Die Flut an WhatsApp-Nachrichten, die ich von Afghaninnen und Afghanen erhalte, die in Kandahar oder Kabul festsitzen, ist seit August 2021 abgeebbt, aber sie hat nicht aufgehört. Die Drohungen der Taliban treiben viele Aktivisten und Journalisten weiterhin in den Untergrund. Seit acht Monaten schreibt mir Sharafat – ein ehemaliger Journalist, Frauenrechtler und Mitarbeiter der deutschen Entwicklungsagentur GIZ – mit zunehmender Verzweiflung, da ihm nach und nach alle Wege versperrt werden, sich in Sicherheit zu bringen.
Als die Taliban vor fast zwei Jahren die Kontrolle über Afghanistan übernahmen, töteten sie Sharafats Bruder, nachdem er einen kritischen Kommentar auf Facebook gepostet hatte. Dann begannen sie, Sharafat zu verfolgen, der inzwischen untergetaucht war. Letztes Jahr fanden sie ihn, schlugen ihn, stachen auf ihn ein und ließen ihn scheinbar leblos zurück. Er überlebte nur, weil einige Dorfbewohner ihn in eine Klinik brachten, wo Ärzte sein Leben retteten. Seitdem pendelt er zwischen verschiedenen Orten, weil er weiß, dass er das nächste Mal, wenn die Taliban ihn erwischen, vielleicht nicht überlebt.
Da er für die GIZ gearbeitet hatte, stellte Sharafat einen Antrag im Rahmen des Bundesaufnahmeprogramms für ehemalige Ortskräfte in Afghanistan, die aufgrund ihrer Verbindung zu einer ausländischen Regierung gefährdet sind.
Nach vielen Monaten des Wartens erhielt Sharafat die Antwort der Bundesregierung, sein Antrag werde abgelehnt - mit der Begründung, es gebe keine Belege dafür, dass seine Beschäftigung bei einer deutschen Organisation ein Risiko darstelle, „das über das allgemeine Risiko hinausgeht, das derzeit in Afghanistan besteht“. Die Anschuldigungen der Taliban, dass er ausländische Interessen vertrete, reichten offenbar nicht aus.
Sharafat schrieb mir danach: „Ich bin enttäuscht vom Leben, ich will nicht mehr leben.“ Er schickte mir einen Link zu einem „Planet Earth“-Video, das vor einigen Jahren viral gegangen war. Darin versucht ein junger Leguan, einem Dutzend hungriger Schlangen zu entkommen, die ihn töten wollen. Das Video ist ein echter Thriller, was aber nur halb so lustig ist, wenn er das eigene Leben widerspiegelt, wie Sharafat anmerkt.
Warum hat Deutschland seinen Antrag abgelehnt? Es seien seine „politischen Äußerungen“, nicht seine Beschäftigung gewesen, die ihn zur Zielscheibe der Taliban gemacht hätten, hieβ es weiterhin. Doch Sharafats Äußerungen dienten der Verteidigung der Menschenrechte – ein Risikofaktor, den die deutsche Regierung als Kriterium für die Evakuierung und Umsiedlung im Rahmen eines zweiten Programms, des Bundesaufnahmeprogramms für afghanische Menschenrechtsverteidiger, Journalisten und andere von den Taliban bedrohte Personen, festgelegt hat.
Im Rahmen des im Oktober 2022 gestarteten Bundesaufnahmeprogramms sollten monatlich bis zu 1.000 Afghaninnen und Afghanen nach Deutschland geholt werden. Doch es war von zahlreichen Problemen begleitet. Deutschland hat zwar bereits zahlreiche ehemalige Ortskräfte und andere Afghaninnen und Afghanen aufgenommen, die unmittelbar nach dem Abzug besonders gefährdet waren. Keine einzige Person ist jedoch bis Mai durch das neue Programm aus Afghanistan angekommen, während Tausende von Menschenrechtsaktivisten, Journalisten und andere besonders gefährdete Personen weiterhin in Afghanistan oder in Nachbarländern festsitzen, wenn ihnen nicht bereits aus unerklärlichen Gründen die Aufnahme verweigert wurde.
Im März hatte das Außenministerium das Programm gestoppt, weil es befürchtete, die Kontrollmaßnahmen seien unzureichend. Erst Mitte Juni lief es wieder an. Das Innenministerium und das Auswärtige Amt informieren deutsche Nichtregierungsorganisationen regelmäßig über das Programm, doch anderen Menschen bleibt der Zugang zu Informationen über das Verfahren verwehrt. Und deshalb konnte ich nur über unser Human Rights Watch-Büro in Berlin Informationen darüber erhalten, wie sie Fälle von Menschenrechtsverteidigern und Journalisten behandeln. Wenn ich schon Schwierigkeiten habe, an diese Informationen zu kommen, dann ist es für einen Afghanen, der 8.000 Kilometer entfernt ist, wenig Geld hat und nur begrenzten Zugang zum Internet, fast unmöglich.
Natürlich ist Deutschland nicht das einzige Land, das seine Versprechen von 2021 an die Menschen in Afghanistan bei weitem nicht eingehalten hat. Das Vereinigte Königreich hat nur sehr wenige Afghaninnen und Afghanen aufgenommen, die nicht direkt mit der britischen Regierung zusammengearbeitet haben. Allerdings wurden sie nach ihrer Aufnahme im Stich gelassen. Fast 9.000 Menschen aus Afghanistan, die in Groβbritannien in provisorischen Unterkünften untergebracht waren, stehen nun vor der Räumung und haben keine Bleibe.
Die USA haben Tausende von Dolmetschern, Hilfskräften und anderen Personen zurückgelassen, die für „Special Immigrant Visa“ (Sondervisa) in Frage gekommen wären. Dabei wurde das Programm für afghanische Ortskräfte jüngst bis 2024 verlängert. Die NATO-Länder, die versprochen hatten, Afghaninnen und Afghanen umzusiedeln, kommen mit ihrem Versprechen nur im Schneckentempo voran. Und dadurch, dass vordergründig Afghanen evakuiert werden sollten, die am Militäreinsatz beteiligt waren, haben gefährdete Frauen das Nachsehen, darunter auch Frauenrechtsaktivistinnen.
Außenministerin Annalena Baerbock zufolge solle das Bundesaufnahmeprogramm den von den Taliban Verfolgten „eine Chance auf ein freies, selbstbestimmtes und sicheres Leben“ bieten. Sie räumte ein, dass dies eine gewaltige Aufgabe sei, versprach aber gleichzeitig: „Wir werden in unseren Anstrengungen nicht nachlassen.“ Für die Tausenden Menschen aus Afghanistan wie Sharafat, deren Leben davon abhängt, hört sich dies nicht überzeugend an.