktober 2024) - Frontex, die Agentur der Europäischen Union für Grenz- und Küstenwache, sollte ihre Überwachungskapazitäten im Mittelmeer nutzen, um die rechtzeitige Rettung von Menschen auf Schiffen in Seenot zu gewährleisten, so Human Rights Watch heute anlässlich des Starts der #MitMenschlichkeit Kampagne.
„Die Flugzeuge und Drohnen von Frontex sollten ihr Potenzial nutzen, um im Mittelmeer Leben zu retten“, sagte Judith Sunderland, stellvertretende Direktorin für Europa und Zentralasien bei Human Rights Watch. „Angesichts der Tausenden Menschen, die jedes Jahr im Mittelmeer sterben, muss Frontex alles in ihrer Macht Stehende tun, um sicherzustellen, dass Menschen auf seeuntüchtigen Booten gerettet und in Sicherheit gebracht werden.“
Da die europäischen Staats- und Regierungschef*innen ihre Pläne zur Verhinderung der Einreise von Menschen in die EU und zur Beschleunigung von Abschiebungen weiter vorantreiben, ist es umso wichtiger, an die Menschlichkeit zu appellieren, so Human Rights Watch. Menschen, die Missbrauch und schwerer Not entkommen wollen, werden auch in Zukunft immer gefährlichere Fluchtwege nutzen. Diese Menschen darf man nicht einfach ertrinken lassen.
Wenn Frontex-Flugzeuge und Drohnen Boote mit Asylsuchenden, Geflüchteten und Migrant*innen im Mittelmeer entdecken, alarmiert die Agentur die Rettungsleitstellen in den EU-Mitgliedstaaten sowie in Libyen und Tunesien. Sie informiert jedoch nicht systematisch nichtstaatliche Rettungsschiffe im jeweiligen Gebiet und gibt auch keine regelmäßigen Notfallmeldungen aus, um alle Schiffe in der Nähe zu mobilisieren. Dies führt dazu, dass Menschen von libyschen und tunesischen Streitkräften abgefangen und gewaltsam in diese Länder zurückgeführt werden, wo sie schweren Menschenrechtsverletzungen ausgesetzt sind. Die fehlenden systematischen Notfallmeldungen können zudem zur Folge haben, dass Rettung zu spät eintrifft und es zu tragischen Schiffsunglücken kommt.
In den letzten zehn Jahren sind nach Angaben der Internationalen Organisation für Migration mehr als 30.500 Menschen im Mittelmeer gestorben oder gelten seit ihrer Überfahrt als vermisst. Allein seit Januar 2024 sind mindestens 1.600 Menschen ums Leben gekommen oder werden vermisst.
Eine 2022 von Human Rights Watch und Border Forensics durchgeführte Analyse der Luftüberwachung durch Frontex kam zu dem Schluss, dass die Agentur durch ihre Praktiken an unbefristeten, willkürlichen Inhaftierungen und anderen gut dokumentierten, schweren Menschenrechtsverletzungen in Libyen beteiligt ist. Auf dem Rettungsschiff Geo Barents von Ärzte ohne Grenzen (MSF) im September 2024 führte Human Rights Watch ausführliche Interviews mit elf geretteten Personen.
Alle hatten in staatlichen libyschen Hafteinrichtungen oder in der Gefangenschaft von Schleppern Misshandlungen erlebt, darunter sexualisierte Gewalt, Zwangsarbeit und Schläge. Die Hebamme des Rettungsschiffes sagte, zwei der geretteten Frauen seien infolge einer Vergewaltigung schwanger geworden. Viele der Befragten befanden sich bereits mehrfach in Hafteinrichtungen, nachdem sie auf hoher See abgefangen und festgenommen wurden.
Ein 20-jähriger Äthiopier, der vor dem Konflikt in der äthiopischen Region Amhara geflohen war, wurde Anfang des Jahres von der libyschen Küstenwache abgefangen und vier Monate lang in der Haftanstalt al-Nasr in Zawiya (auch bekannt als Osama-Gefängnis) festgehalten. Er sagte, der Leiter der Haftanstalt habe 3.000 US-Dollar für seine Freilassung verlangt. Da er nicht zahlen konnte, habe er gearbeitet, geputzt und gedolmetscht, bis der Direktor ihn nach fast vier Monaten entlassen habe. Über das Gefängnis sagte er: „Sie fangen viele Leute auf dem Meer ab, sie müssen dann zahlen, um freizukommen.“
Die Zusammenarbeit von Frontex mit den tunesischen Streitkräften, um Menschen abzufangen, ist auch aufgrund der sich verschlechternden Menschenrechtslage in Tunesien und der Gefahr, dass Migrant*innen, Asylsuchende und Geflüchtete ernsthaft zu Schaden kommen, besorgniserregend, so Human Rights Watch.
Menschen aus dem subsaharischen Afrika werden von den tunesischen Behörden besonders diskriminiert und misshandelt. So kommt es etwa zu kollektiven Abschiebungen. Ein 24-jähriger Syrer gab gegenüber Human Rights Watch an, ebenfalls derartige Menschenrechtsverletzungen erfahren zu haben.
Er sagte, tunesische Kräfte hätten mittels riskanter Manöver sein Boot im Februar 2024 abgefangen und ihn anschließend zusammen mit etwa hundert anderen Personen nach Libyen abgeschoben, wo er im Haftzentrum al-Assa festgehalten wurde. Für seine Freilassung musste er 1.500 Dollar zahlen. In einer gemeinsamen Erklärung, die am 10. Oktober von 64 Organisationen, darunter Human Rights Watch, unterzeichnet wurde, wird die EU aufgefordert, Tunesien nicht als sicheres Drittland für die Aufnahme von Geretteten zu betrachten.
Das Schiffsunglück vor Pylos im Jahr 2023 hat gezeigt, welche fatalen Folgen eine zu enge Definition des Begriffs „Seenot“ hat. Nachdem Frontex ein massiv überladenes Fischerboot in der griechischen Such- und Rettungszone gesichtet hatte, informierte es die zuständigen Küstenbehörden, gab aber keine Notfallmeldung an alle Schiffe in dem Gebiet aus, weil „keine unmittelbare Gefahr für Leib und Leben“ bestand. Stunden später kenterte das Schiff. Mehr als 600 Menschen kamen ums Leben.
Obwohl es Hinweise darauf gibt, dass die griechische Küstenwache eine unmittelbare Rolle bei dem Schiffsunglück spielte, hätte auch ein schnelles Eingreifen von Frontex die Tragödie verhindern können. Eine Untersuchung der Europäischen Bürgerbeauftragten kam im Februar 2024 zu dem Schluss, dass Frontex über „unzureichende Leitlinien“ verfüge, wie auf Notfälle auf See zu reagieren sei, „einschließlich der Abgabe von Notsignalen“.
Richtig eingesetzt, kann die Unterstützung durch Flugzeuge und Drohnen von Frontex helfen, Leben zu retten. Am 14. Oktober 2023 zum Beispiel teilte ein Frontex-Flugzeug die Koordinaten eines überfüllten Schlauchbootes über einen offenen Funkkanal, kehrte später an den Ort des Geschehens zurück und aktualisierte die Koordinaten. Das MSF-Rettungsschiff Geo Barents konnte so schließlich in einer nächtlichen Rettungsaktion 64 Menschen, darunter Frauen und Kinder, retten. Fulvia Conte, die Leiterin des MSF-Rettungsteams, bemerkte richtig: „Es hilft bei der Suche nach einem Boot natürlich, wenn man genaue Koordinaten hat, die mittels einer Wärmebildkamera aus der Luft ermittelt wurden.“
Frontex sollte konkrete Schritte unternehmen, um ihre Technologie und Expertise dafür zu nutzen, Leben zu retten, so Human Rights Watch. Die Agentur sollte sicherstellen, dass der Standort von Booten in Seenot, die von Frontex-Flugzeugen gesichtet wurden, systematisch an nichtstaatliche Rettungsschiffe in dem Gebiet übermittelt wird und dass häufiger Notfallmeldungen auf der Grundlage einer breiten Definition von „Seenot“ ausgegeben werden. Frontex-Flugzeuge sollten zudem Notsituationen überwachen und bei Bedarf Hilfe leisten.
Mit der #MitMenschlichkeit-Kampagne ruft Human Rights Watch die Öffentlichkeit dazu auf, genauer hinzuschauen, wenn es um gefährdete Leben und Rechte im Mittelmeer geht. Dabei sollte auch die Mitmenschlichkeit gegenüber denjenigen, die die Überfahrt wagen, nicht vergessen werden. Außerdem sollten die zuständigen Behörden zum Handeln aufgefordert werden. Dies ist der erste Teil einer breit angelegten Kampagne, in der die EU aufgefordert wird, ihre Verantwortung nicht länger auf Drittländer wie Libyen, Tunesien, Libanon, die Türkei und Ägypten abzuwälzen, in denen Migrant*innen, Asylsuchende und Geflüchtete Menschenrechtsverletzungen ausgesetzt sind. Stattdessen sollte die EU die Menschenrechte respektieren und sichere und legale Wege nach Europa schaffen.
„Indem wir uns auf die Hoffnungen der Menschen konzentrieren, die diese gefährlichen Überfahrten unternehmen, hoffen wir, dass sich europaweit Menschen mobilisieren, die sich uns anschließen und gemeinsam mit uns von Frontex fordern, die Rettung von Menschenleben auf See zur Priorität zu machen.“, sagte Sunderland. „Die europäische Küstenwache sollte im Einklang mit dem EU- und Völkerrecht sowie unserer gemeinsamen Verpflichtung zur Menschlichkeit und zum Schutz von Menschenleben handeln.“